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Das ungewöhnliche Gemeindeleben in der EFG Schwante

Auch ohne Meer ging die Titanic unter

 

Im geltenden Jahrbuch des Bundes der Ev.-Freikirchlichen Gemeinden fällt die EFG Schwante nicht sonderlich auf: Sie hat ganze 52 Mitglieder und keinen Pastor. (Für eine Brüdergemeinde nicht untypisch.) Doch in der kleinen Kapelle hinter der großen Bäckerei in Schwante nördlich von Berlin sind sonntags um 9.30 alle Plätze besetzt. Dabei sind etwa die Hälfte der 80-100 Besucher weniger als 25 Jahre alt. Nach dem Schlußgebet werden die Besucher aufgefordert, das Feld für die Sonntagsschule zu räumen. Doch dafür bekommen die Erwachsenen einen Trostpreis: Sie werden gebeten, nebenan in der Verkaufsstube der Bäckerei bei kostenlosem Gebäck, Kaffee und Kuchen, den begonnenen Plausch fortzusetzen. So werden gleichzeitig die Reste vom Samstagsverkauf kostengünstig und umweltfreundlich beseitigt.

 

Unter das fröhliche, dichtgedrängte Völkchen an den Stehtischen im gläsernen Rondell mischen sich dann auch Nachbarn und Zufallspassanten, die im Gottesdienst nicht zugegen waren. Doch auch das tut der Stimmung keinen Abbruch: Man solle ja, so versichert die Gemeinde, alles unter missionarischen Gesichtspunkten sehen.

 

Gefragt nach dem Erfolgsgeheimis dieser Jugendarbeit, verweist Karl-Dietmar Plentz auf die Kinderarbeit. "Sie ist die Grundlage für unsere Jugendarbeit," erzählt er. "Wir machen sehr bewußt eine offene Kinderarbiet." Immer wieder läßt sich die Gemeinde in der Schule blicken - und das nicht nur zu Weihnachten. Etwa ein Drittel der Schwanter ist erst seit der Wende dorthin gezogen. Gerade durch diesen Umzug ist bei vielen ein Beziehungsvakuum entstanden. Bruder Plentz meint: "Das ist eigentlich eine sehr gute Chance, gerade über die Kinder die Eltern und die Familien zu erreichen. Wer heute kommt, kommt über die Kinder."

 

In der Kinder- und Jugendarbeit ist Schwante längst kein unbeschriebenes Blatt. Nach Fertigstellung der Kapelle war 1965 mit Freizeiten begonnen worden: Über Jahre hinweg und bis zur Wende führten die Baptisten in Schwante jeden Sommer 1-2, die Brüdergemeinden 2-3, und die Evangelische Kirche eine Freizeit durch. Mit einem Schmunzeln erzählt Karl Plentz, Senior, seine Gemeinde sei "republikweit wegen der Brötchen und des Eises berühmt" gewesen. Mit einem Hauch von Wehmut erzählt er von den herzlichen zwischenkirchlichen Beziehungen, die damals vorgeherrscht haben.

 

Karl Plentz Senior hatte sich bereits 1951 in Schwante niedergelassen. Als Bäcker lernte er rasch die Dorfbevölkerung kennen. Wegen des chronischen Personalmangels hatte er schließlich sechs Dörfer mit Gebackenem zu versorgen. Dank dieser Beziehungen konnte zu einer Zeit, als in der DDR der Bau von Kirchen überhaupt nicht vorgesehen war, mit Fleiß und Improvisation - und ohne Devisen - die Kapelle gebaut werden. Zur Einweihung der "Schrippenkirche" 1964 hatte die Gemeinde gerade 18 Mitglieder. Beim Bauen hatte die Brüdergemeinde in Oranienburg kräftig mit angepackt.

 

Titanic und Kasino in Schwante

Im hafenlosen Schwante läßt sich - stellvertretend - einiges aus der großen weiten Welt miterleben. Vor zwei Jahren war es z.B. möglich, bei einem von Gemeindegliedern hergerichteten Büfett in einem gemieteten Lokal in den Fluten des Nordatlantiks untergehen. Karl-Dietmar Plentz, der 1989 die Bäckerei von seinem Vater übernahm, erzählt noch mit Begeisterung vom damaligen "Titanic-Abend": Mit viel Liebe zum Detail hatte die Gemeinde einen Saal mit Railing, Kapitänsbrücke, und Steuerrad ausgestattet. Jugendliche fungierten als Stewards; "Captain Smith" begrüßte die Reisenden und machten sie mit den Sicherheitsvorkehrungen an Bord vertraut. In einem Diavortrag wurden alle technischen Daten des Schiffs vorgestellt. Die Gastgeber waren bemüht, möglichst realitatstreu die Titanic-Geschichte nachzuspielen. Während des Menüs bekamen 40 Gäste mitgeteilt, daß sie in dem Spiel auch selbst einen authentischen Namen und eine authenthische Rolle zu übernehmen hätten. Gewählt wurden vor allem Leute, die sich bisher noch nie in der Gemeinde hatten blicken lassen. Einem im gesamten Dorf bekannten Mann fiel die Aufgabe zu, als "Ben Guggenheim" einen Toast auf das Schiff auszubringen.

 

In einer Phase ausgelassener Fröhlichkeit kam dann der Wassereinbruch: Gleichzeitig wurde aus der Empore mit Wasserpistolen auf die Versammelten geschossen. Bruder Plentz meint: "Uns ist es gelungen, sowohl die Fröhlichkeit der Titanic als auch die große Betroffenheit zu erzeugen. Betroffenheit herrschte besonders auch darüber, daß Rettungsboote an Bord waren, und die ersten Rettungsboote einfach nicht genutzt wurden."

 

Dabei klang die Botschaft an, daß die Titanic sehr gut mit dem menschlichen Leben zu vergleichen sei: die Ungerechtigkeiten einer Klassengesellschaft, die Hoffnung - etwa auf Amerika, der Darstellungsdrang. Genau wie die Titanic, wird auch unsere Welt untergehen. Das Rettungsboot erwies sich als Sinnbild für den Glauben: Erst als es sehr ernst wurde und die Illusion von der eigenen "Unversenkbarkeit" überwunden war, wurde der wahre Wert der Boote erkennbar.

 

"Das war ein guter Vergleich, meint Bruder Plentz. "Die Leute verstanden, um was es geht." Zum Schluß war alles "unter Wasser". Doch dann hat einer noch von seinen Empfindungen im Rettungsboot berichtet: von der fürchterlichen Stille nach dem Geschrei.

 

Aufgrund der guten Erfahrungen gab es dann im vergangenen September im Zuge einer Missionswoche die Fortsetzung: Mittels Plakate wurden die Dorfbewohner zu einem "Kasino-Abend" eingeladen. Einmal wieder wurden die Gäste gebeten, in entsprechender Garderobe im Lokal zu erscheinen.

 

An der Kasse wurden die Gäste mit Jetons oder photokopierten Dollarscheinen versorgt. Dann versammelten sie sich in kleine Gruppen und durften erst einmal bescheidene Wetten abschließen. Für den Abend standen auch richtige Spielgeräte zur Verfügung; es konnten u.a. Roulette and Blackjack gespielt werden. Dabei ist auch echtes Spielgeld gewonnen worden.

 

Einmal wieder stand ein üppiges Büfett parat; Ziel des Abends war es, "eine richtige, spielerische Euphorie zu erzeugen". "Das ist uns auch gelungen," versichert der Gemeindeleiter.

 

Höhepunkt des Abends sollte eine Versteigerung sein. Nachdem ein echter Walkman gewonnen worden war, wurde damit begonnen, eine 14-tägige Reise nach Portugal zu versteigern. Doch mitten im Gewühl ging das Licht aus. Dann ertönte Händels "Große Halleluja" während sich der Bühnenvorhang öffnete und ein überdimensionaler, unbesetzter, angestrahlter weißer Thron zum Vorschein kam.

 

Einmal wieder war die Betroffenheit da. Alle hatten sich nach Spaß und Geld gesehnt; keiner hatte damit gerechnet, "daß alles auch mal zu Ende sein wird und wir vor Gott stehen werden". Absicht war es, "daß sich der Gast selbst entdeckt, daß er sich vor sich selber bloßstellt". Dabei wurde noch Offenbarung 20,11 verlesen.

 

Karl-Dietmar Plentz versichert, daß die Gäste in beiden Fällen nicht völlig uneingeweiht gewesen seien. Sie wußten schon vorher, "daß das Kasino nur ein Mittel zum Zweck sein würde. Wir hatten nicht vorenthalten, daß es eine Botschaft geben würde. Sonst wäre der abrupte Abbruch für manchen zu hart gewesen."

 

Zu beiden Ereignissen hatten sich 80-90 gemeindefremde Personen einladen lassen; aus der Gemeinde oder deren Freundeskreis waren weitere 70 Personen anwesend. "Sie haben sich gut einladen lassen," resümiert der Gemeindeleiter. "Auf jeden Fall besser als zu einer althergebrachten Predigt oder in ein Zelt." In beiden Fällen ist hinterher ein neuer Hauskreis entstanden; dabei haben sich auch Leute bekehrt.

 

Bruder Plentz meint, daß diese Abende auch erheblich zum Zusammenhalt der Gemeinde beigetragen hätten. Menschen ganz am Rande der Gemeinde hatten eine Aufgabe zugeteilt bekommen; sämtliche Jugendlichen waren in das Geschehen eingebunden. Er betont auch, daß diese Abende nicht nur aus Action bestanden hätten, sie seien intensiv durch Gebet vorbereitet worden.

 

Hinsichtlich der möglichen Kritik, ob die Abende zu weit gegangen seien und sich der Spaß zu stark mit dem Evangelium vermengt hätten, räumt der Gemeindeleiter ein, daß es beim Kasino-Abend eine Gratwanderung gegeben hatte. Er sagt: "Ich kann mir vorstellen, daß das nicht in jeder Gemeinde so möglich gewesen wäre. Aber das Entscheidende ist, daß das Evangelium verkündigt wird."

 

Macht die Gemeinde auf dieser Strecke weiter? Das hängt davon ab, ob neue, kreative Ideen aufkommen. Das Ideenreservoir ist noch seicht; das Titanic-Stück stammte von Andre Wilkes, einem Jugendreferenten in der Bibelschule Wiedenest.

 

William Yoder

Berlin im Dezember 1997

 

Verfaßt für die Zeitschrift „Wort und Werk“ in Berlin, 1.260 Wörter