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Wladimir Michelis eingeführt

Ein Leben voller Wunder

 

Mit der Ordination und Einführung von Wladimir Michelis in Polessk (Labiau) am 2. September entstand in der Propstei Kaliningrad (Königsberg) ein neuer, fünfter Kirchenkreis. Seit diesem Zeitpunkt leitet der nun in Polessk wohnhafte Pastor vier Gemeinden, die bisher von Kaliningrad aus versorgt worden sind: Polessk, Lomonosowka, Dobrino (Nautzken) und Slawanskoje (Pronitten), die sich in Turgenjewo (Groß Legitten) versammelt. Hinzu kommt die Gemeinde Bolschoje Matrosowo (Gilge) am Haff, die bisher zum Kirchenkreis Slawsk (Heinrichswalde) gehörte. Diese Neustrukturierung ist ein Ausdruck des Wunsches des neuen Propstes, Heye Osterwald, mit Hilfe von weiteren Russisch sprechenden Pastoren neue, kleinere, und verstärkt selbständige Kirchenkreise zu bilden. Sie werden den in den jeweiligen Kirchenkreisen lebenden Pastoren gestatten, mehr Präsenz in den Gemeinden zu zeigen. Dies bedeutet im Falle Polessk, dass Pastor Michelis das Zusammenleben seiner Gemeinden intensivieren möchte. Schon jetzt hat sich in Polessk die Zahl der Gottesdienste verdoppelt – nun trifft man sich an jedem Sonntagnachmittag.

 

Im Kreis Polessk sollen Kinder-, Jugend- und Musikarbeit verstärkt werden; Pastor Michelis schweben gemeinsame Gottesdienste und Gemeindefeste vor. „Wir müssen erkennen, dass wir zusammengehören,“ meint der Pastor. Die Kirche und Propstei in Kaliningrad sind etwas Schönes, aber wir können auch hier im Kleineren etwas machen. “ Im Gemeindezentrum Polessk sollen sich alle zuhause fühlen. Er fügt hinzu: „Es gibt noch keine Tradition bei uns dafür, dass man wegen Seelsorge zu einem Pastor kommt. Ich kann die Menschen verstehen, wenn sich bei ihnen alles um Geld und humanitäre Hilfe dreht. Aber das muss sich ändern.“

 

Wladimir Michelis scheint der geborene Pastor zu sein. „Mir ist es eine Freude zu predigen,“ sagt er. „Es gibt nichts Schöneres als zu einem Gottesdienst zu fahren.“ Teils weil es ihm so schwer fällt, von der Gemeinde abwesend zu sein, nahm er während seines Dienstes als Pastor der Gemeinde Tschernjachowsk (Insterburg) 1998-2002 keinen Urlaub. Doch nun werden Auszeiten öfters vorkommen: Auf der Europäischen Synode der lutherischen Kirche in Moskau Ende September wurde er als erster Vertreter des Kaliningrader Gebiets in deren Präsidium gewählt.

 

Überhaupt erscheint das Pastorwerden des Nichttheologen Wladimir Michelis eine Kette von Wundern zu sein. Wie wäre sonst zu erklären, warum er 1965 im heutigen Samara zum Germanistikstudium zugelassen worden ist? Als Schüler gehörte er weder Partei noch Komsomol an. In seiner Beurteilung für die Hochschule war auch noch zu lesen, dass er Sprößling einer gläubigen Familie sei. Damals durften überhaupt nur sehr wenige Russlanddeutsche studieren; in Samara kamen auch 12 Bewerber auf einen einzigen Studienplatz. Unter den 22 Germanistikstudenten seines Jahrgangs war er der einzige Deutschstämmige; gerade er wurde dann 1970 als Deutschlehrer in das Kaliningrader Gebiet entsandt. Er arbeitete dann 10 Jahre lang als Deutschlehrer im Dorf Priwolnoje (Neunischken) 13 km nordöstlich von Tschernjachowsk.

 

Teils wegen der Hoffnung auf eine menschenwürdige Wohnung verbrachte der Hobbysportler die 80er Jahre als Sportorganisator für eine Maschinenbaufabrik in Tschernjachowsk. Mit der Grenzöffnung war der Deutschkundige als Reisebegleiter dann plötzlich sehr gefragt. Schon Ende der 80er Jahre war er in seiner Eigenschaft als einer der Vorsitzenden des Kulturvereins „Eintracht“ in der Illustrierten „Stern“ zu sehen. Als Gemeindevorsteher war er bei der offiziellen Registrierung der lutherischen Gemeinde Tschernjachowsk im Herbst 1991 mit von der Partie. Bis 1997 war er hauptberuflich als Reisebegleiter tätig; doch die Anzahl deutscher „Heimwehtouristen“ nahm ständig ab. Er diente in diesem Zeitraum ebenfalls als Dolmetscher bei lutherischen Gottesdiensten.

 

Vielleicht ist es auch ein Wunder, dass Pastor Michelis noch überhaupt über einen russischen Wohnsitz verfügt. Denn obwohl er seit 1997 den Auswanderungsbescheid besitzt und ihn sein Bruder immer wieder nach Deutschland zu holen versuchte, sitzt er nicht auf gepackten Koffern. Doch als er erst einmal „mit einem Bein in Deutschland“ lebte, hatte er u.a. als Dolmetscher immer wieder mit den Pastoren Heye Osterwald und Klaus Burmeister zu tun. Beide machten ihm deutlich, welcher Verlust es für die Gemeinde Tschernjachowsk wäre, wenn er sich mit seinen auf dieses Gebiet besonders zugeschnittene Gaben zur Ausreise entschließen würde. Über Pastor Osterwald erzählt Michelis: „Wir haben uns wunderbar verstanden – wir hatten auch das gemeinsame Interesse Fußball.“ Auch zur Gemeinde Gusev hat der Pastor enge Beziehungen entwickelt. Die Frage der beruflichen Zukunft klärte sich dadurch, dass er im Mai 1998 in der Salzburger Kirche zu Gusev für den hauptamtlichen Dienst in der Gemeinde Tschernjachowsk eingesegnet worden ist. Nun ist bei der Einführung in Polessk die offizielle Ordination durch den Moskauer Bischof Siegfried Springer erfolgt.

 

Auf jeden Fall hatte Pastor Michelis eine starke und betende Mutter. Noch vor dem Russischen lernte er Deutsch zu lesen – es handelte sich um die Predigtreihen von Carl Blum. Immer wieder wies ihm seine 1991 verstorbene Mutter darauf hin, dass es eine Ehre sei, Deutscher und Lutheraner zu sein. Als junge Menschen an der Wolga hatten seine Eltern die katastrophale Hungersnot von 1921 überlebt. Wiederholt erzählte seine Mutter mit bebender Stimme vom gewaltigen Knall als gegen Ende der 30er Jahre das Kreuz auf dem Kirchturm in ihrer Stadt abgesägt wurde und auf dem Pflaster aufschlug. Nach mehreren Umzügen und einem Dienst des Vaters in der Trud-Armee kam Wladimir Michelis Ende 1946 im Raum Omsk zur Welt.

 

Trotz seiner betont lutherischen und brüdergemeindlichen Erziehung spiegelt die Familie von Pastor Michelis in eindrücklicher Weise die Vielfalt der christlichen Kirchen wider. Seine Frau, die Erzieherin Natalija Tscherkaschina, die er im März 2001 geheiratet hat, fand in einer Baptistengemeinde in Alma-Ata zum Glauben. Jelena, seine 30-jährige Tochter aus erster Ehe, die in Tallinn aufwuchs und als Kind lutherisch getauft wurde, schloss sich ursprünglich der katholischen Kirche an. Heute studiert sie orthodoxe Theologie in Paris. Der Vater meint: „Das Wichtigste ist, dass wir Christen sind. Ich bin sehr froh, dass meine Tochter den Weg zu Gott gefunden hat.“

 

Nachfolger von Michelis als Pastor für den Kirchenkreis Tschernjachowsk ist der Ukrainer Ruslan Semenjukow, bisher Vikar in Gusev. Am 10. November wurde der Dresdner Pfarrer Lothar Anys als Interimspastor für den Kirchenkreis Slawsk eingeführt.

 

Dr. William Yoder

Kaliningrad, den 17.1.03

 

Eine Pressemeldung der Propstei Kaliningrad in der "Evangelisch-Lutherischen Kir­che Europäisches Rußland" (ELKER), 960 Wörter

 

Nachtrag von August 2021: Die Gemeinde Polessk besteht nicht mehr, doch immerhin lebt der kleine Kreis im benachbarten Turgenjewo weiter. Wladimir Michelis lebt heute als Rentner mit seiner Frau ín Tschernjachowsk. Ruslan Semenjukow ist 2014 gemeinsam mit seiner Frau, der damaligen Pröpstin Maria Goloschapowa, nach Deutschland ausgewandert.
Heye Osterwald ist Pfarrer in Hamburg; Lothar Anys (geb. 1940) kehrte 2006 nach Königsbrück/Sachsen zurück.