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Eine Psychotherapeutin schaut auf Rußland

Rußland – eine sterbende Nation?

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Ein Gespräch mit der Pädagogin und Trauma-Spezialistin Marilyn Murray

 

M o s k a u -- “Rußland ist ein sehr belastetes Land und wird buchstäblich zu einer sterbenden Nation.” Das stellte Marilyn Murray, eine US-amerikanische Pädagogin und Trauma-Spezialistin, die sich mit den Langzeitfolgen von Trauma und Mißbrauch im Kindesalter befaßt, bei einem Gespräch in Moskau am 23. Juni fest. Beweis dafür sei die dramatische, demographische Entwicklung des ethnisch-russischen Bevölkerungsanteils innerhalb des Landes. Dieser Feststellung stimmte auch ihr Gastgeber, Pastor Witali Wlasenko, Direktor für kirchliche Außenbeziehungen bei der „Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten, zu. Frau Murray, die sich seit 2002 halbzeitig in Rußland aufhält, beschrieb „Angst und Kränkung“ als zwei Gefühle, die das Land entscheidend prägen. „Der Kreislauf von Mißbrauch und Schmerz setzen sich immer wieder fort, wenn eine Intervention ausbleibt.“ Auf ihrer Webseite schreibt sie: „Weil die wesentlichen emotionalen Wunden der Bevölkerung nicht anerkannt und angesprochen worden sind, haben viele Russen gelernt, durch die Flucht in Süchten ihren Schmerz zu verschütten und ihre Traumata zu betäuben.“ Süchte können aus Substanzmißbrauch, Eßgier oder Arbeitswut bestehen – sie können auch sexueller Natur sein.

 

Die 72-jährige Pädagogin – sie ist Gastdozentin in der Abteilung für Psychologie und Erziehung an der Moskauer Staatsuniversität – berichtete ferner, daß ihr Rußland an die USA im Laufe der 80er Jahre erinnere. „Davor redeten wir Amerikaner nicht über eigene Erfahrungen mit sexuellem Mißbrauch, mit Suchtabhängigkeiten oder Gewalt. Das verleiht mir heute das Gefühl von déjà vu.” Da Rußland am 20. Mai die „Europäische Sozialcharta“ unterschrieben hat, ist damit zu rechnen, daß sein Schulwesen trotz orthodoxen und konservativen Widerstands unter Druck geraten wird, endlich mit sexuellen Erziehungseinheiten zu beginnen. „Auf diesem Gebiet ist Rußland weit abgeschlagen,“ behauptete sie. „Konservative insistieren, Kinder sollen von ihren Eltern eine sexuelle Erziehung bekommen – doch nicht mehr als 5% aller russischen Eltern nehmen diese Verantwortung wahr.“ Am 11. Juni schrieb die „Moscow Times“: „Detaillierte sexuelle Darstellungen sind in Boulevardzeitungen und im spätabendlichen Fernsehen  allgegenwärtig. Aber sie zielen auf Stimulation, nicht auf Information.“

 

Frau Murray vertritt die Ansicht, Menschen protestantischer Herkunft seien gegen die geläufigen Gefahren und Verletzungen der russischen Gesellschaft keineswegs gefeit. Bei der Moskauer Begegnung meinte sie: „Es verbirgt sich ein gewaltiger Schmerz hinter dem christlichen Lächeln.“ Die Nachfolger Jesu seien noch weit von jeglicher Vollkommenheit entfernt. Alle verfügten über „Löcher oder Hohlräume“ in ihrer Vergangenheit. Keine Erziehung sei vollkommen, denn keine Eltern seien vollkommen – sie seien letztlich auch nur Menschen. Viele dieser „Löcher“ oder Schmerzen können nur geheilt werden, wenn wir selber gemeinsam mit Christus sie stopfen – das könne kein anderer an unserer Stelle tun. Kinder verfügten über eine sehr direkte und selbstverletzende Denkweise, sagte sie: „Kinder meinen, daß Gutes guten Kindern widerfährt. Nur schlechte Kinder erleben Schlechtes.“

 

Wechsel plus Ausgewogenheit

Es besteht dennoch Hoffnung. Marilyn Murray träumt von einem Paradigmenwechsel in der russischen Gesellschaft. Damit meint sie ein Abrücken vom sowjetischen Dogma, in dem der Mensch nur dann einen Wert hatte, wenn er den Staat unterstützte, hin zu einer Position, die den Wert jedes Einzelnen hochhält. Sie sagte: „Du bist wertvoll und der Liebe würdig schon allein aufgrund der Tatsache, daß Gott dich geschaffen hat.“

 

Dieser Wechsel müsse jedoch von Ausgewogenheit begleitet werden. Die russische Gesellschaft torkele schon lange zwischen extremen Positionen hin und her. Das höchst repressive Zeitalter der 40er und 50er Jahre stehe der heutigen Phase des Hedonismus und der Genußsucht gegenüber. Eltern und Großeltern, die dürre Jahre des Verzichts hinter sich hätten, „verwöhnen nun häufig den Nachwuchs“.

 

Die Trauma-Spezialistin will mit einem Erziehungs- und Trainingsprogramm zur Umkehrung beitragen. Sie und ihr in Scottsdale/Arizona beheimateter Verein “Health Restoration International” haben bereits Kurse für 1.600 Interessierte aus 177 Städten der ehemaligen Sowjetunion durchgeführt. Ihre „Murray Method“-Seminare bestehen aus fünf Stufen mit zwei weiteren Stufen für solche, die selbst gerne unterrichten möchten. Rund 100 Personen lassen sich heute zu solchen „Ausbildern der Ausbilder“ qualifizieren.

 

“Health Restoration International” bemüht sich in besonderer Weise um das Ausbilden von Pastoren. Frau Murray merkte an, daß im dörflichen Leben einem Pastor nahezu alles abverlangt werde: Er solle geistliche und emotionelle Mißstände sowie fehlgelaufene Beziehungen „reparieren“. Doch selten seien diese Pastoren ausgebildet darin, anderen seelsorgerlich beizustehen. Ferner hätten sich die meisten Pastoren niemals mit Fragen der eigenen Erziehung im sowjetischen System auseinandergesetzt. Viele stammen selbst aus Familien, die Alkohol- und Kindesmißbrauch erlebt hätten. Ihr fällt ebenfalls auf, daß Pastoren meistens „ihrem Zeitpensum keine Grenzen setzen“. Sie verbringen ihre Zeit damit, sich den Problemen anderer zuzuwenden. Es bleibt wenig Zeit, sich um die eigene Gesundheit und das Wohlergehen der Gattin und Kinder zu kümmern.

 

Zwei Baptistenpastoren gehören zu den leitenden Assistenten in dieser Arbeit: Roman Popow (Rjasan) ist Direktor für Pastorenbetreuung und hält Seminare für Pastoren bis nach Jakutien und Tadschikistan ab. Wladimir Radjabow (Krasnodar) erteilt Unterricht im Kaukasus und in Dagestan.

 

Marilyn Murray versteht es, in größeren Maßstäben zu denken. Sie träumt von einer landesumfassenden, interreligiösen Kampagne, die sich dem physischen, emotionalen, geistigen und geistlichen Wohle aller widmet. Sie hat bereits prominente Amerikaner seelsorgerlich betreut – zu ihnen zählt der durch seine Herkunft höchst belastete Weltstar-Boxer Mike Tyson. Heute zählt er zu ihren größten Anhängern; er hat sie auch bereits in Moskau besucht.

 

Sie berichtete, Gott öffne ihr täglich neue Türen und gestatte ihr als Pädagogin, seine Liebe Menschen mitzuteilen, die üblicherweise von Pastoren und Missionaren nicht erreicht werden. Ihr wird gestattet, Vorlesungen mit einem Bibelwort zu beginnen – auch an der Moskauer Universität und bei Vorlesungen für Gefängnispsychologen. Sogar muslimische Studenten freuen sich darauf, ein Wort Gottes zu hören. „Wunder passieren – Rußland liegt doch nicht im Sterben.“

 

Frau Murray ist Mitglied der „Scottsdale Bible Church”, einer Gemeinde, die den Weltmissionsauftrag ernstnimmt. Die Anschrift ihrer russischen Webseite lautet: “www.murraymethod.ru”. Ihre in den USA beheimatete Webseite ist zu finden unter: “www.hriltd.org”.

 

Dr. William Yoder

Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen der RUECB

Moskau, den 27. Juni 2009

 

Eine Veröffentlichung der Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen bei der Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten. Sie will informieren und erhebt nicht den Anspruch, eine einheitliche, offizielle Position der RUECB-Leitung zu vertreten. Zur Veröffentlichung freigegeben. Meldung Nr. 09-20, 922 Wörter oder 6.798 Anschläge mit Leerzeichen.