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Aus Baptisten wurden Pfingstler

Keine Rückkehr zur Wiege

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Ein Bericht über die Evangelische Kirche Tuschino

 

Reportage

 

M o s k a u -- Eine Gemeindegründung im nordwestlichen Stadtteil Tuschino erblickte 1992 als Hoffnungszeichen aus dem Kreise der Moskauer „Mutterhenne“ – der historischen „Zentralen Baptistengemeinde“ – das Licht der Welt. Doch ab Ende 2002 war sie keine Baptistengemeinde mehr. Was als Hausgruppe in der Wohnung des Pastors Alexander Kusnetsow begonnen hatte, hatte sich in eine vollständige charismatische Gemeinde verwandelt. Tuschino bedeutet einen besonders schweren Rückschlag für die baptistische Bewegung, denn ihre beachtliche Gemeindeschar (heute rund 400) verfügte auch über einen kirchlichen Großbau – einen seltenen Vorzug im raumknappen Moskau.

 

Der Untergang der Baptistengemeinde Tuschino ist auch deshalb schmerzvoll, weil ihre ursprüngliche Führung gänzlich aus der Zentralen Baptistengemeinde kam. Kusnetsow (geb. 1960) und sein Assistent Andrei Petrow waren beide als Jugendleiter dort aktiv. Alexanders Vater, Alexei Kusnetsow, wurde erster Pastor der neuen Gemeinde; 1994 wurde Sohn Alexander als Baptistenpastor dort ordiniert. Ehemalige Mitglieder der Gemeinde Tuschino berichten weiterhin in herzlichen Tönen von Alexei Kusnetsow. Eine einst führende Person erzählt: „Alexanders Vater war auch vielen von uns ein Vater. Solange er dabei war, bremste er den Trend zur Entwicklung einer charismatischen Gemeinde.“ Kusnetsow Senior wurde 1997 in die Ewigkeit gerufen.

 

Als der Tonpegel anstieg und die Unterweisung zunehmend charismatischer wurde, suchten die Baptisten in Scharen das Weite. Ein Gemeindediakon, der im Januar 2002 ausstieg, berichtet: „Unser Gemeindesaal hatte sich in eine Disko verwandelt. Ich verabschiedete mich mit der Begründung, ich sei Baptist.“ Im Jahr darauf hatte bereits weit über die Hälfte der Glieder die Gemeinde verlassen. Heute ist nur noch ein kleiner Bruchteil der ursprünglichen Mitglieder dabei. Achtzig der rund 200 Ausgetretenen begannen, sich in einem Keller in der weiteren Nachbarschaft zu versammeln. Dieser neuen Gruppe ging es nicht sonderlich gut – heute versammelt sie sich in der Baptistengemeinde Khimki nördlich von Moskau.

 

Im Jahre 2000 wurde die junge Baptistengemeinde Eigentümerin einer imposanten Versammlungsstätte - es handelte sich um das Kulturhaus einer bankrotten Textilfirma. Alexander Kusnetsow betont, nicht nur Baptisten seien über die Identität der nichtcharismati­schen, nordamerikanischen Spender im Dunkeln, die den Erwerb des Gebäudes ermöglicht hatten. Er selbst kenne auch nur die Vermittler, die mit den eigentlichen Spendern in Verbindung standen. Das soll auch seine ethische Berechtigung haben: „Die rechte Hand soll nicht wissen, was die linke Hand tut.“ Kusnetsow betont nachdrücklich, die Spenden seien nicht durch seine Hände gegangen. Doch weil er und Petrow die eigentlichen Gemeindegründer waren und Zugang zu den Geldern hatten, die für den Immobilienerwerb erforderlich waren, verfügten die beiden über einen unschlagbaren Vorsprung als es darum ging, sich gegen die Gemeindemehrheit durchzusetzen.

 

Die Gemeinde ist stolz auf die finanzielle Selbstversorgung. In einem Gespräch meinte der Pastor: „Im Westen haben wir keine Partner. Wir haben nur persönliche Freunde – nämlich ein Ehepaar in Richmond“ (Bundesstaat Virginia). Die umfangreichen Sanierungsarbeiten, die halb so teuer wie der Kaufpreis waren, brachte die Gemeinde selbst auf. Kusnetsow insistiert:: „Wenn wir (wie die Baptisten) nur über ein herkömmliches Verständnis vom Heiligen Geist verfügten, hätten wir unsere finanziellen Ziele nie erreicht.“

 

Tuschino wurde 2002 die Mitgliedschaft in der “Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten” (RUECB) entzogen. Im Mai des darauffolgenden Jahres trat die Gemeinde der charismatischen, von Sergei Rjakhowski geleiteten „Vereinigten Russischen Union der Christen Evangelisch-Pfingstlerischen Glaubens (ROSKhWE) bei. Dieses große, lose zusammengesetzte Netzwerk stattet seine Gemeinden mit staatlicher Zulassung aus. Es bleibt ein willkommener Partner für Gemeinden, die von starken Leitern, die einen einsamen, eigenständigen Weg einschlagen wollen, geführt werden. Zu den weiteren ROSKhWE-Mitgliedern zählt die Moskauer „Gute Nachricht“-Mega-Gemeinde. Sie wird angeführt von dem ehemaligen Baptisten Rick Renner aus dem US-Bundesstaat Oklahoma.

 

Die charismatische Führungsebene Rußlands enthält viele ehemalige Baptisten, und da ist Tuschino keine Ausnahme. (Das trifft weniger für den von Pawel Okara geführten Pfingstbund zu, der auf die zaristische Ära zurückgeht.) Die Spaltung in Tuschino ist sehr wahrscheinlich das Ergebnis der baptistischen Tendenz, voreilig Urteile zu fällen und auszuschließen gekoppelt mit der charismatischen Neigung, sich auf gewagte Experimente einzulassen ohne Beachtung der Empfindlichkeiten und Überzeugungen anderer. Den Fall Tuschino hat sich die baptistische Bundesleitung lange überlegt – doch charismatische Gemeinden im allgemeinen haben viele Anhänger, die meinen, sie seien unberechtigt und vorschnell aus baptistischen Kreisen verstoßen worden. Alexander Kusnetsow betont immer wieder, es sei die baptistische Union gewesen, die ihn und seine Gemeinde hinausbefördert hatte – nicht umgekehrt. Doch die aus der Gemeinde ausgetretenen Baptisten insistieren, der Pastor sei unwillig gewesen, notwendige Kompromisse einzugehen.

 

Tuschinos Leitender Pastor erklärt: „Veränderung fällt nie leicht, denn sie bringt eine Polarisierung der Meinungen mit sich. Doch ohne sie kann man keine Bewegung nach vorne bringen.“ Er ist im Umgang mit der Jugend besonders begabt. Jugend- und Musikfeste, Sommerlager und die Jugendbeteiligung bei Gottesdiensten haben dafür gesorgt, daß die Gemeinde jüngeren Menschen besonders verlockend erscheint.

 

Entwicklungen seit 2003
Zum Zeitpunkt der Trennung von der RUECB verhielt sich Tuschino relativ radikal in bezug auf das spezifisch Charismatische. Kontrahenten berichten, der furchterregende „Toronto-Segen“ von 1994 hatte auch dort Fuß gefaßt. Alexander Kusnetsow unterstützt Alexei Ledjaew, den russischen, lautstarken Anführer der in Riga beheimateten Denomination „Nowoe Pokolenie“ (Neue Generation).

 

Große Segmente der charismatischen Weltbewegung bewegen sich jedoch zur Mitte hin, und da ist Tuschino keine Ausnahme. Obwohl er an anderer Stelle Benny Hinn verteidigt, betonte Kusnetsow in einem Interview mit unserer Abteilung, seine Gemeinde sei niemals Vertreterin der Theologie von Gesundheit und Reichtum („health and wealth“) gewesen. „Es muß ausgewogen sein,“ sagte er. „Wir meinen nicht, daß ein Gläubiger in jedem Falle reich und gesund sein müsse.“

 

Das Zungenreden ist ebenfalls keine Voraussetzung für die Mitgliedschaft in Tuschino. „Im Gegensatz zu den Pfingstlern, sind wir nicht der Auffassung, daß nur diejenigen, die in Zungen reden, die Geistestaufe bereits empfangen hätten.“ Das Zungenreden sei vielmehr „eine Frage des persönlichen Glaubens – keine Frage der Kirchenpolitik“.

 

Im allgemeinen steht Kusnetsow zu Rick Renner und Sunday Adelaja, dem umstrittenen, in Nigeria geborenen Kiewer Pastor. Beide nennen sich inzwischen „Apostel“, doch der Pastor in Tuschino nimmt Abstand von der Lehre des „Apostolischen Vertikals“. „Wir halten eine brüderliche Form der Gemeindeleitung für angebracht. Wir erkennen keine Basis für die ’vertikale’ Gemeindeführung, die von Sunday praktiziert wird.“

 

Ludmilla, die Ehefrau von Kusnetsow, wurde vor fünf Jahren als Pastorin ordiniert. Doch er fügt sofort hinzu, seine aus Weißrußland stammende Gattin sei kein Diakon und würde niemals der leitende Pastor (bzw. Pastorin) werden können. „Doch ein Pastor, der mit Menschen arbeitet, sich mit Familienfragen und den Gemeindedienst von Frauen befaßt, dürfte auch eine Frau sein.“

 

Alexander Kusnetsow wünscht sich seine Gemeinde als Bewegung, nicht als Denomination. Obwohl er seine Gemeinde auch als pfingstlerisch beschreibt, versichert er: „Ich halte mich nach wie vor für einen Baptisten. Ich habe keine Entscheidung gefaßt, aus dem Baptistenbund auszutreten. Ich denke, eine Gemeinde wie die unsrige könnte dem Baptistenbund beitreten und dessen Spektrum erweitern.“ Er fühlt sich weiterhin zwischen den Stühlen: „Als wir im Baptistenbund waren, hielten sie uns für Charismatiker. Bei der ROSKhWE halten sie uns nun für Baptisten.“

 

Im Gegensatz zum sehr eigenwilligen Rick Renner, betont dieser Leitende Pastor die Bedeutung interkonfessioneller Zusammenarbeit. Er insistiert: „Keine Gemeinde oder Denomination darf es sich erlauben, immer selbständig zu agieren. Ohne die kirchliche Einheit ist keine bedeutende evangelische Bewegung oder Erweckung denkbar.“ Er freut sich besonders über einen kürzlich von ihm mitgegründeten, 40-köpfigen „Pastorenklub“, der auch über baptistische Teilnehmer verfügt. Zwischen 2005 und 2009 diente das Gebäude in Tuschino als Heimat für die überkonfessionelle, presbyterianisch-geprägte „Russisch-Amerikanische Christliche Universität“.

 

Pastor Kusnetsow räumt Fehler in der Vergangenheit ein, aber er stellt den grundsätzlichen Weg seiner Gemeinde nicht in Frage. Ihr Verständnis vom Heiligen Geist hält er für besonders vielversprechend. Obwohl er gelegentlich Offerten an die Adresse der Baptisten richtet und nicht wenige Baptisten sich nach einer Aussöhnung sehnen, halten die Ehemaligen eine erneute Zusammenführung für höchst unwahrscheinlich. Die durch die Trennung entstandenen Verletzungen seien unverheilt und die Ehemaligen erkennen keine Bereitschaft seitens der Gemeinde, neue Kompromisse zugunsten der Einheit – etwa die Senkung des elektronischen Lärmpegels! – einzugehen. Schon in Anbetracht des Vermögens der Gemeinde, sich völlig selbständig zu behaupten, besteht in Tuschino kein offensichtlicher Bedarf, zu der Wiege zurückzukehren, der sie einst entstieg.

 

Dr. phil. William Yoder

Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen der RUECB

Moskau, den 16. Oktober 2009


Eine Veröffentlichung der Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen bei der Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten. Sie will informieren und erhebt nicht den Anspruch, eine einheitliche, offizielle Position der RUECB-Leitung zu vertreten. Meldung Nr. 09-31, 1.304 Wörter oder 9.693 Anschläge mit Leerzeichen.

 

Anmerkung von August 2021: Wir veröffentlichen einen Bericht über dieselbe Gemeinde am 10. Februar 2021, zu finden unter "Evangeliumschristen". Es scheint, daß tatsächlich eine partielle Rückkehr zu den baptistischen Wurzeln stattfindet. Tuschino gehört auch nicht mehr zu einem pfingstlerischen Kirchenbund.