· 

Protestantischer Leiter in Moskau an einem öffentlichen Streit beteiligt

Braun gegen Grün?

------------------------------------------------------------------

Führender russischer Protestant im Streit über Bäume und Ideologie

 

Kommentar

 

M o s k a u – Am 15. Juli begann eine protestantische Firma, die „Teplotechnik”, mit der Rodung des Himki-Waldes unmittelbar gegenüber der nördlichen Stadtgrenze Moskaus. Der Firma bleibt bis zum 1. September Zeit, um eine 43 km lange und bis zu 100 Meter breite Schneise durch den Wald zu schlagen. Vierzig tausend Bäume sollen gerodet werden; Opponenten behaupten, 90% des Waldes werde vernichtet. Doch hier handelt es sich um mehr als eine einfache Ansammlung von Bäumen: Himki hat sich in den vergangenen fünf Jahren zum führenden russischen Symbol für den ökologischen und ideologischen Kampf der Kleinen gegen die Staatsmacht gemausert. Diese Auseinandersetzung ist vergleichbar mit Gorleben oder der Startbahn-West in Deutschland. In Himki dreht es sich um eine Teilstrecke der heißersehnten, neuen Mautautobahn zwischen Moskau und Sankt Petersburg.

 

Bei diesem Streit stehen sich Greenpeace, die oppositionelle “Nowaja Gaseta” (die Zeitung der ermordeten Anna Politkowskaja), der Politiker Garry Kasparow, die russische „Solidarnost“, der Sender „Echo Moskwy“, die „Linke Front“, die pro-stalinistische „Nationalbolschewistische Partei“ („Limonowtsy“) und der Rocker Schewtschuk der herrschenden Elite gegenüber: dem Kreml, dem Stadtrat von Himki - und Alexander Semtschenko.  Semtschenko, einziger Inhaber der Heizungs- und Baufirma „Teplotechnik“, ist seit 2008 Bischof der kleinen, 26-gemeinde-starken „Union der Kirchen der Evangeliumschristen“.

 

Seit dem 15. Juli tobt ein Kleinkrieg im Wald und vorm Himker Rathaus. Dort liefert sich eine bunte Ansammlung von maskierten Autonomen, Journalisten und ökologischen Überzeugungstätern Scharmützel mit Fußballhooligans, selbsternannten Neo-Nazis und der Sicherheitspolizei OMON.. Die Banner bei einem Straßenaufgebot der Kreml-unterstützten „Jungen Garde“ beschrieben die Oppositionellen als „Pseudo-Ökologen“ und „Psychopathen“. Eine Demo der Gegenseite zeigte Plakate mit Aufforderungen wie: „Schützt den russischen Wald vor den Faschisten!“ Ein Bericht in der Zeitung „Wremja“ am 26. Jul trug die Überschrift: „Braun gegen Grün“.

 

Offensichtlich verbirgt das protestantische Eintreten für den staatlichen Goliath im Kampf gegen David den Keim eines PR-Desasters. Medien versehen den Unternehmer Semtschenko mit Titeln wie „Bischof-Holzfäller“; seine Mixtur von Theologie und Geschäft trägt dazu bei, daß Protestanten mitunter als profitgierige Emporkömmlinge und Opportunisten beschrieben werden. Ohne den Gottesdienst zu stören, versammelte sich eine Gruppe Protestierender um das Gemeindehaus des Bischofs, „Na Schelepihe“, am 25. Juli. Nach einem Disput mit dem verdutzten Semtschenko im Anschluß an den Gottesdienst folgerten die Protestierenden, er müsse in großer Geldnot sein, um sich auf ein derart „antiökologisches und korruptes Projekt“ einzulassen. Die Gruppe versprach, Gelder zu sammeln, um das finanzielle Überleben des Bischofs zu gewährleisten. Später verwahrte sich Semtschenko vehement gegen den Vorwurf, er hätte bei diesem Gespräch seinen Widersachern Gefängnisstrafen angedroht. Er sagte jedoch auf jeden Fall: „Wir werden Sie vors Gericht bringen und wir werden gewinnen. Das wird Sie richtiges Geld kosten und Ihr Abenteuer wird zu nichts führen.“

 

Öffentliche, protestantische Kritik hinsichtlich der Handlungen Semtschenkos hält sich in Grenzen. Mit Hinweisen auf eine Beschädigung des protestantischen Images sowie die Skandale und Korruptionsfälle, die mit dem höchst lukrativen Projekt Himki verbunden sind, hat ein nahezu anonymer „Brief der jungen Christen Moskaus“ Semtschenko aufgefordert, aus dem Vorhaben auszusteigen. Doch die Behauptung des Islamexperten Roman Siljantsew, die Auseinandersetzung um den Wald könnte zu einer „Destabilisierung der interkonfessionellen Beziehungen im Lande“ führen, erscheint übertrieben. Weder Muslime noch Orthodoxe werden die Ökologen gegen den russischen Staat in Schutz nehmen. Eher überzeugend ist Siljantsews Feststellung, die Auseinandersetzung trage nicht dazu bei, „ein positives Image bezüglich der evangelischen Christen und der protestantischen Kirchen zu vermitteln“.

 

Im Kontrast hierzu wähnt der Charismatiker Sergei Rjachowski, Bischof der lose-organisierten, 2.000-Gemeinde-starken „Vereinigten Russischen Union der Christen Evangelisch-Pfingstlerischen Glaubens“, im Rodungsauftrag einen PR-Erfolg. „Endlich wurde einem Vertreter des Protestantismus, der für seine sozialen Verdienste und geschäftliches Wirken bekannt ist, ein großer, staatlicher Auftrag zuteil“, jubelte er. „Das zeigt mir, daß die Protestanten im Alltag akzeptiert werden. Es ist erfreulich, daß die Gesellschaft sie im Prinzip als normale Geschäftsleute akzeptiert hat.“ Rjachowski betonte, daß Umweltfragen von Gerichten oder den zuständigen Staatsvertretern zu entscheiden seien. Alexander Semtschenko argumentiert stark im Sinne von Römer 13: Christen sollten ehrlich und fleißig arbeiten; Ökologen müßten sich ebenfalls den staatlichen Verfügungen unterwerfen, „solange sie nicht im Widerspruch zu unserem Glauben stehen“.

 

Semtschenko und sein Mitstreiter Rjachowski treten entschieden für Recht und Ordnung ein – allerdings hat sich die Stadtregierung von Himki weder als rechtens noch als ordentlich erwiesen. In den letzten Jahren sind mindestens drei Journalisten, die negativ über politische Entwicklungen in der Stadt berichtet hatten, grausam mißhandelt worden - aber deswegen sind noch keine Verdächtigen festgenommen worden. Die genannten „jungen Christen Moskaus“ bezogen sich ebenfalls auf den Fall des Himker Journalisten Mihail Behetow. Im November 2008 wurde er fast zu Tode geprügelt; dabei verlor er ein Bein und drei Finger. Von seinen Hirnschäden wird er sich womöglich niemals erholen.

 

Semtschenko und seine Anhänger würden sehr wahrscheinlich darauf erwidern, daß sich ihre Loyalität auf die föderalen Staatsvertreter bezieht – nicht auf die Kommunalpolitiker von Himki. Dennoch dürfte man die Frage stellen, ob es ehrenvoll sei, einem Staat bei der Ausführung einer unappetitlichen und höchst kompromittierenden Aufgabe behilflich zu sein. Warum hat der Staat ausgerechnet einen Protestanten mit der Erledigung einer besonders fraglichen Angelegenheit beauftragt? Rjachowski, Semtschenko und der adventistische Bischof Wassili Stoljar sind die einzigen protestantischen Mitglieder im elitären „Rat für die Zusammenarbeit mit den religiösen Organisationen am Sitz des Russischen Präsidenten“.

 

Der Vorwurf Alexander Semtschenkos, es gehe den Protestierenden in Himki nicht um die Ökologie, ist zweifellos nicht völlig falsch. Es sei ja auch anhand der jährlichen Berliner Straßenschlachten zum 1. Mai zu erkennen, daß in Europa der radikale, anarchistische Rand vor allem an „Krach und Skandal“ – so drückte es Semtschenko aus - interessiert sei. Eine Bewegung, der es wirklich um den Schutz der Umwelt ginge, müßte viel tiefer ansetzen und etwa mit der Entwicklung einer alternativen Verkehrspolitik beginnen. Die Zerstörung von Wäldern wird sich nicht aufhalten lassen, solange die Bürger immer mehr Autos erwerben. Solange ein Volk auf dem motorisieren Individualverkehr besteht, muß es die Zerstörung weiter Strecken seiner Gott geschaffenen Natur in Kauf nehmen. Wer Aufnahmen der nordamerikanischen Landschaft etwa aus dem Jahr 1950 mit den heutigen vergleicht - dem wird sofort die dramatische, autoverursachte Verwandlung eines Landstrichs vor Augen geführt.

 

Alexander Semtschenko

Der 1948 geborene Alexander Semtschenko ist ein Kind der historischen „Zentralen Baptistengemeinde“ Moskaus. Dank seiner Bemühungen um die illegale “Samisdat” begann seine Karriere als Verleger mit einem Aufenthalt hinter Gittern im Jahre 1982. Doch seine 1989 gegründete Monatszeitung „Protestant“ schoß erst einmal wie eine Rakete in die Höhe und erreichte eine Höchstauflage von 170.000. Obwohl heute kein Organ der „Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten“ (RUECB), bleibt „Protestant“ mit ihrer Auflage von 12.000 die qualitativ beste Zeitschrift im russischen Protestantismus. Es war Semtschenkos Verwandlung vom staatsgegnerischen Verleger und Jugendleiter zum millionenschweren Geschäftsmann und Mäzene die ein Großteil seiner kirchlichen Arbeit ermöglicht hat.

 

Seit seinem Bruch mit der RUECB im Februar 2008 und seinem anschließenden Wechsel zu den “Evangeliumschristen”, hat Semtschenko noch viel stärker die Schaffung neuer Parallelorganisationen forciert. Mit ansprechenden Arbeitsstellen und höheren Gehältern ist es ihm gelungen, leitende Mitarbeiter aus anderen Kirchen abzuwerben. Heute konkurriert sein Internet-Nachrichtendienst „Protestant“ mit dem charismatischen Dienst „Invictory“ aus Kiew; seine „All-Russische Union der evangelischen Christen“ (WSECh auf Russisch), ist in ihrer Art ein zweiter „Öffentlicher Rat“, der sich bemüht, alle baptistisch-orientierten Denominationen unter einem Schirm zu vereinen. Die WSECh wäre auch als eine zweite Russische Evangelische Allianz einzustufen. Semtschenkos Bemühungen bleiben unter der Jugend gefragt. Seine lautstarken und flinken Moskauer Osterkonzerte vermitteln ein fröhliches Bild vom russischen Protestantismus, das sich stark von den muffigen Klischees der Sowjetära absetzt.

 

Seit 2008 ist Semtschenko auch auf dem nordamerikanischen Markt präsent. Seine englischsprachige, in Dallas/Texas beheimatete Zeitschrift “The Protestant America” richtet sich an die wachsende, russisch-evangelikale Immigrantengemeinschaft des Kontinenten (siehe „www.protestant-press.com”). Doch die Achillesverse seiner Organisation bleibt die Tatsache – abgesehen von der Nähe zum russischen Staat - daß die finanzielle Förderung fast ausschließlich von einem einzigen, sterblichen und alternden Christenmenschen stammt.

 

Dr.phil. William Yoder

Moskau, den 18. August 2010
Pressedienst der Russischen Evangelischen Allianz

 

Meldung Nr. 10-23, 1.275 Wörter oder 9.693 Anschläge mit Leerzeichen.