· 

Viele Russen können die Sowjetunion nicht vergessen

Eine Menschengruppe verlor Ostpreußen, die andere, die Sowjetunion

--------------------------------------------------------------------------------------

Nachdenken über das Empfinden der eigenen Ehefrau

 

Kommentar

 

B e r l i n -- Vor kurzem war Galina, meine 1958 im sibirischen Barnaul geborene Ehefrau, einmal wieder aus dem Häuschen und den Tränen nahe. Sie hatte sich gerade auf YouTube das traurige, getragene, georgische Liebeslied „Suliko“ (Seele) angehört. Der Text ist 1895 von dem georgischen Nationaldichter Akaki Zereteli (1840-1915) verfaßt worden. Nach 1937 wurde es in der gesamten UdSSR bekannt; in den fünfziger Jahren wurde es auch im „Ostblock“ gesungen, sogar bei Beerdigungen. Auch Josef Stalin hatte das Lied gemocht.

 

Lieder wie dieses erinnern Galina und weitere Sowjetbürger an das Verflossene, und das, was in der UdSSR einmal war. „Wie toll das doch war in der Schule zum Neujahr!“ schwärmte sie. „Es war richtig bunt. Wir berieten darüber, wer sich als Usbeke, Ukrainer, Georgier, Kasache, Baschkire oder Tschetschene kleiden sollte.“ Traurig fügte sie hinzu: „Heute kleiden sich die Kinder nur noch wie Mäuse und Hasen.“

 

Solche Gefühle hegt nicht nur Galina. Auf YouTube ist zu sehen, wie eine professionelle kasachische Truppe „Gatob“ Gefühlswallungen auslöste, als sie 2014 auf dem Bahnsteig in Almaty ein Lied der Sowjetära anstimmte und alle Passagiere mitriß. In der Hochphase der Flashmobs vor einem Jahrzehnt traten Ukrainer mit alten russischen Liedern auf - und umgekehrt.

 

Als Reaktion auf eine Vorführung von „Suliko“ aus dem Jahre 2010 gibt es auf YouTube mehr als 900 Kommentare. Siehe: „www.youtube.com/watch?v=AZehGlB4B6o&feature=youtu.be“. Die Kommentare, die von Georgien und den Georgiern schwärmen, stammen u.a. aus Aserbaidschan, Moldawien, Rußland, Georgien und Tschechien. „Wie gern denke ich doch an meine Kindheit in Tbilissi zurück!“ schrieb eine Russin. „Damals gab es keine Kriege und ethnischen Konflikte, die Leute waren alle ‚Brüder’.“ Auffallend häufig zu sehen sind Kommentare aus Polen auf Polnisch. Eine Frau stellte fest: „Warum ist die Welt so nach Westen ausgerichtet? Wenn man das polnische Radio hört, hat man den Eindruck, daß alles am Bug endet.“ Eine andere Polin: „Keiner singt dieses Lied so wie die Georgier es können.“

 

Die Gruppe „Gatob“ aus Almaty – siehe „www.youtube.com/watch?v=nhbsRccmCeE“ – wurde mit mehr als 1.600 Kommentaren belohnt. Hier wurde auf Kasachstan ein Lob ausgeschüttet. Dabei taten sich ältere Aussiedler besonders hervor; vielleicht sind sie in Deutschland nur materiell gut versorgt: „Ich bin dankbar für jedes Jahr, das ich in Kasachstan verleben durfte.“ Eine andere bekannte, daß sie zu weinen beginnt, wenn sie kasachische Lieder hört: „Kasachstan wird meine Heimat bleiben!“

 

Eine in Kasachstan aufgewachsene Russin behauptet, die Kasachen seien wundervolle Menschen. „Ich habe niemals erlebt, daß Russen gegen die Kasachen waren. Auf jedem Hof gab es Kasachen, Russen, Deutsche und Koreaner. „Wir lebten zusammen wie eine Familie.“ Eine andere Russen schreibt: „Nach dem Paß bin ich Russin, doch nach dem Herzen bin ich Kasachin, und darauf bin ich stolz.“ Eine Kasachin aus Deutschland bestätigte: „Die deutschen Omas in meiner Kindheit waren alle gute und vornehme Leute.“

 

Wie peinlich wirken doch die beiden “Borat”-Filme des britischen Komikers Baron Cohen von 2014 und 2020! Sie geben Kasachen und deren Kultur der Lächerlichkeit preis und deuten somit auf die geistige Armut des Filmemachers hin. Mit Schwarzen und Juden geht der Westen viel behutsamer um.

 

Galina Yoder ist keineswegs Kommunistin, doch sie folgerte: „Den Aussiedlern in Deutschland hängen an ihrer Vergangenheit in Kasachstan. Ihr mit dem Geist der Sowjetunion angefülltes Herz ist dort geblieben. Damals einigten uns die Schaffenskraft; keiner fragte nach Nation und Weltanschauung. Wir alle haben gemeinsam gelitten und sind gemeinsam gestorben. Deshalb sind unsere Fäden in die Vergangenheit hinein stark – sie zerreißen nicht.“

 

Für diese Menschen ist es höchst selbstverständlich, daß Menschen wie Putin der UdSSR nachtrauern. Bekannt ist er für den Satz: „Wer die UdSSR nicht wieder haben will, hat kein Herz. Wer sie wieder haben will, hat keinen Verstand.“ Putin spricht diesen in der Sowjetunion Geborenen aus dem Herzen.

 

Die Trauer dieser „Sowjetbürger“ erinnert mich an jene der ehemaligen Ostpreußen - Verluste sind immer mit Schmerz verbunden. Die eine Gruppe der Trauerenden verlor Ostpreußen, die andere, die Sowjetunion. Auch Millionen von Ukrainern trauern der UdSSR nach.

 

Ist es ein Wunder, daß die heutigen Russen die Belarussen fernab aller Geostrategie nicht ziehen lassen wollen? Beim Staat geht es um die kalte Geopolitik, das Volk sieht mit dem Herzen. Diese beiden sind Brudervölker oder gar ein einziges Volk. Haben sich die Deutschen 1949 über die Aufspaltung ihres Landes gefreut?

 

Heute

Man kann sich vorstellen, wie schockiert Galina war, als sie 1978 erstmals das Baltikum besuchte. In einem Rigaer Laden weigerte sich die Kassiererin, die Touristin aus Sibirien aufgrund ihrer Nationalität zu bedienen. Das war eine Vorbote dessen, was auf das russische Volk zukommen würde.

 

Heute werden in Rußland die dunklen, zentral-asiatischen Männer gleich nach der Ankunft auf dem Flughafen abgefangen und nach dem Woher und Wohin gefragt. Fast verständlich in Anbetracht der hohen Zahl illegaler Aufenthalte.

 

Mir bleibt ein Gespräch in Kiew im April 2015 eine Trauma. Damals teilte mir ein leitender Vertreter des dortigen Baptistenbundes u.a. mit, der einzige Faschist, der sich am Gerangel zwischen seinem Staat und Rußland beteilige, heiße Wladimir Putin. Das ist nicht gerade der Standpunkt Israels – des Bruderstaates der evangelikalen Welt.

 

Nach heutiger, westlicher Lesart steht praktisch jedem Völklein ein eigener Fleck Erde zu. Jedes Volk soll erst einmal für sich leben dürfen und sich selbst behaupten. Somit war schon 1991 eine Mini-Sowjetunion namens Jugoslawien zu bekämpfen und gar aufzulösen. Ich denke, die Taktik „Divide et impera“ ist gegenüber dem weiterhin großen Rußland noch immer aktuell.

 

Was nicht sein darf

Sicherlich, nach dem Lesart des Westens und seiner Leitmedien – „politische Korrektheit“ ist der übliche Begriff - ist es nicht gestattet, wie Galina zu denken. Dem Westen geht es um Demokratie, Freiheit und Menschenrechte, um das Recht auf Selbstverwirklichung. Das oben beschriebene „Liebesfest“ dürfte nicht sein.

 

Gegenüber den „Sowjetbürgern“ kann man natürlich auch Bedenken hegen. Anfälle von Nostalgie können die Brille rosarot anfärben. Es stimmt auch die Feststellung, daß man meistens erst im Nachhinein – oder erst von auswärts - das eigene Land kennen und schätzen lernt.

 

Natürlich ist es nicht zu bestreiten, daß die UdSSR gelegentlich auch nach Kriegsende von politischen Unruhen und Verfolgungen heimgesucht worden ist. Und es ist klar, daß ein Kämpfer für die Glaubensfreiheit die UdSSR anders beschreibt als die Nostalgiker es tun.

 

Die Frage bleibt: Welches Teil einer Gesamtrealität will man hervorheben? Die politisch Mächtigen sind besonders anfällig dafür, selektiv vorzugehen und nur Teile einer Gesamtrealität hervorzukehren. Gesellschaftssysteme sind nur Stückwerk – sie befriedigen nur ein Teil dessen, wonach sich das Herz sehnt. Doch auch im Namen des Friedens darf die Realität der einstigen Sowjetmenschen nicht unten den Teppich gekehrt werden. Das ist wichtig!

 

Die Liebe einigt, der Haß spaltet. Fromm aber wahr.

 

Dr. phil. William Yoder
Berlin, den 5. Februar 2021

 

Für diese journalistische Veröffentlichung ist allein der Verfasser verantwortlich. Sie will informieren und erhebt nicht den Anspruch, die offizielle Meinung einer Organisation zu vertreten. Diese Meldung darf gebührenfrei abgedruckt werden, wenn die Quelle angegeben wird. Meldung 21-04, 1.077 Wörter.