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Horizontaler und vertikaler Glaube, Teil I

Verfaßt auf dem Hintergrund der damals gängigen Befreiungstheologie

 

Der Autor, W. E. Yoder, ist US-Amerikaner und studiert z. Z. in der VR Polen. Wir brachten von ihm in der Nr. 1/79 einen kritischen Beitrag über die Evangelisation Billy Grahams in Polen, der eine breite Diskussion ausgelöst hat. Der hier folgende Beitrag ist als eine Fortführung dieser Diskussion gedacht, indem er den unterschiedlichen Einstellungen und Auffassungen der traditionell oder neupietistischen Kreisen und der sozialengagierten Gruppen nachgeht und sie zu einem Gespräch anregen will.

 

Ein revolutionärer, pietistischer sowohl wie sozialbewußter Glaube

 

In diesem Beitrag möchte Ich den Rahmen einer Theologie abstecken, die versucht,  pietistisches (oder evangelikales) Gedankengut mit Sozial-bewußtem zu verknüpfen. Ich gebrauche hierbei ein etwas vereinfachtes Schema von zwei Hauptflügeln (ein pietistischer und ein sozial-gesinnter) innerhalb der protestantischen Kirchen. Ein kirchlicher Flügel betont das Innere (oder Vertikale), der andere das Äußere (oder Horizontale). Einer neigt deshalb dazu, das Beten und Bibellesen, der andere, die gesellschaftlichen Anliegen zu vernachlässigen. Der „konservative" Flügel erkennt vor allem das Fundament unseres Glaubens (die Schrift) an, der "liberale" Flügel ist mehr um die konkrete, gesellschaftliche Auslegung des Christseins besorgt.

 

Meistens umgeht der „Sozlal-Aktlvist" das Gespräch mit dem "Vertikalgesinnten" dadurch, daß er sämtliche Unterschiede als „Stilfragen“ bagatellisiert. Der Pietist "drücke sich bloß anders aus". Es bestehen jedoch wichtige inhaltliche Unterschiede zwischen beiden Flügeln (z.B. im Bekehrungs- und Bibel-, im Sitten- und Eheverständnis), die gemeinsam zu besprechen zur Bereicherung der Kirche beitragen würden.

 

Leider haben sich beide Flügel auseinandergelebt; man ist sich kaum noch der Existenz des anderen bewußt. Mancher Sozial-Aktivist kann sich nicht vorstellen, daß Pietisten noch eine beachtliche Zahl darstellen. Umgekehrt kann sich der Bekehrungs-Orientierte, der sich möglicherweise in einer Situation des spirituellen Auflebens befindet, keine andere Ausprägung des Evangeliums vorstellen. Dem einen entgehen somit die wichtigen Anliegen, mit denen sich der andere beschäftigt.

 

Ich meine, daß beide Flügel wichtige Teile des Evangeliums erfaßt haben. Mir geht es darum, aus "vertikalen" und "horizontalen" Kreisen eine neue theologische Einheit entstehen zu lassen. Die Isolationsmauern müssen durchbrochen werden. Dies geschieht tatsächlich in gewissen Kreisen (siehe manche „Befreiungstheologen", „radikale Christen", die „evangelikale Linke") Nord- und Südamerikas.

 

Warum revolutionär?

Die Nordamerikanerin Edith Black zitierte einen Satz aus dem berühmten Brief von Ché Guevara an die uruguayische Zeitschrift "Marcha": "Vielleicht gerate ich dabei in die Gefahr der Lächerlichkeit, doch möchte ich behaupten, daß der wahre Revolutionär von der Liebe geleitet werden muß." "Ein herrlicher Satz", meinte Frau Black, "aber warum mußte er sich dafür entschuldigen?“ (Edith Black, "A Rediscovery of the Christian Faith" zitiert in Richard Quebedeaux, „The Wordly Evangelicals", Harper & Row, New York, 1978, S. 171).

 

Wir behaupten häufig, die Marxisten hätten ein mangelndes Liebesverständnis, was nach Emesto Cardenal von kubanischen Marxisten auch eingesehen wird. (Ernesto Cardenal, "In Kuba", Peter Hammer Verlag, Wuppertal, 1972, S. 138)

                   

Der Christ kann sich aber auch recht lächerlich vorkommen. Manchmal pflege ich meinem Glaubensgenossen zu sagen, mir gehe es vor allem „um die Revolution". Meistens geht meinem Gesprächspartner dann der Mund auf, seine Augen starren mich voll Verwunderung an. Vielleicht fehlt es den lateinamerikanischen Marxisten an einem ausreichenden Liebesverständnis; uns fehlt es sicherlich an Revolution.

             

Hiermit meine ich nicht vor allem „Revolution" im Sinne eines politisch­gesellschaftlichen Umsturzes, sondern Revolution als persönliche Haltung gegenüber dem Weltgeschehen. Die Lebenseinstellung des Revolutionärs möchte ich mir auf jeden Fall zu eigen machen. Ein revolutionäres Bewußtsein fordert, daß ich für andere anstatt auf mich bezogen lebe. Der Revolutionär tritt gegen Fatalismus und Trägheit ein. In der mir zur Verfügung stehenden Zeit habe ich konsequent dafür zu kämpfen, daß die Welt und unsere Kirche mehr dem Ebenbild Gottes entsprechen.

 

Warum revolutionär? Weil sich nur eine revolutionäre Kirche wieder konstruktiv ins Vorfeld menschlichen Geschehens begeben kann. Nur eine revolutionäre Kirche kann die Leiden der Menschheit mittragen, und darum kann nur sie das Wesen Christi widerspiegeln. Eine christliche Denomination, die meint, ihre Zeit damit verbringen zu müssen, sich selbst über Wasser zu halten (statt sich um die Welt zu kümmern), ist nicht Imstande, jenen Kirchen, die sich in neu revolutionären Situationen befinden, sinnvoll beizustehen. Hiermit meine ich u.a. die Kirchen in Vietnam, Lateinamerika und im südlichen Afrika.. Eine Kirche im Sozialismus, die für ein solches Miteinandergehen nicht gerüstet ist, kann meistens nur westliche Mutterkirchen hofieren, und das ist nicht schwer. (Natürlich sagt das nichts gegen eine Ökumene zwischen gleichberechtigten Partnern.)

 

Vorschläge zur Schaffung eines radikalen Glaubens

 

1. Dienen statt Konsumieren

Das Konsumdenken hat sich auch auf das Evangelisieren ausgebreitet. Wir verkünden: „Nimm Jesus an, es lohnt sich". Wie ein geschenkter Lottoschein etwa kann sich der Glaubensschritt also nur positiv auswirken; man riskiert dabei nichts. „Jesus versagt nie", beteuern wir, hingegen versagt das Auto manchmal, also: „Versuche es lieber mit Jesus“.

 

„Nimm Jesus an, man hat mehr davon (als mit Alkohol)." (Er hat keine Nebenwirkungen und Ist kostenlos.) "Nimm Jesus an, du wirst es nie bereuen!" Aber Jeremia und Hiob haben es bitter bereut (siehe Jeremia 20, 24-28 oder Hiob 3, 1-13). So empfinde ich leider ein Großteil unseres Evangelisierens. Bekunden wir da nicht einen rein pragmatischen, selbstsüchtigen Jesus? Nimm Jesus an, nicht unbedingt, weil er die ewige Wahrheit ist, sondern, weil er den höchsten Zinssatz bietet. ,,Bei Jesus bekommt man mehr."

 

Vor allem wird den Interessierten viel Friede und Freude versprochen. Ich bezweifle jedoch, ob diese Freudenverheißungen biblisch begründet werden können. Stellt das Neue Testament die Freude irgendwann in den Vordergrund? Ich hege den Verdacht, Freudentheologen gibt es erst seit der Entstehung der Konsumgesellschaft. Hat Gott seine Propheten froh gemacht? Francis Schaefer behauptet am Beispiel Jeremias, der Glaube verzehre den Menschen. Wer sich irgendeiner Revolution zur Verfügung stellt, kann erwarten, daß sie ihn verbrauchen wird.

 

Das Kreuztragen (auf dem Rücken) muß wieder Mode werden. Fragende sollten zur Nachfolge und zum Dienen aufgerufen werden. Bei Revolutionen wird die Freude nie in den Vordergrund gestellt, denn sie ist ein natürliches Resultat des Suchhingebens; sie sind also nicht selbst das Ziel. Ich habe übrigens den Verdacht, daß es keine Revolutionäre waren, die sich dabei wohl fühlten, ein „Freudenevangelium" zu entwickeln.

 

Das Dienen hat auch einen ökumenischen Wert, denn im Kampf um eine bessere Welt finden Christen verschiedener Prägungen und Konfessionen zueinander.

 

2. Das Kollektive sowohl wie das Private wird betont

Vertikal-Gesinnte sind Schrittmacher eines individualistischen, privatistischen Glaubens. Andererseits beschäftigen sich Horizontal-Gesinnte vor allem mit gesellschaftlichen, kollektiven Bedingungen. Für den vertikal-gesinnten Pietisten ist das Verhältnis der einzelnen gegenüber ihrem Gott das auf allen Lebensgebieten Entscheidende. Beinahe jeder Evangelist in der Welt geht davon aus, daß geistlich veränderte Menschen eine Gesellschaft neuen Typus herbeiführen werden. Wir brauchen darum nur immer mehr Menschen zu bekehren. Leider bleibt es unbewiesen, ob Bekehrte wirklich an die Beseitigung gesellschaftlicher Mängel herangehen. Es kann in Gegenteil sogar statistisch nachgewiesen werden, daß Bekehrte stark zum Beibehalten des Status quo neigen. Nach James Dittes haben sämtliche wissenschaftlich durchgeführten Meinungsumfragen der vergangenen 40 Jahre erwiesen, daß Konfessionslose vorurteilsfreier sind als Kirchenmitglieder. Sie bestätigten weiterhin: Je konservativer die eigene Theologie ist, desto mehr Vorurteile festzustellen sind. (James Dittes, „Bias and the Pious", Augsburg, Minneapolis / USA, 1973, S. 52-53)

 

Nicht zuletzt hängt diese schmerzliche Bilanz damit zusammen, daß die missionarisch Aktiven keine klare Vorstellung von einem positiven, gesellschaftlichen Wirken haben. Die Frage, wozu Gott uns errettet hat, bleibt offen.

 

Denken wir an die deutschen Gläubigen, die den Faschismus am eigenen Leibe miterlebt haben. Gewiß waren viele von Ihnen in ihrem Dienst - wo auch immer – gewissenhaft, freundlich und erbaulich. Aber Freundlichkeit allein hat nicht viele Juden oder Polen der Gaskammer entrissen. Von den Bekehrten muß mehr erwartet werden, als nur ein persönlich geregeltes, anständiges Leben. Es besteht die Frage, ob ein rein privatistisches Evangelium nicht an den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges gescheitert ist.

 

Selbstsicher geht der konservative Christ mit Anführung gewisser Bibelstellen (z.B. Markus 8,36) davon aus, daß Gottes Wort, sowohl wie Plato und Thomas von Aquino, die Welt in geistliche und irdische (sprich nebensächliche), sakrale und säkulare Sphären aufteilt. Andere sind der Auffassung, der Begriff "Seele" habe einen breiteren, umfassenderen Sinn als die Auslegung mancher Griechischkommentare.

 

Gewiß enthüllen wir den Einfluß eines übertriebenen, bürgerlichen Individualismus, wenn wir stets davon ausgehen, daß jeder einzelne allein und für sich, an seinem eigenen Ort als Salz (siehe Matt. 5,13) zu dienen habe. Verfechter einer radikalen, doch bibelbezogenen Theologie meinen, daß ebenfalls über „kollektives Salz“ nachgedacht werden muß, das aus Gruppen besteht und sich an weitere Gruppen und Institutionen wendet. Im Alten Testament wenden sich die Juden als Kollektiv an Gott, und er spricht sie auch als Kollektiv (Volk) an.

 

Der einzelne Christ kann sich hinsichtlich persönlicher Veränderungen alles nur Denkbare einbilden. Darum ist kollektive Veränderung wesentlich glaubwürdiger, denn sie ist entschieden schwieriger zu vollziehen. Kollektive Veränderung ist radikaler als die privatistische Formel "Mein Jesus und Ich". Es ist wunderbar zu begreifen, daß Jesus nicht nur Seelen (traditionell verstanden) rettet, sondern auch unsere kollektiven Beziehungen untereinander, unsere Kunstwerke, unser Verhältnis zur Gesellschaft, die Tiere und Berge. Jesus möchte alles retten, alles zu sich führen (siehe u.a. Lukas 4,18). Er ist der große Befreier, der große von allem Bindenden Befreiende. Ein radikaler Christ, Jim Wallis, schrieb: „Das Heil, die Wiedergeburt, ist nicht nur ein privates Ereignis, sondern viel eher ein Weltereignis, an dem der einzelne teilnimmt. (Zeitschrift „Kehrseite", Westberlin, Ausgabe Nr. 3, 1977, S. 10). Jesus sprach viel von der Teilnahme an einem Reich (Kollektiv), das er gegründet hat.

 

Welche Rolle sollte die Evangelisation in einer vertikal- sowohl wie horizontal-gerichteten Theologie einnehmen? Das traditionelle Evangeliumsverständnis kann am Beispiel der Elektrizität im Haushalt erläutert werden. Der Strom (das Evangelisieren) aktiviert alle technischen Geräte, die sich in einem Haushalt befinden. Er ist der Motor von allem, und ohne ihn ist nichts in einem modernen Haushalt zu vollbringen.

 

Es kann wohl mit derselben biblischen Begründung argumentiert werden, daß das Evangelisieren etwa wie der Kopf als Zentrum eines Körpers zu fungieren hat. Natürlich ist der Kopf ein äußerst wichtiger Bestandteil des Körpers. Wenn man aber versucht, sich auf das .,Allerwichtigste" zu beschränken, d.h. den Kopf vom restlichen Leibe zu trennen, dann werden das Haupt sowohl wie der übrige Körper umkommen. Das Haupt funktioniert nur in Verbindung mit dem ganzen Leib Christi (1. Kor. 12); sie ermöglichen einander das Leben.

 

Evangelistisch-ausgerichtete Christen sehen ihren Auftrag darin, eine möglichst hohe Zahl von Menschen für den Glauben anzuwerben. Ich meine doch, unsere vorrangige Aufgabe bestehe darin, das Salz und die Liebe Gottes unter die Menschen zu streuen. Das verlangt ein ausgearbeitetes Programm, das versucht festzustellen, was „Salzsein“ in der heutigen Gesellschaft zu bedeuten hat.

 

Diese beiden Auffassungen unseres Auftrages sind noch nicht völlig identisch, denn auch ein „salzloses Evangelisieren" ist möglich. Der Übertritt zum Glauben ist eine natürliche Folge des „Salzstreuens“, er ist jedoch nicht Hauptinhalt des Evangeliums.

 

Selbstverständlich ist meine private, innere Revolution von hoher Bedeutung; aber das ist nicht das einzige Wesentliche. Persönliche Bekehrung ist wichtig, genauso wie alle anderen Fragen, die die Menschen etwas angehen. Christen können von der heutigen vietnamesischen Gesellschaft Wesentliches abgewinnen: Die private Wandlung wird unmittelbar mit der gesellschaftlichen verknüpft. Z.B. besteht für den einzelnen Kader ein Zusammenhang zwischen der eigenen Bereitschaft zum Straßenfegern und dem Fortschreiten der Weltrevolution. Christen dürfen nicht weiterhin entweder die persönlichen oder die kollektiven Aspekte ihres Glaubens verdrängen.

 

Der "vertikale" Christ wird gewiß erwidern, daß die Zelt kurz sei, da Christus bald wiederkehren wird. Schnell muß alles (d.h. Seelen) gerettet werden, was es noch zu retten gibt. Natürlich rechne ich auch mit der Wiederkunft Christi. Ist aber nicht die voreilige Einschränkung des Gesamtauftrags Christi, das Abspeisen mit der Ewigkeit, das schon vor hundert Jahren im Marxschen Einwand gegenüber dem Glauben ins Schwarze traf? lst ein solcher Glaube noch von einem „irdischen" Wert? Wird der empfindsame Nichtchrist nicht erst durch unser Hineinsteigen ins Weltgeschehen für den Glauben gewonnen werden können? Wie können wir vor den Menschen glaubwürdig für unser Programm werben. wenn wir noch keins haben?

 

Die Betonung des Kollektiven wirkt sich ebenfalls auf unsere Besitzverhältnisse aus. Emesto Cardenal schrieb: "Je gemeinsamer der Besitz, desto heiliger ist er.“ (Emesto Cardenal, „In Kuba", Peter Hammer Verlag, Wuppertal, 1972, S. 291). Die Christen entwickelter kapitalistischer und sozialistischer Gesellschaften müssen neu darauf hingewiesen werden, daß Rasenmäher, Autos, Gemeindesäle und Erkenntnisse heiliger sind, wenn sie mit anderen geteilt werden. Es kann politisch-ökonomisch argumentiert werden, daß der soziale Wohlstand nicht auf das Konto der Armen der Welt gehe. Fest steht aber, daß die Ungleichheiten zwischen Menschen (relativer Luxus gegenüber Hunger) vor Gott ein Greuel sind (siehe Arnos 5). Diese Tatsache darf keinen in Ruhe lassen.

 

Die Evangelisten reden von vier bis fünf Schritten. die zum erfolgreichen christlichen Leben führen: Bekehrung, tägliches Bibellesen und Gebet, Gemeinschaft, Weitersagen. Da diese wohlbekannten Schritte lebenszerstörende "Gläubige“ nicht ausschließen, möchte ich gerne einen weiteren Schritt hinzufügen: Jeder Bekehrte sollte sich verpflichten, sich für die geringsten Kinder Gottes einzusetzen. Das würde u.a. südafrikanische Militärs wohl aus dem Kreise der Gläubigen ausschließen.

 

Wiederholt wird in diesem Beitrag von einem politischen Engagement gesprochen; damit ist aber nicht von irgendein politisches Engagement gemeint, sondern nur eine Politik, die sich eindeutig auf die Seite der Unterdrückten und Hungernden der Welt stellt.

 

3. Teure statt billige Gnade

Billige Gnade rechtfertigt die Sünde und nicht den Sünder. Sie ist Vergebung ohne Buße. Ohne sich eines Umdenkens zu unterziehen (z.B. Buße gegenüber Vietnam), erstrebt Präsident Jimmy Carter die Schaffung einer heilen Welt. Billige Gnade behauptet, wahrer Friede setze nicht die Schaffung einer gerechten Grundlage voraus.

 

Ein christliches Versöhnlertum - im Gegensatz zur Friedensstiftung - handelt, als ob es mit der Entstehung einer großen, einheitlichen Weltfamilie rechne, wo jeder (auf Grund einer Bekehrung oder einer Geistestaufe) jedem hilft und sämtliche Klassenunterschiede verschwinden. Man vergißt aber dabei, daß Menschen im allgemeinen nicht über den Schatten des Eigeninteresses springen können. Eine bessere Welt wird nicht ohne Vorarbeit entstehen. Da Klassen noch eine Welle auf der Welt bestehen werden, müssen Christen eine wählen. Hier meinen u.a. linke Evangelikale, das Evangelium stelle sich eindeutig auf die Seite der Armen und Niedrigsten (z.B. in den Seligpreisungen).

 

Manche unserer Brüder und Schwestern, auch wenn es um wichtige inhaltliche Auseinandersetzungen geht, entgegen: „Aber jeder sündigt, keiner ist vollkommen“, oder: „Sie haben es doch gut gemeint.“ Beschwichtigungen bestehender Sünde erschweren es sehr, unsere Fehler klar ans Tageslicht zu bringen, damit wir daraus lernen können.

 

Vielleicht ist es die billige Gnade (sprich Kritikverzicht), die unseren Gemeindebetrieb in Bewegung hält. Wir wagen es nicht, die schwierigen, belastenden Probleme unseres Gemeindelebens anzuschneiden, da dies den „christlichen Frieden“ stören würde. Wir wagen es nicht, aus der Vergebung Christi zu leben. Das schließt die Möglichkeit theologischen und geistlichen Wachstums aus.

 

Teure Gnade heißt, daß Ich mindestens für meinen armen Freund Gerechtigkeit fordere. Einer, für den es relativ bequem ist, kann es sich leisten, die zweite Meile zu gehen. Dieses sollte er seinem unterdrückten Mitmenschen aber nicht abverlangen. Unterdrücker haben es immer gern gehört, wenn Diener der Kirche ihre Schützlinge zum Vollzug der zweiten Meile aufgefordert haben.

 

Die Gerechtigkeit ist eine Vorstufe zur Gnadengewährung (Römer 13,7) im politischen Handeln. Ich fordere, daß der Unterdrückte die Last nur dann eine zweite Meile schleppt, wenn der Unterdrücker sie dann die nächsten zwei schleppt. Der Unterdrückte ist dem Unterdrücker mindestens gleichwertig. Die teure Gnade fordert, daß ich den Unterdrücker mit seiner Schuld und Ausbeutung konfrontiere.

 

Wortführer zum Thema Gerechtigkeit reden viel von der Notwendigkeit der Selbstwürde, der gegenseitigen Achtung der Menschen. Hier können Christen wesentliches von "zornigen, jungen Männern“ wie Franz Fanon, Ché, W. E. B. DuBois und Malcolm X lernen. Es ist wichtig, daß den Machtlosen Selbstbewußtsein beigebracht wird. Das hat den Afro-Amerikaner Malcolm X aus seinem geistigen und politischen Schlaf gerissen. Gewiß, teure Gnade verzehrt Menschen.

 

4. Parteinahme statt Neutralität

Vertikale Christen stellen den Anspruch, ein unbeflecktes, zeitloses, apolitisches Evangelium zu verkünden. Weil ihr Evangeliumsverständnis „unmittelbar" der Schrift entnommen bzw. von Gott eingegeben werden, meinen die radikalsten Verfechter dieser Richtung, auf Theologie (Bibelauslegung) sowie die Auseinandersetzung mit Christen anderer Überzeugung verzichten zu können.

 

Das sich aus dem politischen Spiel Heraushalten, wird von vielen Christen als besonders christlich angesehen. Unsere geistliche Existenz möchten wir mit derartigen Angelegenheiten verschonen. Z.Z. ist kaum jemand mehr von der eigenen politischen Neutralität überzeugt als die mächtigen, politisch-konservativen kirchlichen „Establishments" der USA. Westeuropäische „Ostmissionen" und Forschungszentren (die rechtsradikalen  Organisationen Richard Wurmbrands sind eine mögliche Ausnahme) halten sich ebenfalls für politisch neutral.

 

Die harte Wahrheit heißt, daß es kein Evangelium jenseits der politischen Auseinandersetzungen gibt. Das ,,neutrale" Evangelium ist eben nicht neutral. Wer meint, dies außer Acht lassen zu können, begibt sich unwiderstehlich auf die konservative, reaktionäre Seite. Eine Weigerung, sich politisch zu äußern, ist für sich auch ein klares, politisches Bekenntnis. Nach Gustav Heinemann fördert der Enthaltsame nur das, was schon im Gange ist.

 

Das eigentliche Evangelium unterstützt die Kleinen und greift den Machtmißbrauch der Mächtigen an (Lukas 1, 51-53). Matt. 25,40 kann auch heißen: „Was ihr dem Geringsten politisch und gesellschaftlich getan habt . . . .“ Ein sowohl vertikales wie horizontales Evangelium wünscht sich einen „proletarischen Einschlag".

 

Der Befreiungstheologe José Bonlno schrieb: „Chrlsten sind durchaus bereit, den kalten Krieg mit marxistischen Parteien zu beenden und in den Dialog mit ihnen zu treten. Selten sind sie aber bereit, den Dialog abzuschließen und zur Teilnahme an einer revolutionären  Bewegung überzugehen.“ (José Bonino, „Christians and Marxists“, Eerdmanns, Grand Rapids /USA, 1976, S. 121) Vielleicht sind wir tatsächlich zu "tolerant und neutral“, so daß wir für die Sache der positiven Weltveränderung unbrauchbar wirken.

 

Schluß folgt

 

William Yoder,

Lodz/Polen

 

Erschienen in „Die-Kirche“, Berlin/DDR, am 9.September 1979, 2.841 Wörter.