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Horizontaler und vertikaler Glaube, Teil II

Ein Aufforderung zum Gespräch (Schluß)

 

Manche von uns gehen davon aus, der Christ müsse immer in der Opposition stehen, er solle eine "rein prophetische" Stellung einnehmen. Dieses Verständnis hätte am Beispiel Kubas gezeigt, daß sich der Christ gemeinsam mit den Revolutionären gegen Batista zu stellen hatte, dann aber unmittelbar nach der Machtergreifung durch die Revolutionäre die Seiten zu wechseln und gegenüber der revolutionären Bewegung in die Opposition zu treten hatte.

 

Die Besorgnis um die Benachteiligen ist ein Hauptgegenstand unserer Theologie, jedoch umfaßt diese noch weitere Elemente. Fordert nicht der Aufbau einer besseren Welt eine noch verbindlichere Mitwirkung der Christen? Muß das Recht, Kritik zu äußern, eine prophetische Haltung einzunehmen, nicht erst von uns verdient werden? Bin ich berechtigt, auch im übertragenen Sinne, den schlechten Zustand meines Wohnbezirkes zu kritisieren, wenn ich mich vor dem freiwilligen Arbeitseinsatz gedrückt habe?

 

5. Vorbeugung sowohl wie Caritas

Im karitativen Dienen stehen Christen anderen Gesellschaftsgruppierungen nicht nach. Wie der "Gute Samariter" sind wir am ehesten darin geübt, den beraubten Reisenden in die nächste Herberge zu bringen. Wichtig ist aber nicht nur, daß man die Wunden verbindet, sondern auch, daß die Räuber aus der Wüste gejagt werden (Ideal wäre natürlich, wenn sich die Räuber in Samariter bekehrten; manchmal muß aber gejagt werden).

 

Dienen im Sinne einer Vorbeugung setzt eine verzehrende, verbrauchende Beschäftigung mit unserer heutigen Welt voraus. Christliche Vorbeugungsstrategien werden nicht über Nacht erträumt. Ihre Entstehung setzt voraus, daß sich Christen ausführlich auf Gespräche mit gesellschaftlich progressiven Kreisen einlassen.

 

In der Frage nach vorbeugenden Handlungen (z.B. Bonhoeffer, 1944) taucht die schwierige Frage der Gewaltanwendung auf. Meines Erachtens besteht die wichtigste Frage nicht darin, ob ich jemals gezwungen werden darf, persönlich in irgendeiner Armee zu dienen. Wichtiger ist es, daß ich konsequent für den Frieden arbeite, damit die, welche in Sachen Kriegsführung wenig Gewissensbisse haben, keine Chance zum Zuschlagen erhalten.

 

6. Einfachheit statt Komplexität

Während wir noch versuchen, den Berg der Konsumfreuden zu erklimmen, sind u.a. die radikalen Christen Nord- und Südamerikas schon sehr nüchtern geworden. Sie rechnen nicht mehr damit, daß eine Sättigung der Technisierung der "entwickelten Welt" der Menschheit das irdische Hell bescheren wird. Am Beispiel von Japan oder Westeuropa kann bestätigt werden, daß, nachdem eine gewisse Schwelle überschritten wurde, technologische Raffinessen den Bürgern mehr schadeten als halfen.

 

Die Ernüchterten suchen nun nach Lebenssinn im Einfachen, statt im Komplizierten. Die Wahrung der Natur steht wieder hoch im Kurs. Statt weiterhin glücksversprechende Gegenstände anzusammeln, versucht man zu entrümpeln. Statt die exquisiten Platten der Profimusikanten aufzukaufen, holt man die verstaubte Gitarre aus dem Schrank und lädt einen Freund hinzu. Man teilt den Eigenbesitz und ist bemüht, in der Gemeinschaft mit anderen zu leben. In der Kommunalpolitik setzt man sich für die Verbesserung des öffentlichen Verkehrsnetzes zu Lasten des Privatautos ein.

 

Die praktischen Vorschläge zur vereinfachten und sinnvolleren Lebensgestaltung sind endlos. Dabei sollte aber beachtet werden, daß man nicht einem Rousseau-artigen Romantizismus (Verherrlichung des Primitiven) verfällt. Diese Gefahr ist übrigens auch bei wiedererwachten, nordamerikanischen Indianern durchaus vorhanden. Die Uhr soll nicht in jeder Hinsicht zurückgestellt werden. Jedenfalls ist eine konkrete Identifizierung mit den Besitzlosen wichtig, denn man sollte um das Überleben der Menschheit besorgt sein.

 

7. Problematik einer radikalen Theologie

Eine Hauptproblematik besteht darin, daß die Armen der Welt (in materieller oder geistiger Hinsicht), in deren Interesse wir zu handeln gedenken, nicht gleich mit unserer Theologie übereinstimmen. Denn werfen wir einen Blick auf solche Christen in der ganzen Welt, so stellen wir fest: Sie lieben das auf Frieden und Freude gerichtete Evangelium großbürgerlichen Ursprungs.

 

Dick Gregory, afro-amerikanischer Unterhaltungskünstler und Prophet, sagte in einer Rede vor Indianern in Washington: „Alles, was Weiße mögen, mögen Schwarze. Alles, was Weiße  hassen, hassen auch Schwarze. Darum sind 98 Prozent der im Jahre 1977 umgebrachten Schwarzen von Schwarzen ermordet worden. Wir Schwarzen hassen dieselben, die die Weißen hassen: Neger!“ (Zeitschrift „Akwesasne Notes“, Mohawk Nation/USA, Ausgabe Sommer 1978, S. 11) Die große Mehrheit der Afro-Amerikaner eifert mittels Anschaffung von Straßenkreuzern und teurer Kleidung danach, wie ihre weißen Unterdrücker zu werden.

 

Eine Mexikanerin sagte mir, die Bewohner der Slums von Mexiko-Stadt mögen vor allem nordamerikanische Fernsehsendungen und Coca-Cola. Statt daß der Besitzlose den Kuchen seines Ausbeuters verwirft, erhofft er sich ein größeres Stück desselben.

 

Hier kann ich nur entgegen, daß eine radikale Theologie sehr wohl im Interesse der Armen liegt; das bedeutet aber nicht, daß sie gleich von ihnen akzeptiert wird. Revolutionäre Gedanken, was auch jeder lateinamerikanische Marxist (wie seiner Zeit Guevara in Bolivien) bestätigen kann, entspringen nicht automatisch den Gehirnen der unterdrückten Klassen. Eine revolutionäre Gesinnung muß eben gesät und gepflegt werden.

 

Das sind keine neuen Erkenntnisse. Aber keine revolutionäre Bewegung ist jemals von den Armen selbst eingeleitet worden. Der Fabrikbesitzer Engels und der Journalist Marx, der Großgrundbesitzerdsohn Castro und der Pfarrersohn M.L. King - keiner von Ihnen war Proletarier. Jedoch haben diese Menschen die Interessen der Unterdrückten vertreten. Entscheidend ist also nicht die Herkunft eines Menschen, sondern die Interessen, die er vertritt.

 

Ähnliches erhoffe ich mir von einer radikalen Bewegung, die versucht, den Pietismus mit einem positiven sozialen Aktivismus zu vereinen. Sie wird nicht zuerst von den Unterdrückten angenommen werden, muß aber die Interessen dieser Menschen vertreten. Die Gefahr einer Bevormundung ist dabei gegeben.

 

Eine weitere Problematik ist der Einwand der Quellen. Man hört stets aus konservativen Kreisen, das kirchliche Programm müsse von der Bibel und nicht von der Gesellschaft bestimmt werden. Mir wird sicherlich vorgeworfen werden, ich versuchte ein weltliches Programm in eine christliche Schablone zu pressen.

 

Ich halte diese Argumentationsweise für falsch. Denn gleich woher großartige Ideen kommen, wenn sie "richtig“ sind, dann sind sie auch christlich. Ein radikaler Christ, Tom Sklnner, behauptet: „Alle Wahrheiten sind Gottes Wahrheiten, egal wer sie ausspricht.“ (Tom Skinner, u.a. Ansprache in Harrisonburg/USA, April 1971). Im Alten Testament hat sich Gott mehrmals durch den Mund Nichtgläubiger an sein Volk gewandt (z.B. 1. Könige 13).

 

Dem Ideal gemäß hat man schon immer geglaubt, der Christ lebe zwar in der Welt (ein nicht voll zutreffendes Wort für Bosheit), sei aber nicht von ihrer Substanz.

 

Christen haben diese Welt dringend nötig, denn nur durch sie weiden sie erfahren können, wie das göttliche Heil in der heutigen Situation auszulegen ist. Das kann nicht ausschließlich in der Stille erfahren werden. Auf Grund der jetzigen Sachlage müssen unsere vertikal-bezogenen Kreise zugeben, daß sie leider nicht imstande sind, anderen Gesellschaftsgruppierungen als sinnvolle Gesprächspartner zu dienen. Uns fehlt das Gehör und der Austausch mit den verschiedensten gesellschaftlichen Kreisen im In- und Ausland. Z.Z. gebraucht Gott meist andere Kreise, um seine Gedanken ins Leben zu rufen. Es kann bloß gehofft werden, daß wir bereit sind, diese wichtigen Impulse zu Herzen zu nehmen. Z.B. beschäftigen sich manche horizontalen kirchlichen Kreise mit Themen wie Rassismus und Kolonialismus. Es kann wohl mit einiger Sicherheit behauptet werden, daß auch solche Anliegen keinen kirchlichen Gruppierungen entsprungen sind.

 

Wir Christen müssen uns davor hüten, mit zu großer Sicherheit davon auszugehen, daß wir die „Stellvertreter Gottes auf Erden“ sind. Das sind wir häufig leider nur theoretisch. Gott spricht auch durch andere, und die Meinungen Andersdenkender sind deshalb sehr ernst zu nehmen.

 

Übrigens werde ich mich über jeglichen sachlichen Kommentar zum Inhalt dieses Artikels freuen. Es ist wichtig, daß unsere beiden kirchlichen Flügel wieder miteinander ins Gespräch kommen.

 

William Yoder
Lodz/Polen

 

Erschienen in „Die Kirche“, Berlin/DDR, am 16. September 1979, 1.178 Wörter