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Was steckt hinter den „Berliner Bekenntnistagen?

Charismatiker rufen

 

Volkhard Spitzers „Christliches Zentrum Berlin" (CZB) sowie seine „Christliche Tagungs- und Kongreß GmbH" (CTK) bereiten energisch die für Pfingsten angesetzte charismatische Großveranstaltung „Olympia '81" vor. In den letzten Monaten waren jedoch aus beinahe sämtlichen Berliner Kirchen nur Distanzierungen von diesem, auch „Berliner Bekenntnistage" genannten Kongreß zu hören: Von Bischof Martin Kruse für die Evangelische Kirche Berlln-Brandenburg und vom katholischen Bischöflichen Ordinariat Berlin. Auch evangelische Gruppen wie die „Evangelische Allianz", die „Evangelische Sammlung" und die Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium" nehmen Abstand.

 

Bedingt wohl durch die fast ununterbrochene Ablehnungsstimmung haben .nicht alle Publizisten und Theologen die Spielregeln eines fairen, christlichen Umgangs eingehalten. Darum fühlte sich der in Hamburg ansässige Verein „Charismatische Gemeinde-Erneuerung in der evangelischen Kirche" in einem Rundschreiben vom April 1981 veranlaßt, ein ermahnendes Wort zu sprechen: „Was würdige Männer gelegentlich an Verhaltensweisen an den Tag legen, ist nicht nur schmerzlich im Blick auf die verweigerte Gemeinschaft in Christus, sondern liegt mitunter auch auffällig jenseits des sonstigen Niveaus derselben Theologen . . . . Nichts gegen solide theologische Anfragen gegenüber Lehraussagen innerhalb der Charismatischen Erneuerung; aber alles gegen unqualifizierte Horrorschriften, die jedes Sachgespräch abblocken.“ Informationen sachlichen Gehalts bleiben also gefragt.

 

Die Pfingstkirche

Die Pfingstbewegung genießt das geschichtliche Vorrecht, eine Laienbewegung der Ungebildeten, der Armen und Gedemütigten zu sein. Ihre theologischen Eigenarten sind in ihrer Betonung einer Geistestaufe (eine Erfüllung mit dem Heiligen Geist, die getrennt von der Bekehrung geschieht), Krankenheilungen und des Zungenredens (siehe 1. Korinther 12 u. 14) zu finden. Pfingstkirchen feiern ausgesprochen gefühlsbetonte Gottesdienste und vertreten meist eine streng fundamentalistische Theologie.

 

Die moderne Pfingstbewegung entstand etwa 1901 u. a. im amerikanischen Bundesstaat Kansas. Sie verbreitete sich wie ein Lauffeuer; aus früheren Mitgliedern älterer Kirchen bestehende Pfingstgemeinden sprangen aus dem Boden. In Kürze drangen die Wellen der. Pfingstbewegung sogar bis Deutschland vor. Sie führten schon 1910 zur berühmt-berüchtigten "Berliner Erklärung“, in der sich evangelische Theologen vehement gegen den „pfingstlerischen Schwarmgeist" wandten.

 

Die Pfingstbewegung ist stark dezentralisiert. In den USA teilen sich 1,4 Millionen Pfingstler auf ungefähr 15 selbständige Pfingstkirchen auf; die größten von ihnen sind die „Assemblies of God"-Kirchen. Die Pfingstkirchen in bestimmten Entwicklungsländern wachsen am allerschnellsten. Inzwischen wird die Mitgliederzahl der brasilianischen Pfingstkirchen auf 4 bis 5 Millionen geschätzt; jene in Indonesien und Chile jeweils auf eine Million. Sogar 80 Prozent aller chilenischen Protestanten nennen sich Pfingstler. Die größte europäische Pfingstkirche befindet sich in Italien und zählt 200 000 Mitglieder.

 

Die charismatische Bewegung

Zwischen dem Pfingstlertum traditioneller Prägung und der charismatischen (oder neupfingstlerischen) Bewegung muß unterschieden werden. Die charismatische Erneuerungsbewegung formierte sich in den USA etwa 1960, als die spirituellen Anliegen der Pfingstler auf die Großkirchen übergriffen. Die charismatische Erneuerung kann als eine weltoffene, ökumenische und bürgerliche Version des einst verpönten proletarischen Pfingstlertums verstanden werden. Viele erfolgreiche Unternehmer und Militärs gehören zu den Initiatoren dieser Bewegung. Sie besitzt eine viel größere theologische Vielfalt als das traditionelle Pfingstlertum.

Die charismatische Erneuerung hat sich bisher allen Bestrebungen widersetzt, neue charismatische Denominationen ins Leben zu rufen; vielmehr möchte sie zur geistlichen Belebung der bestehenden Konfessionen beitragen. Man bleibt infolgedessen gleichzeitig Baptist und Charismatiker oder Katholik und Charismatiker. Zwecks Assimilierung ersetzt der charismatische Paderborner Priester Heribert Mühlen die Formel „Geistestaufe" mit "Firmerneuerung". Im krassen Gegensatz zum sich teils sektiererisch abgrenzenden Pfingstlertums ist sein ökumenischer Sproß nach Meinung des englischen Anglikaners Michael Harper „der stärkste verbindende Faktor der heutigen Christenheit". Die Intensität und Wärme der Begegnung von Protestanten und Katholiken im Rahmen dieser Bewegung ist ohnegleichen im zeitgenössischen Christentum.

 

Der Charismatiker Harper nennt selbst die Hauptgefahren seiner Bewegung:

1. Antiintellektualismus und Fundamentalismus. „Die charismatische Erneuerung besteht nicht aus nichtdenkenden, auf einer Welle emotioneller Euphorie reitenden Narren, aber diese Gefahr ist dennoch vorhanden."

2. Pietismus: „Ein Rückzug aus der Gesellschaft, um ,geistlicheren' Anliegen nachgehen zu können."

3. „Elitarismus gefährdet Charismatiker dann, wenn sie sich über andere Christen erheben möchten."

 

Volkhard Spitzer und das „Christliche Zentrum Berlin“

Als Charismatiker legt Spitzer großen Wert auf eine Wirkung innerhalb der bestehenden Volkskirchen. Seine Gemeinde (das CZB) gehört keiner Pfingstkirche an, da dies ihren Zugang zu volkskirchlichen Kreisen beschneiden würde. Andererseits distanziert sich ein Teil der Pfingstkirche vom charismatisch-geprägten CZB. Spitzer selbst ist Methodist.

 

Bischof Kruse bemühte sich in seinem Schreiben an die Gemeinden vom März dieses Jahres zwischen der allgemeinen charismatischen Bewegung und der CTK zu differenzieren: bei gleichzeitiger Öffnung gegenüber der Bewegung distanziert er sich von den „Bekenntnistagen“. Wie innerhalb der Pfingstkirche, ist es wohl ebenfalls berechtigt, innerhalb der charismatischen Erneuerung von einer "nüchternen und weniger nüchternen" Strömung zu sprechen. Mit dem Etikett „weniger nüchtern“ versehe ich jene Gruppen, die sich weigern, ihre Positionen durch ernsthafte theologische Arbeit zu untermauern; eher fundieren sie ihr Verhalten mit unüberprüfbaren geistlichen Einzelerlebnissen. Ihre Strukturen sind autoritär und drehen sich um dominierende Einzelpersonen. Sie übertragen unverändert die fragwürdigen Sammel­ und Selbstdarstellungsmethoden nordamerikanischer Fernsehkirchen auf die restliche Welt. In politischen Fragen sind sie besonders unbewandt. Die „Wenignüchternen“ befliegen die Welt und landen nicht selten auf charismatischen Großkundgebungen. Die Bedeutung der Nach- und Kleinarbeit wird dabei meistens unterschätzt. Werbung scheint ihnen wichtiger als Inhalt.

 

Spitzer selbst steht in enger Verbindung mit den weniger nüchternen Fernsehkirchen der USA. Auftritte von namhaften „nüchternen“ deutschen Charismatikern finden auf den „Berliner Bekenntnistagen“ nicht statt. Ich denke hierbei an die Evangelischen Arnold Bittlinger und Wilhard Becker, den Katholiken Heribert Mühlen oder den belgischen Kardinal Suemens.

 

Amerikanische Teilnehmer

1. Demos Shakarian, Inhaber eines Milchwirtschaftsbetriebes, rief 1951 den erfolgsorientierten Verein „Geschäftsleute des vollen Evangeliums“ ins Leben. Heute besteht er aus mehr als 700 Filialen in Nordamerika und ist in 52 Ländern dar Welt tätig. In den siebziger Jahren hat diese Organisation mehrere „Luftbrücken" nach fernen Ländern zugunsten charismatischer Großveranstaltungen geschlagen. Sie ist an der Durchführung der „Bekenntnistage“ beteiligt und stellt einige Redner. Charismatiker sind nicht für ihren spärlichen Umgang mit finanziellen Mitteln bekannt und werten den Besitz üppiger Geldsummen meist als Beweis göttlichen Gefallens.

 

2. Der gebürtige Südafrikaner und Mittelschulabsolvent David du Plessis, auch „Mr. Pentecost“ genannt, zählt zweifellos zu den interessantesten kirchlichen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Er und Shakarian haben der nichtpfingstlerischen Christenheit und insbesondere der katholischen Kirche die charismatische Erneuerung erschlossen.

 

3.  Pat Robertson, Baptlst und Rechtsanwalt, ist Präsident des größten christlichen Fernsehsenders der USA, des „Christian Broadcasting Network". Dieser Sender, der 1961 aus dem Nichts entstand, verfügt heute über ein Jahresbudget von 70 Millionen Dollar. (Billy Graham nimmt jährlich die Hälfte davon ein.) Seine Sendungen werden mittels Satelliten in mindestens 33 weiteren Ländern empfangen. Amerikanische „Fernsehkirchen“ besitzen höchstens eine Ortsgemeinde und ernähren sich ausschließlich von den Spendenaufrufen und Werbespots, die während ihrer meist Unterhaltungssendungen ausgestrahlt werden.

 

Volkhard Spitzer ist durchaus an einer Ausweitung christlicher Fernsehprogramme im deutschen Medienbereich interessiert. Er selbst ist schon mehrmals in Jim Bakkers „Praise the Lord“-Club Sendung erschienen. Ben Armstrong, Präsident der Organisation religiöser Sender und „Hauptguru“ der „Fernsehkirchen“, wird ebenfalls nach Berlin kommen. Robertsons CBN wirbt im amerikanischen Fernsehen für die „Bekenntnistage“ und soll voraussichtlich die hiesigen Veranstaltungen in die USA übertragen.

 

4. Hubert Mltchell, G. L. Johnson und John Hurston veranstalten Seminare zum Thema Gemeindewachstum. Die Strategien dieses „Church Growth Movement" verheißen sprungfertige Wachstumsraten. Diese Bewegung umfaßt Evangelikale sowohl wie Charismatiker, trotzdem ist sie nicht unumstritten. Es wird ihr unterstellt, sie steigere zahlenmäßiges Wachstum auf Kosten des prophetischen Gehalts des Evangeliums. Sie fordert die Konstituierung von „monolithischen“ Gemeinden (aus einer Rasse oder Subkultur bestehend), da solche Gemeinden die besten Wachstumsaussichten haben.

 

5. Weitere Redner sind u. a. Loren Cunningham, Leiter der Missionsgesellschaft „Jugend mit einer Mission“. Diese äußerst einsatzfreudige Mission führt kurzfristige Missionseinsätze auf dem gesamten Globus durch. Nicky Cruz, Puertorikaner und ehemaliger New Yorker Straßengangster, wurde durch das von David Wilkerson veröffentlichte Buch „Das Kreuz und die Messerhelden“ bekannt. Arthur Blessitt ist ein kreuzschleppender Wanderprediger und waschechter Repräsentant der einstmaligen Jesus-People-Bewegung Der Anglikaner Charles Duke verbrachte 1972 72 Stunden auf der Mondoberfläche. Er ist heute Brigadegeneral der U.S.-Luftwaffe.

 

Amerikanische Charismatiker stellen rasch fest, es sei mit den Zukunftsaussichten des. westdeutschen Kirchenschiffs nicht sonderlich gut bestellt. Neue geistliche Impulse, welche die „Bekenntnistage" gerne liefern möchten, sind zweifellos nötig. Gleichwohl ist die Frage angebracht, ob angesichts der ernsthaften Bedenken fast aller Berliner Kirchen die "Olympia '81" nicht hätte verschoben werden sollen. Nur eine Berücksichtigung der Vorstellungen und Wünsche anderer Kirchen könnte das „Christliche Zentrum Berlin" glaubwürdig dem Flügel der „weniger nüchternen“ Charismatiker entrücken. Da eine Vertagung nicht mehr in Frage kommt, ist der einzelne Berliner Christ laut des erwähnten bischöflichen Gemeindebriefs aufgefordert, den sinnvollen Austausch mit den Besuchern dieser Pfingstveranstaltungen zu suchen.

 

W.E. Yoder

Berlin-West, 17. Mai 1981

 

Erschienen im „Berliner Sonntagsblatt“ am 7. Juni 1981, 1.380 Wörter

 

Anmerkungen von August 2022: Die „Berliner Bekenntnistage“ fanden tatsächlich um den 7. Juni 1981 herum statt. Ein Ergebnis war eine Foto-Dokumentation mit dem Namen „Jesus Christus, Hoffnung für die 80er Jahre“.

 

Der Berliner Pfingstler Volkhard Spitzer (geb. 1943) ist noch heute als Prediger tätig.

Martin Kruse (1929-2022) war von 1977 bis 1994 evangelischer Bischof von Berlin-Brandenburg. Von 1985 bis 1991 war er außerdem Ratsvorsitzender der gesamten EKD.

Heribert Mühlen (1927-2006) war ein römisch-katholischer Theologe. Er lehrte von 1964 bis 1997 an der „Theologischen Fakultät Paderborn“.

Michael Claude Harper (1931-2010) war ein verheirateter anglikanischer Priester in Großbritannien. Im Jahre 1995 wechselte er zur Antiochenischen Orthodoxie; der anglikanischen Kirche warf er dabei theologische Laxheit – und die Ordination von Frauen – vor. 

Der US-Amerikaner armenischer Herkunft Demos Shakarian (1913-1993) war Erbe eines Molkereikonzerns in Downey/Kalifornien und Gründer der „Internationalen Vereinigung der Geschäftsleute des vollen Evangeliums“, die 1951 in Los Angeles ins Leben gerufen wurde.

David Johannes du Plessis (1905-1987) war ein südafrikanischer Pfingstprediger, der um 1948 herum in die USA übersiedelte. Obwohl er in rein pfingstlerischen Kreisen aufwuchs, wurde er ein Hauptverfechter des ökumenischen Anliegens innerhalb der charismatischen Bewegung.

Der südbaptistische Medienmogul aus Virginia, Marion Gordon „Pat“ Robertson (geb, 1930), gründete 1960 die „Christian Broadcasting Network“ und später auch die Sendung „700 Club“.

James Orsen Bakker (geb. 1940) führte zwischen 1974 und 1987 die Sendung „The PTL Club“. Des Postbetrugs überführt, verbrachte er die Jahre 1989-94 im Gefängnis. Danach nahm er im Bundesstaat Missouri seinen Pastorendienst wieder auf und gründete 2003 die „Jim Bakker Show“. Trotz Schlaganfalls ist er 2022 weiterhin aktiv.

Loren Cunningham (geb. 1935), gründete 1960 die bekannte Missionsgesellschaft „Jugend mit einer Mission“. Er lebt mit seiner Frau in Kona/Hawaii.

Arthur Blessitt (geb. 1940) ist wohl weiterhin als Reiseevangelist tätig.

Der Puertorikaner Nicky Cruz (geb. 1938) hat nach seinem Dienst bei „Teen Challenge“ die „Nicky Cruz Outreach“ gegründet. Er hat Autobiografien veröffentlicht in 1968 („Run Baby Run“) und 2005. .

Der US-Astronaut Charles Duke (geb. 1935) spazierte 1972 auf dem Mond. Im Jahre 2020 erhielt er die Auszeichnung „Texaner des Jahres“.