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Keston College ist um die Sachlichkeit bemüht

Eine Buchbesprechung

 

Williamson, Roger; East Germany: The Federation of Protestant Churches” in “Religion in Communist Lands”, Keston College, Keston, Kent, England

 

Im Jahre 1970 gründete der anglikanische Pfarrer und Osteuropa-Kenner Michael Bourdeaux das "Centre for the Study of Religion and Communism“. Acht Jahre später wurde diese Institution in "Keston College" umbenannt. Dies ist wohl das renommierteste jener Forschungszentren, die sich der Publizierung und Auswertung von Konfliktfällen zwischen religiösen Gemeinschaften und marxistischen Regierungen in den sozialistischen Staaten Osteuropas widmen.

 

Das von Eugen Voss gegründete Zürcher Forschungszentrum "Glaube in der 2. Welt" unterhält enge Beziehungen nach Keston; Voss selbst gehört zum Beirat des Keston College. Noch entschiedener als Keston prangert Glaube in der 2. Welt Mißstände im Verhalten sozialistischer Staaten gegenüber ihren gläubigen Bürgern an. In diesen Zentren findet der umgekehrte Fall - die Erörterung der von Christen verursachten Mißstände - wenig Notiz. Keston College bemüht sich um die akademische Sachlichkeit und entgeht somit der unpräzisen Polemik der teils mit ihm befreundeten evangelikalen "Ostmissionen".

 

Keston unterhält ein umfangreiches Archiv und gibt ein zweimal wöchentliches Nachrichtenblatt "Keston News Service" sowie die Quartalszeitschrift "Religion in Communist Lands" heraus. Die Veröffentlichungen des Keston College beschäftigen sich überwiegend doch keineswegs ausschließlich mit religiösen Ereignissen in der Sowjetunion. Die im Frühling 1981 erscheinende Nummer von "Religion in Communist Lands" brachte einen zwölfseitigen Beitrag des Theologen Roger Williamson über den Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR. Williamson übrigens schreib seine Promotionsarbeit über die kirchlichen Reaktionen in Ost- und Westdeutschland auf das von der Genfer Ökumene verabschiedete „Programm zur Bekämpfung des Rassismus“.

 

Dieser in „Religion in Communist Lands“ erscheinende Artikel ist ein äußerst kurzer Umriß kirchlicher Geschichte in der DDR seit 1945. Sein Schwerpunkt bilden die Entwicklungen im Kirchen-Staat-Verhältnis während der siebziger Jahre. Williamson erwähnt die Rede Paul Verners 1971, den 6. März 1978, die beiden Selbstverbrennungen von Pfarrern und den Wehrkundeunterricht. Die kritischen Anfragen Heino Falckes an die lebensstandardmäßigen Ansprüche von DDR-Bürgern sowie Christoph Hinz’ Aufteilung der DDR-Kirchengeschichte in drei Phasen werden notiert. Die Beschreibung der fünfziger Jahre ist besonders flüchtig; beispielsweise wird Bischof Otto Dibelius mit keinem Wort erwähnt.

 

Der Verfasser betont, es handle sich hier keineswegs um eine verzweifelnde Kirche; sie habe sich „weder an den Staat verkauft noch sei sie eine Ghettokirche geworden“. Er sieht hilfreiche Parallele zwischen dem Werdegang von britischen und DDR-Kirchen; beide müssen mit dem sich vollziehenden Schrumpfungsprozeß fertig werden. Williamson plädiert für engere Kontakte zwischen DDR- und westlichen Kirchen, damit DDR-Christen „kritische Anfragen an die eingeschlagenen Wege unserer Kirchen stellen können“. Er schreibt außerdem: Kirchenführer „müssen sich in ihren öffentlichen Äußerungen in Acht nehmen, da vieles von dem, was sie sagen, in verzerrter und tendenziöser Weise im Westen publiziert wird. Solche Berichterstattung hilft den Kirchen in der DDR auf keine Weise.“ Die Publizierung solcher Ansichten ist im angelsächsischen Raum keineswegs selbstverständlich und erfüllt mich darum mit einer gewissen Genugtuung.

 

Williamson ist übermäßig optimistisch in seiner recht pauschalen Beurteilung des Gesundheitsstands der DDR-Kirchen sowie etwa der sozialen Leistungen des Staats. Nicht alle kirchlichen Jugendkreise sind „lebhaft“ und „verheißungsvoll“ und die Wartezeiten auf Wohnungen und Zahnärzte sind hierzulande bekannt. Der Verfasser weist Spuren einer Begeisterung mit dem einmaligen Weg und Werden der DDR-Kirche auf; Emotionen, die mir auch keineswegs unbegründet erscheinen.

 

Wegen seiner Kürze birgt dieser Beitrag für den DDR-interessierten Deutschen verständlicherweise keine Neuigkeiten; er kann dennoch dem Ausländer einen schnellen, hilfreichen Überblick vermitteln. Die abschließenden Fußnoten zeigen, daß das Blatt „Kirche im Sozialismus“ auch in Großbritannien gelesen wird.

 

Die Veröffentlichung in dieser Publikation einer relativ wohlwollenden Beurteilung des DDR-Sozialismus sowie des den Anfragen des Sozialismus offenen Weges der DDR-Kirche finde ich begrüßenswert. Die allerletzte Fußnote unterstreicht aber die Tatsache, daß dieser Artikel nur die Meinung seines Verfasser wiedergibt. Der folgende Beitrag über Polen, der von einem ständigen Mitarbeiter des Keston College geschrieben wurden, paßt in ein politisches Schema. Jener Beitrag beschreibt de vermeintlich erbitterten antikommunistischen Kampf einer heroischen und selbstlosen katholischen Volkskirche –Interpretationen, womit viele polnische Protestanten sich gegenwärtig kaum anfreunden könnten. Glücklicherweise ist Williamsons Artikel solchen Gefahren entronnen.

 

Bill Yoder

Berlin, den 4. Sept. 1981

 

Verfaßt für die West-Berliner Zeitschrift „Kirche im Sozialismus“, 636 Wörter

 

Anmerkungen von April 2022: Pfarrer Michael Bourdeaux lebte von 1934 bis 2021. Das Archiv und die Bibliothek des „Keston College“ (bzw. Keston Institute) wurden bereits 2007 nach „Baylor University“ in Waco/Bundesstaat Texas überführt. Das vom Schweizer Pfarrer Eugen Berthold Voss (1926-2021) gegründete Zürcher Institut „Glaube in der 2. Welt“ bzw. „G2W“ besteht noch heute.