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Tschechoslowakische Kirchendelegation besucht erstmals West-Berlin

Die Schwachheit macht uns stark

 

Auf Einladung des Ökumenischen Rates Berlin traf am 17. Mai 1983 erstmalig eine offizielle Delegation tschechoslowakischer protestantischer Kirchenvertreter in West-Berlin ein. Besondere Höhepunkte des Besuches bildeten ein öffentliches Seminar am 19. Mai sowie ein von Bischof Martin Kruse gegebener Empfang am folgenden Tag. Am Pfingstsonntag ging mit Predigten in vier Berliner Gemeinden der Besuch dieser fünfköpfigen Delegation zu Ende.

 

Delegationsleiter Dr. Milan Hajek, Synodalsenior der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder, bewertete das Zustandekommen dieses Besuches als Beleg der trotz Weltkrieg entstandenen Freundschaft zwischen deutschen und tschechoslowakischen Christen„ die er als eine „erstaunliche Gabe Gottes"" bezeichnete. Weitere Delegationsmitglieder waren Professor Dr. Jaroslav Ondra, Direktor des Ökumenischen Instituts der Prager Comeniusfakultät, und Pfarrer Jindrich Halama, Vorsitzender der Bruderunität. Aus dem slowakischen Bratislava kamen Professor Dr. Karol Gabris, Dekan der lutherischen Fakultät, sowie Eugen Mikó, Pfarrer der Reformierten Kirche.

 

Die Haltung der Bußfertigen

Anhand der in Berlin geführten Gespräche scheinen die protestantischen Kirchenleitungen der CSSR in noch viel stärkerem Maße als die teils "aufmüpfige" DDR-Christenheit einer betont bußfertigen Haltung verpflichtet zu sein. Im öffentlichen Seminar führte Professor Ondra aus, die Arbeiterbewegung habe sich "aus rein pragmatischen Gründen" und als Konsequenz des „kirchlichen Paternalismus“ für den Atheismus entschieden. Ehe wir imstande sind, anderen Ratschläge zu erteilen, müssen wir - nach Ondra – „die bittere Suppe der Sünden unserer Väter bis zum Ende auslöffeln". Ein neuer Anfang könne also "nur aus der Buße kommen".

 

Synodalsenior Hajek - in Deutschland würde man ihn als Bischof bezeichnen - betonte, es sei nur derjenige zur politischen Kritik berechtigt, der selbst öffentliche Verantwortung mittrage. Da - gemäß Professor Ondra - die Institution Kirche vom gesellschaftlichen Mitspracherecht "befreit" wurde, könne sie für sich nicht das Recht nehmen, „dem Staat gute und schlechte Noten zu erteilen". Ein Mitspracherecht müsse sich die Kirche noch verdienen. Hingegen könne dennoch der einzelne Christ etwa als Gewerkschaftler schon jetzt ein Mitspracherecht erwerben.

 

Im Seminar wandte sich der Synodalsenior mit Nachdruck gegen gleichmäßig ihre Kritik an Ost und West verteilende "selbstberufene Richter" und "unbeteiligte Besserwisser", die den Anspruch einer "kolossalen Überparteilichkeit" erheben. Da diese bar jeden Geschichtsbewußtseins dahinfristenden Persönlichkeiten - gemeint sind wohl Teile der eigenen kirchlichen Jugend sowie westliche Beobachter - keinerlei Verantwortung trügen, bräuchten sie sich ebenfalls nicht um die Folgen ihres Tuns zu scheren. „Sie reden nur,'' konstatierte er.

 

Dr. Hajek meinte ferner, es sei gerade die "Macht- und Anspruchslosigkeit" der Kirchen, die „ihr Zeugnis wieder glaubhaft“ mache. "Nicht obwohl, sondern weil wir schwach sind, sind wir stark." Gerade unter der säkularisierten Jugend sorge diese Machtlosigkeit für eine zunehmende Anziehungskraft.

 

Professor Gabris vertrat die Ansicht, die Befreiung von institutionellen Belastungen - es bestehen keine konfessionell-diakonischen Einrichtungen mehr - ermögliche das Rückbesinnen auf das ''eigentliche, religiöse Zentrum des Evangeliums".

 

Bemühungen um das Gespräch

Mit der Ausübung öffentlichen Drucks haben diese Kirchenvertreter nichts im Sinne. Stattdessen müsse alles unternommen werden, um den „verdienten Verdacht" von Christen als "Feinde oder potentielle Feinde" abzubauen. Professor Ondra, ein Mitstreiter des verstorbenen Theologen Josef Hromadka, sagte: "Wenn unsere westlichen Brüder meinen, uns dadurch helfen zu können, daß sie uns zu Protesten zwingen, dann kämpfen sie de facto gegen uns.“ In einer derartigen Rolle „funktionieren sie als Bremse" und tragen dafür Sorge, "daß das ideologische Bild, das aus historischen Gründen entstanden ist, immer weiter existiert." Es sei unerträglich, wenn sich westliche Staatsbürger dünken, uns ausschließlich nach dem Grad unserer Oppositionshaltung beurteilen zu können.

 

Ondra bezeichnete es weiter als "Paradoxe", daß Christen gegenwärtig unter einer Art „Denkmalschutz“ stünden. Denn, im Gegensatz zu kirchlich ungebunden Personen, werden Pfarrer bei Gesetzesübertretungen vorerst nur mit dem Entzug der staatlichen Genehmigung zur Ausübung ihres Berufs bestraft: „Bei uns wird niemand verfolgt, nur weil er Christ ist."

 

Das belastete Verhältnis zur katholischen Kirche

Wie ebenfalls im polnischen Protestantismus empfinden die Minderheitskirchen der CSSR die Ablösung des katholisch-monarchistischen Staates durch einen sozialistisch-atheistischen durchaus als eine Befreiung. Mehrmals wies Dekan Gabris darauf hin, daß sich die letzte versuchte Gegenreformation im Zuge des II. Weltkrieges vollzog: Wie in Kroatien, wurde ebenfalls die Slowakei zu jener Zeit von einer katholisch-faschistoiden Regierung geführt. Er meinte kategorisch: "Wir waren noch nie so gleichberechtigt wie jetzt.“ Professor Ondra fügte hinzu, man könne "nicht prinzipiell unzufrieden sein mit der heutigen Lage . . . . Darum sind wir nicht der Meinung, daß wir gegen den Staat zu kämpfen brauchen."

 

Nach Auffassung der Delegation sei die Verschlechterung der Beziehungen zwischen katholischer Kirche und dem sozialistischen Staat auf eine unerfreuliche Politik der im Vatikan residierenden Hierarchie zurückzuführen. Im März vergangenen Jahres (1982) hatte

der polnische Papst die Mitarbeit im staatsnahen Priesterverein "Pacem in terris". untersagt,  da er als politisch galt. Bei der polnischen Gewerkschaft "Solidarnosc" liegt der Fall übrigens genau umgekehrt: da gestattet der Vatikan die Mitarbeit in einem vom Staat verbotenen Organisation.

 

In der CSSR unterliegen alle kirchlichen Ernennungen einer staatlichen Genehmigung. Protestanten solidarisieren sich dennoch keineswegs mit dem bis dato ergebnislosen Konflikt zwischen katholischer Kirche und Staat über die Besetzung vakanter Bischofsstühle. Dem Dr. Hajek kommt dieser Fall wie ein "Investiturstreit“ vor, den er "als Protestant gar nicht verstehen kann". Im Gegensatz zur katholischen Kirche nehmen Protestanten alle staatlichen Entscheidungen hin und verzichten bewußt auf die Durchführung nichtgenehmigter Handlungen. Obwohl es über die Besetzung von Pfarrstellen auch zu Meinungsverschiedenheiten mit Protestanten kommt, betonte der Synodalsenior, daß man am Verhandlungstisch verharre, „weil wir zu einer Vereinbarung kommen müssen".

 

Friedensarbeit

Gemäß Dekan Gabris bleibt die in West-Berliner Gemeinden durchaus umstrittene

"Christliche Friedenskonferenz" "ein wichtiger Bestandteil der Arbeit unserer Kirchen". „Weil - wie Dr. Hajek ausführte - viele Gruppen ganz unproblematisch westliche Standpunkte vertreten“, sei es nur zu begrüßen, daß auch jemand bemüht ist, "östliche Standpunkte innerhalb der Weltökumene zu interpretieren". Professor Ondra wehrte sich dagegen, die CFK als "verlängerten Arm der sowjetischen Außenpolitik“ bezeichnen zu lassen. Verwenden Westkirchen "die gleichen Normen für alle, oder verändern sie die Normen, wenn es ihnen paßt? Wie viele Invasionen sind denn schon vor Afghanistan passiert?"

 

Obwohl die Delegation den christlichen Pazifismus keineswegs als "Härasie" bezeichnen wollte, sah sie "kleine, konkrete und realisierbare Schritte" zur Sicherung des Weltfriedens als wesentlich entscheidender. Professor Gabris meinte, Pazifismus habe "nur dort einen Sinn, wo die Kirche militarisiert sei. Nach Dr. Hajek könne man "schwerlich von einer  Militarisierung unseres öffentlichen Lebens  sprechen". Auf alle Fälle müsse aber die Durchführung des Nachrüstungsbeschlusses verhindert werden, denn in einem solchen Falle stünden wohl erstmalig sowjetische Atomraketen auf tschechoslowakischem Boden. Da die Entspannung im internen Verhältnis Staat-Kirche stets von einer Aufbesserung der Großwetterlage zwischen Ost und West abhängig sei, wünscht sich Professor Ondra verständlicherweise eine neue Verminderung internationaler Spannungen.

 

Bill Yoder

Berlin-West, den 5. Juni 1983

 

Eine Kurzfassung dieses Beitrags ist am im Evangelischen Pressedienst erschienen. Siehe Beitrag auf dieser Webseite unter derselben Rubrik, 1.068 Wörter.

 

Anmerkungen von August 2022: Martin Kruse (1929-2022) war von 1977 bis 1994 evangelischer Bischof von Berlin-Brandenburg. Von 1985 bis 1991 war er außerdem Ratsvorsitzender der gesamten EKD.

Der Lutheraner Josef Hromadka (1889-1969) war Hauptgründer der „Christlichen Friedenskonferenz“ in Prag im Jahre 1958. Ab etwa 1948 bis zu seinem Tode diente er als Dekan der Comenius-Fakultät; die Jahre 1939-47 hatte er im Exil verbracht, vor allem in den USA. Den Einmarsch der sowjetischen Truppen 1968 bezeichnete er als „die größte Tragödie meines Lebens“.

Jaroslav Ondra (1925-2000) war 1958 ein Mitbegründer der „Christlichen Friedenskonferenz“. In den Jahren 1959-69 fungierte er als deren zweiter Generalsekretär. Ab 1949 war er ein Pfarrer der Böhmischen Brüder.

Karol Gabris (1919-1998) war Dekan und Professor der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Comenius-Universität in Bratislava.