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Alternative Gedanken zur DDR-Friedensbewegung

Friedensarbeit kein Monopol der Christen

 

Bill Yoder, ein freischaffender mennonitischer Journalist aus den USA, ist seit zehn Jahren ein Beobachter und Besucher der DDR-Kirchen. Die Jahre 1978-80 verbrachte er in Polen.                 

 

Die im Rahmen der evangelischen Kirchen der DDR stattfindende Erörterung der Friedensproblematik ist lebenswichtig für die Einwohner Mitteleuropas. Auf Grund der fehlenden Vorbelastung sind die unabhängigen Friedensengagierten der DDR am ehesten imstande, den Westen von der Friedenssehnsucht der DDR-Bevölkerung zu überzeugen. Ebenfalls jene DDR-Bürger, die zur staatlichen Verteidigungspolitik stehen, sollten nicht um die Einsicht umhin können, daß ein bloßes Nachplappern staatlicher Rufe nach erhöhter Verteidigungsbereitschaft dem bedrohlichen Stand der Dinge nicht gerecht wird. Der Ernst der Stunde gebietet einer größeren Phantasie, den Teufelskreis der Rüstungsspirale zu durchbrechen; hierzu ist auch das Mitdenken von DDR-Christen gefragt.

 

Die um den Weltfrieden ringenden Christen der DDR – die westliche Formel „Friedensbewegung“ kann nur gegen den Willen der DDR-Kirchenleitung angewandt werden - sind gewiß nicht über jeglichen Zweifel erhaben; schon gar nicht jene westlichen Publizisten, die über sie Bericht erstatten.

 

Worum es nicht geht

Laut Bischof Werner Krusche setze die deutsche Wiedervereinigung eine Auflösung beider Militärblöcke voraus. „Wer die die NATO für notwendig und die Zugehörigkeit der BRD in dieses Bündnis für unumgänglich hält und dennoch von Wiedervereinigung spricht, muß sich den Verdacht gefallen lassen, daß er an eine gewaltsame Annexion denkt, oder daß er . . . eine politische Pflichtübung exerziert." Voreilige Aufrufe zur Wiedervereinigung, die über die stichfesten Interessen von SED und KPdSU hinweg sehen, sind schlicht friedensgefährdend. Sind es ausgerechnet die vermuteten Gegner des real existierenden Sozialismus - etwa die Unterzeichner des "Berliner Appells" -, die die heißesten Wiedervereinigungssehnsüchte aufweisen, so fühlt sich der kommunistische Verdacht bestätigt, deutsche Friedensstreiter würden im Falle einer Wiedervereinigung nicht gerade auf die Beibehaltung der "sozialen Errungenschaften" der DDR pochen.

 

In der Sendung „Report“ würdigte Franz Alt „Charta '77" und „Solidarnosc als „Friedensbewegungen". Der Redlichkeit wegen dürfe aber nicht alles als „Friedensbewegung" bezeichnet werden, was innerhalb der Länder des Warschauer Vertrages gegen das eigene System opponiert. Wohl keine ideologische noch politische Gruppierung verdient eine automatische Etikettierung als „Friedensbewegung"; DDR-Kritik ist noch keine Friedenspolitik.

 

Die von staatsnahen DDR-Theologen wiedererweckten „Weißenseer Blätter" meinen zu wissen, es gehe manchen Anhängern vor allem um „die Freiheit, nicht mittun zu müssen“.

 

Westliche Protestschreiben über die jüngsten Vorgänge in Jena behaupten, die Friedensaktivisten seien verhaftet werden, „nur weil sie den Frieden wollten".

 

Wohl im Widerspruch dazu wußte der „Stern“ schon im vergangenen August zu berichten, daß Michael Blumenhagen ein „anomales Leben" geführt habe. Über diesen oftmals als „junge Christen" etikettierten Personenkreis meinte der Thüringer Bischof Werner Leich, „daß wir auch für die eintreten, die in Bedrängnis sind, auch dann, wenn wir deren Motivation und Überzeugung nicht teilen". In Jena ist offensichtlich mehr als die reine Friedensliebe im Spiel: Angesichts kirchlicher Zurückhaltung liegt die Vermutung nahe, es handle sich um eine Art Protestkultur „Made in GDR'', die sich im Spannungsverhältnis zur örtlichen Kirchenbehörde befinde. Eine Gruppe darf ja nicht eigenmächtig und ohne Absprache Aktionen starten und dann im Nachhinein eine Bestätigung durch die Landeskirche verlangen. Der zentrifugale Drang einer „Ohne-mich·Bewegung" und Friedensstiftung sind oftmals zweierlei; glaubwürdige Friedensarbeit darf sich um weder mehr noch weniger als den Frieden mühen. Zu diesem "Mehr'' zählen die Wiedervereinigungssehnsucht, der Anti- Kommunismus und der individualistischer Wunsch, das Leben in ungebührendem Maße nach eigenem Ermessen zu gestalten.

 

Zuallerletzt bedürfen die unabhängigen Friedensengagierten der DDR einer Solidarisierung mit den Westdeutschen: Die Aussöhnung unter ihnen ist ohnehin gegeben, warum zusätzliches Wasser ins Meer schütten? Angesichts der auf Friedensveranstaltungen vorgebrachten Aufforderungen nach Wiedervereinigung – in Magdeburg wurde schon die Einführung einer „westlichen Demokratie" gefordert - wirkt die Wiederholung der westdeutschen Beteuerung, ohne den Schutz von Waffen leben zu wollen, nicht gerade unverdächtig auf die SED-Genossen.

 

Mit wem sollte sich der DDR-Pazifist um den Frieden streiten?

Auf einer kirchlichen Friedensveranstaltung in der DDR blieb seitens eines Amtsträgers einer osteuropäischen Kirche der gewohnte kirchliche Beifall aus. In einem Nachgespräch berichtete er mißtrauisch von einer neuen Erscheinungsform der „alten deutschen Skepsis" gegenüber dem russischen Volk.

 

Bedenklich ist die leichtfertige Annahme deutscher Friedensstreiter, die positive Reaktion heimischer Gleichgesinnter ließe sich nahtlos auf die osteuropäischen Nachbarvölker übertragen: Sie tun sich schwerer dabei, Deutschen einen glaubhaften Friedenswillen zu bescheinigen. Viele Menschen russischer Nation können unseren Standpunkt nicht akzeptieren, deutsche Mißachtung der Sowjetunion könne sich auf ihre Regierungspolitik beschränken, ohne das Volk selbst in Mitleidenschaft zu ziehen.

 

Pfarrer Dr. Jens Langer vom Güstrower „Amt für Gemeindedienst“ befürchtet, daß viele DDR-Christen mit den sich an beide Seiten richtenden Friedensaufforderungen des Kirchenbundes vor allem „die Russen" meinen. Ein derartiger Verdacht staatlicherseits wurde vom Dresdner Bischof Johannes Hempel bestätigt. Die „Weißenseer Blätter" sprechen sich für den Abbau kirchlicher Feindbilder aus und meinen damit die kirchliche Haltung gegenüber den Mitgliedern von der DDR-CDU und der Christlichen Friedenskonferenz. CDU-Mitglied Günter Wirth schreibt, „daß man uns politisch engagierten Christen alles mögliche zutraut oder nachsagt, nur nicht die Nachfolge Jesu". Gewiß hat die Abneigung parteiloser Friedensengagierter gegenüber den christlichen Verfechtern der staatlichen Linie manche berechtigten Ursachen, dennoch verdient es, festgehalten zu werden, daß der DDR-Christ zuallererst des sinnvollen Austausches mit den Verantwortlichen im eigenen Lager bedarf.

 

"Kirche im Sozialismus“ veröffentlichte die wohl gängigen Reiseeindrücke eines westdeutschen Studenten, der Magdeburger Friedensaktivisten einen Besuch abstattete. Er berichtet, es sei ihm schwergefallen zu begreifen, weshalb seine Gastgeber den Kontakt zur FDJ suchten. Mir leuchtet es wohl nicht schneller ein, weswegen DDR-Christen den Kontakt zu Vertretern der FDJ meiden sollten: Das klärende Gespräch ist ja ohnehin mit denen zu suchen, die gegenteilige Ansichten vertreten.

 

Rasch fallen SED-ferne Linke in Ost und West der Adenauerschen Versuchung anheim, die eigenen politischen Vorstellungen gegen den Willen der sowjetischen Regierung durchsetzen zu wollen. Doch glaubt selbst die KPdSU nicht, der Friede sei nur gegen eine ganze Supermacht und auf deren Kosten zu sichern: In Genf und Prag hat die Sowjetunion ernsthafte Abrüstungsvorschläge auf den Tisch gebracht. In Wirklichkeit läßt sich der Weltfriede nur durch Dialog mit den Supermächten sichern; alles andere - etwa die Hoffnung der westlichen Friedensbewegung auf eine Gegenbewegung an der sowjetischen oder DDR·Basis - ist im Atomzeitalter eine utopische, gefährliche Augenwischerei. Der keineswegs vom Schwarmgeist befallene DDR-Schriftsteller Stephan Hermlin geht davon aus, der real existierende Sozialismus stehe trotz „aller Irrtümer" und „Verbrechen" noch am Beginn eines möglicherweise noch vierhundert Jahre andauernden Prozesses.

 

Der Versuch, auf eine nichtstaatliche Bewegung jenseits des mitteleuropäischen Zaunes einzuwirken, ist beschwerlich: In Oktober 1982 erlebte der seit Jahren in der DDR engagierte holländische „lnterkirchlicher Friedensrat“ (IKV) eine Schlappe bei dem Versuch, eine gesamteuropäische Friedensbewegung zu gründen. Die Notwendigkeit des Erfahrungsaustausches leuchtet ein, dennoch müsse es sich in Gesamtdeutschland um zwei gleichberechtigte und voneinander unabhängige Friedensbewegungen handeln. DDR-Kreise suchen also zuerst das Gespräch mit der SED und KPdSU, wir unsererseits wenden uns an die eigenen Verfechter von NATO und Doppelbeschluß. DDR-Konsistorialpräsident Manfred Stolpe vertritt die Ansicht, man leiste als Westbürger den DDR-Friedensgruppen den hilfreichsten Beistand, träte man für die eigene hiesige Bewegung ein. Um sich vom Manko westlicher Fernsteuerung befreien zu können, muß die DDR-Bewegung heimisch werden; es herrscht übrigens derselbe Verdacht in umgekehrter Richtung.

 

Wie könnte das DDR-Gespräch geführt werden?

Eine schlechte, doch oft praktizierte Methode heißt: Sich mittels Westmedien - da weitere Optionen fehlen - fordernd an die eigene Regierung zu wenden. Das ist schade, denn der Umweg über den Westen erschwert das sinnvolle Gespräch mit den staatlichen - und inzwischen auch kirchlichen - Instanzen vor Ort. Der Tatbestand, daß der bis dato anonyme Brief „junger Christen" aus Saalfeld und Rudolstadt erst durch die "Frankfurter Allgemeine" der betroffenen Kirchenleitung bekannt wurde, läßt sich nur als „unbrüderlich" bezeichnen.

 

Im öffentlichen Umgang herrschen in der DDR bekanntlich andere Spielregeln vor: Die im Westen bewährte Holzhammermethode - mit Petition und Gegenpetition und Leitartikel gegen Leitartikel - ist denkbar ungeeignet für den Verkehr zwischen DDR-Basisgruppen und ihrem Staat. Da das Machtverhältnis eindeutig zuungunsten der Kirche bestehen bleiben wird und weil sie erfreulicherweise über keine Panzer verfügt, bleibt ihr nur das vertrauliche, aber ehrliche Gespräch als Möglichkeit. Altbischof Albrecht Schönherr sagte kürzlich in Dresden, die gesellschaftliche Verantwortung „könne nicht so wie in einer parlamentarischen Demokratie wahrgenommen werden, auch nicht mit lauten Protesten und demonstrativem Handeln, sondern im Bemühen um Vertrauen, das ein kritisches Gespräch ermögliche".

 

Verteufelung kann nur das Gegenteil von Friedensliebe erzeugen; es ist der Sache des Friedens nur abträglich, die machttragenden Instanzen mit Friedensparolen verdreschen zu wollen. Üblicherweise zeichnen die Westmedien ein starkes moralisches Gefälle zwischen einer „heldenhaften“ DDR-Friedensbewegung und ihrer verwerflichen Staatsregierung, man käme dennoch dem Frieden näher, würde man beide unter das harte Gericht der christlichen bzw. humanistischen Ethik stellen.

 

In der DDR bedingen Hintergrund und Standpunkt des fordernden Personenkreises die Überzeugungskraft des Arguments. Es war kein deutschnationaler Kirchenfürst, sondern der als „rot" verrufene Thüringer Bischof Moritz Mitzenheim, der den Vorschlag zur Genehmigung von Westreisen für Rentner erfolgreich vorbrachte. Es werden von daher keine Ausreisewilligen sein, die die SED von den positiven Werten des von der Basis herrührenden Friedensgespräches überzeugen könnten. Es leuchtet also nicht ein, weshalb sich auch diese Personen erlaubt haben, etwa den „Berliner Appell" zu unterschreiben, bzw. sich in Jena zu aktivieren.

 

Nicht nur die Spielregeln sind in der DDR andere - ebenso die Konstellation Staat-Kirche. Die Mehrheit westlicher Friedensengagierter geht davon aus, Staaten seien Staaten und alle Macht korrumpiere allenthalben gleichmäßig; man könne also in gleicher Weise mit dem eigenen und einem fremden Staat umspringen. Bischof Werner Krusche soll gesagt haben: „Der IKV denkt wohl, daß er die Friedensbewegung bei uns auf dieselbe Manier behandeln kann wie Schwesterorganisationen in England oder in der Bundesrepublik. Das ist ein Fehlschluß." Auch in der DDR vertrat der IKV die These, alle Staaten seien gleichermaßen im Namen des Friedens zu „destabilisieren".

 

Wenn jedoch die Annahme stimmt, daß die Kirchen im Westen noch eng mit ihrem Staat verflochten seien, während sie im Osten größtenteils distanziert ihrem Staat gegenüberstehen, so müßten sich die Kirchen in beiden Systemen in entgegengesetzte Richtungen bewegen - im Westen vom Staat weg, im Osten auf den Staat hin -, wollten sie ihrer Behauptung Glaubwürdigkeit verleihen, sie seien grenzüberschreitende und politisch unabhängige Institutionen. Allenfalls könnte konstatiert werden, daß westliche Kirchen eine ähnlich distanzierte Haltung gegenüber der eigenen Staatsmacht einnehmen sollen.

 

Dem erhofften DDR-Friedensgespräch wäre eine weitere Zunahme kirchlicher Selbstkritik nicht mißlich. Theologieprofessor Hanfried Müller vertritt die These. es seien wohl die Christen, “die den Frieden am meisten gefährden". Auf dem Washingtoner Gebetsfrühstück im Januar 1983 übernahm übrigens einer der größten Aufrüster aller Zeiten (Reagan) den Ehrenvorsitz im nordamerikanischen „Jahr der Bibel". Im Friedensstreit also verläuft die Front nicht zwischen Christen und Marxisten, auch nicht auf dem Boden der DDR, Manfred Stolpe drückt es so aus: „Wir gehen davon aus, daß die Friedensarbeit kein Monopol der Kirchen und Christen ist, . . . daß es in unserem Lande viele Institutionen und Weltanschauungen gibt, die in der Frage des Friedens die Problematik Nummer eins in unserer Welt sehen."

 

Vor allem innerhalb der DDR muß man sich für eine der beiden sich gegenseitig ausschließenden Ausgangspositionen entscheiden. Entweder handelt es sich bei den machttragenden Staatsinstanzen um Menschen, die sich auf Grund eines ethischen Empfindungsvermögens und eines bestimmten Handlungsspielraums von einem stichhaltigen Gegenargument überzeugen lassen können, oder es sind gewissenlose und geknebelte Unmenschen, die nur auf die Sprache der verbalen oder demonstrativen Gewalt reagieren. Gehören die meisten Staatspolitiker zur ersten Gruppierung, so bemüht man sich um Vertrauen. Gehört die Mehrheit zur zweiten, so bleibt dem „Untertanen" nur möglichst massiver Gegendruck übrig. Über das Ziel einer weiteren Humanisierung der DDR-Gesellschaft sind sie sich zwar einig, die evangelische Kirchenleitung hat dennoch für den ersten Weg votiert, ein Großteil der unabhängigen Friedensengagierten - und Westmedien –für den zweiten. Von daher rühren die Spannungen, die im Protestbrief aus Saalfeld und Rudolstadt abzulesen sind. Es stimmt einfach nicht, daß die DDR-Kirche aus Rücksicht vor dem Verlust ihres Spielraums Mißstände verschweigt; sie redet sehr wohl darüber mit dem Staat, bloß nicht laufend in den Medien.

 

Die Westmedien

In einer Ansprache auf der Hallenser Synode plädierte der Saalfelder Superintendent Ludwig Große anhand eines Beschlusses der Moskauer Friedenskonferenz vom Mai 1982 für ein „Moratorium für feindselige Rhetorik"; in diesem Zusammenhang erwähnte er namentlich den „Schwarzen Kanal". Diesem Vorschlag wird auch im Westen Beifall gespendet; man denkt ungenügend darüber nach, daß die Einstellung feindseliger Rhetorik die eigenen Pressefreiheiten arg beeinträchtigen und die Ausübung politischen Zwangs gegenüber ganzen Verlagen zur Folge hätte.

 

Ich lernte vor einigen Jahren vor dessen Inhaftierung den später wohl bekanntesten DDR-„Pazifisten" kennen; diese inzwischen aus allen Medien verschwundene Person befindet sich heute im Westen. Nach seiner Abschiebung stellte sich heraus, sein vermeintlicher Pazifismus hatte sich selektiv auf die Nationale Volksarmee und die mit ihr verbündeten Armeen beschränkt. Vor seiner Verhaftung hatte er mit einer antikommunistischen Menschenrechtsorganisation Pläne für den Ernstfall geschmiedet; nach seiner Inhaftierung kam die vorgesehene westdeutsche Pressekampagne ins Rollen.

 

Im Rückblick drängt sich der Gedanke auf, der zuständige Westberliner Pressemanager hätte einen humaneren Dienst geleistet, hätte er diesem Jugendlichen zur Aussöhnung mit seinen mit ihm im Fehde liegenden marxistischen Eltern verholfen. Es handelt sich um das Verhältnis zwischen Publizistik und Seelsorge: Es entsteht der Verdacht, westliches „Hochjubeln" und elterliche Aussöhnung schlössen sich aus. Angesichts der massiven Menschenrechtsverletzungen von Hunderttausenden etwa in der Türkei oder in Lateinamerika, scheint „journalistisches Aufbauschen" eine passende Formel für diese Affäre zu sein.

 

Bekanntlich ist in der DDR der Ruf des Westjournalisten nicht unbelastet; als Beispiele dienen der Brief der Thüringer Kirchenleitung an Westkorrespondenten sowie Äußerungen von Oberkirchenrätin Christa Lewek: „Im übrigen könnte man viel tun, wenn man törichte Berichterstattung, spektakuläre Berichterstattung, aufreizende Berichterstattung . . . über das, was hier . . . in der Friedensarbeit der Kirchen geschieht, unterläßt." Auf der Dresdner Synode im vergangenen Oktober meinte Bischof Johannes Hempel, die Kirche würde öfter zu politischen Tagesereignissen Stellung beziehen, „wenn wir nicht öfters die Erfahrung gemacht hätten, daß unsere Worte in den Massenmedien einseitig und entstellt wiedergegeben werden, übrigens in Ost und in West."

 

DDR-Kirchenvertreter äußern die Ansicht, der Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen" wurde bis zur westlichen „Aufspielung" des Berliner Appells stillschweigend geduldet; dessen Popularisierung erstickte viele sich anbahnende Gespräche im Keim. Mitunter kommt einem der utopische Wunsch, die westliche Publizistik könnte hinsichtlich der Berichterstattung über kirchliche Friedensaktivitäten in der DDR ein befristetes Moratorium einlegen. Ohne westlichen Beifall könnten friedensengagierte Christen vielleicht noch viel eher „das Vertrauen erwerben, das das kritische Gespräch ermöglicht" (Altbischof Schönherr).

 

Bill Yoder

Berlin-West, etwa 15. Juli 1983

 

Erschienen in den „Lutherischen Monatsheften“, Ausgabe für September 1983, 2.311 Wörter.

 

Anmerkungen von Mai 2022:

Franz Alt (geb. 1938) ist ein landesweit bekannter Journalist und Buchautor.

Ludwig Große (1933-2019) war von 1970 bis 1987 Superintendent in Saalfeld.

Johannes Hempel (1929-2020) war Bischof in Dresden, 1972 bis 1994.

Der kommunistische Schriftsteller Stephan Hermlin lebte von 1915 bis 1997.

Werner Krusche (1917-2009) siedelte 1954 in dir DDR um. Er war Bischof in Magdeburg, 1968 bis 1983.

Jens Langer (geb. 1939) lebt seit 2003 als Ruheständler in Rostock. Von 1974-78 war er Generalsekretär der Evangelischen Studentengemeinden in der DDR.

Werner Leich (geb. 1927) war Bischof in Erfurt, 1978-1992.

Christa Lewek (1927-2008) war eine evangelische Oberkirchenrätin in Berlin.

Moritz Mitzenheim (1891-1977) war Bischof in Eisenach von 1945 bis 1970.

Hanfried Müller (1925-2009) siedelte 1952 in die DDR um. Er war von 1964 bis 1990 Professor für Systematische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Albrecht Schönherr (1911-2009) war Bischof in Berlin-Ost von 1972 bis 1981.

Der Kirchenjurist und Oberkonsistorialrat Manfred Stolpe (1936-2019) war Ministerpräsident des Landes Brandenburg von 1990 bis 2002.