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Kongreß des „Christlichen Zentrums Berlin“

Von Weissagern und Heilem

 

Das "Christliche Zentrum Berlin" hat wieder kräftig in die Pedale getreten. In der ersten Oktoberwoche hielt diese von Volkhard Spitzer geleitete charismatische Gemeinde am Südstern ihren "3. Kongreß" ab.

 

Glanzstunde der Woche für mich war das nüchterne Referat des Ravensburger Jesuitenpaters Fred Ritzhaupt am zweiten Abend. In seiner Ansprache fand er den Mut, den "charismatischen Enthusiasmus" und dessen chronische Verinnerlichung aller Fragen gesellschaftlichen Typus anzuprangern und sich über die neuesten von Charismatikern gesponnenen Zukunftsprophezeiungen zu mokieren.

 

Nach diesem kurzen Höhenflug ging es inhaltlich steil bergab: Schon am nächsten Tag kam der überschwengliche Enthusiasmus wieder voll zum Zuge. Am Abend berichtete Steve Lightle, ein von Kalifornien nach Jerusalem übersiedelter "Bibellehrer", mit Leidenschaft  von einem künftigen "Zweiten  Exodus". Es sollen nämlich sämtliche Juden der Sowjetunion einen Auszug nach Israel zustande bringen. Lightle, der den Eindruck vermittelte, über einen besonders heißen Draht zum himmlischen Vater zu verfügen, gab an, daß diese zweieinhalb Millionen Juden über Finnland und "Deutschland" - gemeint war gewiß die Bundesrepublik - ausreisen würden. Am 16. Februar dieses Jahres hat er das finnische Parlament eindringlich davor gewarnt, den ausziehenden Juden Hilfeleistungen zu verweigern. In einem solchen Falle drohe Finnland bzw. „Deutschland" die totale Vernichtung.

 

Nicht um Vernichtung, sondern um Heilung ging es in der vollbesetzten ehemaligen Garnisonkirche am letzten Abend. Eine in weißer Engelstracht gekleidete Amerikanerin zelebrierte einen Heilungsgottesdienst von marathonischer Länge. Zum Glück hatte Kirn Kollins keinerlei Notizen zur Hand; sie hätten ihr gewiß die Predigt verdorben.

 

Schon nach den ersten zehn Minuten ihrer Ansprache fühlte sie, daß irgendwo in der Menge gerade mindestens ein Hüftgelenk und ein Knie geheilt wurde und daß sich eine Mutter mit ihrer Tochter ausgesöhnt hätte. Kim Kollins Stil erinnerte mich an die mir aus meiner Jugend in der amerikanischen Provinz bekannten Auftritte von Wanderevangelisten in gewaltigen Zelten über mit Sägemehl bedeckter Erde. Die Veranstaltung am Südstern war tatsächlich eine Direktübertragung ohne Satellit; ein unverdorbenes Stück der "Charisma Americana" mitten in Kreuzberg.

 

Alle - und nicht nur die Redner - sprachen unentwegt von der Notwendigkeit der Überwindung konfessioneller Schranken. Beim Christlichen Zentrum Berlins handelt es sich allerdings um eine Ökumene unter charismatischem Vorzeichen, in der das übliche Maß an gegenseitigem Geben und Nehmen nicht vorhanden ist. Hier kann die Überwindung der Konfessionen leicht mit Umgehung verwechselt werden, schließlich will auch die Mun-Sekte  "Ökumene" betreiben.

 

Am Südstern traf sich die „Welt", nicht aber Berlin. Nach den Angaben vom Pressereferenten Rolf Schwarzfeller stammten 80% der 600 bis 700 Dauerteilnehmer von auswärts. Mir erzählten alle Befragten, sie seien entweder wegen der Gemeinschaft oder der Glaubensvertiefung erschienen.

 

Doch sollte sich niemand täuschen: Charismatisches ist nicht nur für einsame ältere Menschen verlockend. Mindestens die Hälfte der rund 1.200 Besucher des Abschlußgottesdienstes waren jünger als 14 Jahre. Langsam kommt das Christliche Zentrum Berlin wieder auf Touren. Der 3. Kongreß war Teil des sich fortsetzenden "Genesungsprozesses". Volkhard Spitzer hat wohl einiges dazugelernt: Er hält sich zurück mit eigenen vollmundigen "Visionen". Dafür aber dürfen nichteuropäische Gastredner weiterhin unbehelligt schalten und walten im imponierenden Gotteshaus am Südstern.

 

Bill Yoder

Berlin-West im Oktober 1983

 

Erschienen im „Berliner Sonntagsblatt“ im Oktober 1983

 

Anmerkungen im August 2022: Fred Ritzhaupt (geb. 1944) trat zum Protestantismus über und heiratete 1992. Er ist heute Professor, Autor und pensionierter Pastor des Bundes “Freier evangelischer Gemeinden“. Das Paar wohnt in Göppingen.

Steve Lightle, ein messianischer Jude und Geschäftsmann aus Seattle/Washington, ist ein führender Verfechter der engen Verbindung zwischen der christlich-charismatischen und der zionistischen Bewegung. Nach eigenen Angaben feierte er bereits 1974 die Auflösung der Sowjetunion;1983 erschien das erste seiner beiden Bücher über den „Exodus II“.

Kim Catherine-Marie Kollins hat mehrere erbauliche Bücher verfaßt.

Der Berliner Pfingstler Volkhard Spitzer (geb. 1943) ist wohl noch heute als Prediger tätig.