· 

Die deutschstämmigen Lutheraner in den USA

Konservativ und aktiv

 

Im Jahr 1983 konnten die deutschstämmigen Lutheraner in Nordamerika gleich zwei Feste feiern: Die 300-Jahrfeier der deutschen Einwanderung und das Luther-Jubiläum. Deutsche Lutheraner sind in den USA vor allem in den Synoden von Missouri und Wisconsin zu finden. Das sind die Kirchen der konservativsten Pietisten und Evangelikalen. Die streng konservative Ausrichtung der Missouri-Synode hat ihre historischen Wurzeln: Schon als Student an der Leipziger Fakultät lehnte sich Carl Ferdinand Walther gegen den sogenannten "Vulgär-Rationalismus" seiner Professoren auf. Bei seiner Ordination bereitete ihm die Vernachlässigung der Bekenntnisschriften große innere Not. Walther - so berichtet ein deutscher Lutheraner - sei darum "freudig dem Ruf gefolgt, in Amerika eine ideale Kirche bauen zu helfen“. Im Jahre 1839 traf er in St. Louis ein. Bald wurde er Wortführer der 1847 vor allem von Sachsen gegründeten Missouri-Synode. Bischof konnte er aber nie werden: Die Missouri-Synode lehnt bis heute das Bischofsamt ab.

 

Carl Ferdinand Walther war keineswegs der erste Lutheraner auf amerikanischem Boden: Schon 1649 riefen holländische Lutheraner in Neuamsterdam - dem heutigen New York - die erste lutherische Gemeinde ins Leben. Allerdings erlebten diese holländischen Lutheraner in der Neuen Welt vorerst nichts Neues: Erst der Einzug der Engländer 15 Jahre später schaffte ihnen die Repressalien ihrer reformierten Landsleute vom Halse.

 

Der erste große deutsche Lutheraner in Amerika hieß Heinrich Melchior Mühlenberg. Um 1745 entsandte ihn der Hallenser August Hermann Francke nach Pennsylvania, um das Werben des Herrnhuters Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf unter lutherischen Schäfchen zu vereiteln.

 

In Amerika wollten sich die Christen von der in Europa geläufigen Bevormundung durch Kirchenhierarchien befreien. Man war auf Selbstbestimmung bedacht, und die Ortsgemeinden wollten sich selbst überlassen werden. Es entstand folglich eine undurchsichtige Vielfalt an Kirchen lutherischen Bekenntnisses. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts existierten in den USA 150 selbständige lutherische Kirchen. Von vorrangiger Bedeutung bei der Entstehung dieses lutherischen Kirchenwaldes war die Nationalitätenfrage. Neben den deutschen bestanden zugleich norwegische, dänische, schwedische, finnische, estnische und litauische Kirchen.

 

Bei den Lutheranern ließ das Schmelzen im vielbesagten Schmelztiegel lange auf sich warten. Es ist kaum zu fassen, aber erst 1960 kam es zu einem Zusammenschluß lutherischer Kirchen über die Nationalitätengrenzen hinweg. Damals schlossen sich zwei norwegische, eine dänische und eine deutsche Kirche zur "Amerikanischen Lutherischen Kirche" - kurz ALC - zusammen. Sie hat ihren Sitz in Minneapolis, Bundesstaat Minnesota. Dieser Vorgang machte Schule, denn in New York konstituierte sich nur zwei Jahre später die eher rein skandinavische „Lutherische Kirche in Amerika" - abgekürzt LCA. Sie hat gegenwärtig 2,9 Millionen Mitglieder; die "Amerikanische Lutherische Kirche" 2,35 Millionen. Zusammen mit der "Lutherischen Kirche - Missouri-Synode", die 2,6 Millionen Mitglieder hat, bilden sie die großen Drei des amerikanischen Luthertums. Zusammen umfassen sie rund 90 Prozent aller Lutheraner.

 

Vereinfacht könnte dabei gesagt werden: Die Missouri-Synode schlägt in die konservative Kerbe und die New Yorker LCA in die liberale. So bleibt es der dritten Gruppierung - der ALC - überlassen, zwischen den beiden zu vermitteln.

 

Inzwischen ist die Zahl amerikanischer Kirchen lutherischen Bekenntnisses auf 18 zusammengeschrumpft, und das Ende scheint noch nicht abzusehen. Zum 1. Januar 1988 sollen sich LCA und ALC sowie die kleine "Vereinigung Evangelikaler Lutherischer Kirchen" zusammenschließen. In diesem neuen Kirchengebilde würden sich 5,3 der 8,5 Millionen US-Lutheraner vereinen. Ihm stünden im wesentlichen nur noch die Missouri-Synode sowie die - noch konservativere - Wisconsin-Synode mit 400.000 Mitgliedern gegenüber. Obwohl die Missouri-Synode auch in St. Louis beheimatet ist, befinden sich ihre Ortsgemeinden in nahezu allen Bundesstaaten; ähnliches gilt für die Gemeinden der Wisconsin-Synode. Die Hochburgen der deutschen Lutheraner haben sich traditionell im Mittelwesten befunden: In Missouri, Wisconsin, Minnesota, aber ebenfalls in Pennsylvania.

 

Inzwischen scheint der Schmelzprozeß übrigens abgeschlossen. Germanisches ist nur noch mit der Lupe zu finden. Aufgeweicht wurden die deutschen Elemente durch die anti-deutschen Regierungsmaßnahmen im Ersten Weltkrieg und durch die generelle Urbanisierungswelle der letzten Jahrzehnte. Bis auf einen gewissen Stolz hinsichtlich der Herkunft hat sich unter den Deutschstämmigen wenig Deutsches herübergerettet. Da weisen etwa die Polen eine noch viel größere Beharrlichkeit auf.

 

Im Jubiläumsjahr 1983 hat das amerikanische Luthertum seinen Namenspatron keineswegs vergessen. Nur dank der beachtlichen Spendenbeiträge amerikanischer Kirchen konnte das Erfurter Augustinerkloster noch rechtzeitig renoviert werden. Während der Gedenkversammlungen in Eisleben und Leipzig im November wurden gleichzeitig in der Hauptstadt Washington die größten Luther-Feierlichkeiten in den USA begangen.

 

Die glaubensfesten und arbeitsfreudigen Sachsen der Missouri-Synode werden von keiner anderen Kirche an dynamischer Aktivität überboten. Allerdings mußten sie Mitte der siebziger Jahre eine peinliche Schlappe hinnehmen. Damals hatte sich am "Concordia Seminary“ zu St. Louis, dem größten lutherischen Seminar der Welt, ein Streit entzündet. Im Jahre 1974 wurde Rektor John Tietjen gefeuert; aus Protest verließen mit ihm 400 der 500 Studenten das Seminar und richteten ein neues ein. Das neue Seminar nannte sich „Seminex“, d.h. Seminar im Exil. Der Konflikt war zweifellos vorprogrammiert, denn die Missouri-Sachsen verharren bis heute auf der wortwörtlichen Unfehlbarkeit des biblischen Textes und lehnen u.a. die Ordination von Frauen ab. Nicht einmal eine allgemeine Abendmahls- und Kanzelgemeinschaft mit den anderen lutherischen Kirchen wird praktiziert, von einer Mitarbeit im „Ökumenischen Rat der Kirchen“ ganz zu schweigen.

 

Der Auszug der Seminaristen riß noch mehrere hundert Ortsgemeinden mit sich. Die daraufhin gegründete, schon erwähnte "Vereinigung Evangelikaler Lutherischer Kirchen" wird sich also 1988 mit der ALC und LCA zusammenschließen. Das Seminex ist im Begriff, sich wieder aufzulösen.

 

Die Unterschiede zwischen dem deutschen und dem amerikanischen Luthertum entsprechen überhaupt den allgemeinen Differenzen zwischen christlichen Kirchen diesseits und jenseits des großen Teichs. Zum Teil infolge der Landflucht ist im amerikanischen Volksbewußtsein dem Konfessionalismus ein beachtlicher Bedeutungsschwund widerfahren. Heute sucht man sich seine Gemeinde nicht so sehr nach konfessionellen Gesichtspunkten aus. Wie predigt der Pfarrer, wie klappt es mit der Gemeinschaft, was steht im Veranstaltungskalender? - solche Fragen sind heute entscheidender. Wer mit seiner bisherigen Ortsgemeinde oder Konfession unzufrieden ist, sucht sich halt eine andere aus. Wem der Konfessionswechsel dermaßen leicht fällt, stört sich nicht am Nebeneinander der Kirchen und hält das ökumenische Anliegen für nicht sonderlich aktuell. Von deutschen Beobachtern wird das manchmal scherzhaft "die freie Marktwirtschaft auf kirchlicher Ebene" genannt.

 

Nahezu alle protestantischen Kirchen in den USA bauen sich von unten her auf. Wer Pastor wird, bestimmt letztendlich die Gemeinde. Erklärungen der Kirchenleitung unterliegen der Zustimmung der Ortsgemeinden. Es gibt keine Kirchensteuer. Das hat seine Vor- und Nachteile. Einerseits suchen in den Staaten 30 bis 40 Prozent der getauften Lutheraner regelmäßig einen Gottesdienst auf. Das Spenden - und es wird nicht wenig gespendet - geschieht eher aus innerer Überzeugung. Das Miteinander in den Gemeinden ist häufig besonders lebhaft; in der Provinz schließt es nicht selten Stammtisch, Sport und sonstige Vergnügen "weltlicher" Art gleich mit ein. Die Gefahr eines Abkoppelns der Pfarrer von ihrer Basis ist kaum gegeben.

 

Aber es gibt auch Schattenseiten: Eine von unten aufgebaute Struktur schränkt die Fähigkeit zum prophetischen Handeln stark ein. Eine Kirche, die nur das an der Basis Vorhandene widerspiegelt, kann schwerlich prophetisch und souverän sich selbst gegenübertreten. Beispiele dafür liefert die Friedensfrage. Kürzlich wurde ein Friedenspapier der LCA ihren Gemeinden zur Prüfung vorgelegt; erste Kommentare nannten es ein "Doppelbekenntnis". Es zeigt, daß sich die lutherischen Kirchen in ihrer Meinungsvielfalt von der allgemeinen Gesellschaft nicht unterscheiden.

 

William Yoder

Berlin, den 7. Dezember 1983

 

Erschienen beim EPD an diesem Datum in der Nr. 49 der „Ausgabe für kirchliche Presse“, 1.168 Wörter.