· 

Die Protestanten Jugoslawiens im Bürgerkrieg

Einiges geht friedlich zu

 

Nicht überall in den Provinzen des ehemaligen jugoslawischen Staates herrscht Mord und Totschlag.  Nahe der Insel Krk baumeln Skiläufer unter Fallschirmen hinter rasenden Schnellbooten her.  In Osijek, nur fünf kilometer von der Front entfernt, erlebte ich einen motorisierten Drachenflieger, der nach Feierabend über einer zerstörten Brücke auf dem Fluß Drava hin und her brauste.  Einem lutherischen Hilfskonvoi aus Zagreb, der entlang der Küste in die adriatische Frontstadt Zadar führte, fehlte es gänzlich an Nervengekitzel.  Ein Diner am Strand im Badeort Lukovo bleibt als nachhaltigste Erinnerung zurück.

 

In kroatischen Landen ist die Stimmung vorzüglich.  Dort kommt der chronische Drang zum Häuslbau wieder zum vollen Zuge.  Einwohner von Osijek berichten stolz, sogar nach den schwersten nächtlichen Artillerieangriffen seien die Straßen bis zehn in der Frühe bereits von Glas leergefegt gewesen.  Der ausgeschiedene finnische Pastor in Osijek machte sich einen Namen dadurch, daß er sich weigerte, während Luftalarme seine Arbeiten an der Fassade des baufälligen lutherischen Pfarrhauses einzustellen.  Die Götter haben ihn für seine Zielstrebigkeit belohnt: Nur die Kirche nebenan weist Kriegsschäden - allerdings recht erhebliche - auf.

 

Solidarität ist mit Händen zu greifen.  Jakov Mrcela, lutherischer Pfarrer in Osijek und in der weiterhin umkämpften Stadt Slavonski Brod, beteuert, daß der Hirte seine Herde nie verläßt.  Ihm bleibt die Vorstellung einer Flucht undenkbar.  Seinem Volk wünscht er "noch mehr Liebe" und "noch mehr Waffen".  Damit auch keine Zweifel aufkommen: Ein lebensgroßer kroatischer Staatswappen prangt die Wand hinter seinem Schreibtisch im Büro.

 

Auf die Frage, ob es angesichts der Nöte Afrikas zu verantworten sei, daß Gelder für die Kriegsgebiete Kroatiens aufgebracht werden, antwortete der Kanadier John Wood, der 76-jährige Leiter für die Hilfsmaßnahmen des Lutherischen Weltbundes: "In Afrika, um es zynisch auszudrücken, hört der Notstand nie auf.  Hier hingegen, bestehen Partizipation und Motivation in Hülle und Fülle.  Am liebsten täten sie alles selbst, sie brauchen nur einen Katalysator.  Sie reden in gleicher Weise über militärische Belange: 'Schickt uns keine Soldaten, wir brauchen nur Eure Waffen.  Den Rest erledigen wir selbst.'  Die Kroaten brauchen nur einen gewissen Anschub, um die Wirtschaft wieder auf Touren zu bringen.  Nach Einstellung der Kriegshandlungen wäre diese Wirtschaft innerhalb von sechs Monaten wieder flott."

 

Ob es fiskalisch zu verantworten sei, noch vor Beendigung von Feindseligkeiten Gelder für die Instandsetzung von Häusern auszugeben - schließlich könnten dieselben Gebäude abermals beschädigt werden?  "Ja," beteuerte Professor Wood, "weil sie das so wollen."  Dieser Veteran afrikanischer Hungersnöte ist beeindruckt von der Lösbarkeit der wirtschaftlichen Sorgen Kroatiens.

 

In der sandig und verdorrten serbischen Vojvodina laufen die Uhren hingegen anders.  Die dortigen Protestanten fühlen sich vom Westen im Stich gelassen.  Zelimir Srnec, Direktor des baptistischen Seminars in Novi Sad, resümierte:  "Was sollten wir denn sonst meinen, wenn nur ein winziger Bruchteil des Geldes, das die Europäische Baptistische Föderation ganz Jugoslawien zugesprochen hat, den Kirchen in Serbien zugute kommt?"

 

Über die Folgen des Wirtschaftsembargos stöhnen sämtliche Einwohner Serbiens.  Andrej Beredi, Bischof der slowakischen lutherischen Kirche mit Sitz in Novi Sad, beklagte sich darüber, daß nicht einmal Bibeln oder Kinderliteratur nach Serbien ausgeführt werden dürfen.  Der Bischof weiß nicht, in welcher Weise das Heizöl für den kommenden Winter bezahlt werden soll.  Ihm ist es nur ein schwacher Trost, daß wohl auch keins erhältlich sein wird.  Diese Kirche, die mit 55.000 Gliedern die größte protestantische Kirche des ehemaligen Jugoslawien ausmacht, hat nicht einmal genügend Kapital für die Besoldung einer Sekretärin für den Bischof. Im September mußten Baptisten ihre Fahrkarten zum Amsterdamer Vorbereitungstreffen für den Billy-Graham-Kreuzzug im kommenden Jahr wieder abgeben: Holland hatte ihnen die Einreise verweigert.

 

Die Einstellung des gängigen Bankenverkehrs mit dem Ausland hat Bahnreisende in lebendige Sparschweine verwandelt.  Laut Ludmilla Beredi, die Tochter des Bischofs, die im Nachtzug um 500 harte DM erleichtert wurde, geht die ungarische Mafia bereits gegen ganze Eisenbahnzüge vor.

 

Da Serbien über nicht weniger Flüchtlinge verfügt als Kroatien, möchte der als pro-serbisch verufene Ökumenische Rat der Kirchen einen Ausgleich schaffen.  Dean Hancock, ein Methodist aus Wisconsin/USA, befindet sich seit wenigen Wochen in Belgrad und versucht, unter Obhut der orthodoxen Kirche Hilfslieferungen in die Wege zu leiten.  Das wird dem wackeren Herrn Hancock nicht leicht gemacht, denn ein Besuch in der Belgrader Zentrale der serbischen Orthodoxie bringt einen rasch zu dem Entschluß, daß diese Kirche einer leistungsfähigen Verwaltung keine Priorität einräumt.

 

In den vergangenen 12 Monaten hat das Deutsche Diakonische Werk Güter im Wert von 5,5 Millionen DM nach Kroatien geschafft; der Lutherische Weltbund hat im gleichen Zeitraum Waren im Wert von 1,3 Millionen DM hinzugesteuert. Nun soll erstmals eine größere kirchliche Aktion für Serbien anlaufen: Noch vor Einbruch des Winters will Dean Hancock Decken im Wert von $650.000 in die serbisch beherrschten Gebiete bringen lassen.

 

Können die Protestanten vermitteln?

In der kroatischen Frontstadt Osijek ging ich mit einer evangelikalen Missionarin aus Alaska und einem vierzehnjährigen einheimischen Jungen flanieren.  Wir begegneten einem Bekannten der Missionarin, und es entstand unter ihnen ein Geplauder.  Bald wurde dem Jungen mulmig, er wandte sich mir zu und flüsterte, "Gehen wir doch!  Das ist höchstwahrscheinlich ein Serbe!"  Ich votierte für den Verbleib und nach dem Verabschieden des Bekannten stellte sich heraus: Der unbekannte Mann war doch ein Kroate.  Fazit: Nicht einmal stramme kroatische Patrioten können mühelos zwischen Kroaten und Serben unterscheiden.  Oftmals muß erst einmal die Konfession abgefragt werden.

 

Bekanntlich hat der Katholik als Kroate, der Orthodoxe, als Serbe zu gelten.  Die Lutheraner sind mit wenigen Ausnahmen entweder Slovaken oder Slovenier.  Auf diese Erkenntnis legt der kroatische Staat großen Wert.  Zivica Tucic, ein orthodoxer Priester und Korrespondent des Evangelischen Pressedienstes, weiß zu berichten: "Katholiken, mit denen ich zu tun habe, berichten mir, daß sie hier in Belgrad täglich 20 bis 30 Bescheinigungen ausstellen, zum Teil fingiert, um Bürgern Serbiens die Einreise nach Kroatien zu erleichtern.  Nur wer nachweisen kann, daß er katholisch sei, wird die Einreise gestattet."

 

Da haben die kleinen freikirchlichen Konfessionen - Protestanten machen nur 0,5% der Bevölkerung des ehemaligen Jugoslawien aus - den großen Vorteil, aus den meisten der 30 Nationen Jugoslawiens zu bestehen.  In ethnischer Hinsicht sind sie nicht leicht einzuordnen.  Könnten sie deshalb eine Mittlerfunktion übernehmen?

 

In Kroatien allenfalls sind sie dieser Herausforderung nicht gewachsen.  Auch für Baptisten und Pfingstler steht die Identität des politischen Feindes fest.  Nach Peter MacKenzie, einem Engländer und Baptisten, der seit Jahrzehnten in Zagreb lebt, gelingt das Zusammenleben verschiedener Nationen innerhalb einer Gemeinde auch nur wenn politische Themen umschifft werden.  "Die Gläubigen haben nicht die nötige Reife, Differenzen auszudiskutieren ohne dabei in tiefe Leidenschaften zu geraten," folgert er.

 

Gemeinsam mit anderen Kroaten begrüßen Freikirchler die Entstehung des kroatischen Staates.  Der Zagreber "Christlicher Nachrichtendienst" beispielsweise, der von Baptisten angeführt wird, streitet unumwunden für die Sache Kroatiens.  Die Weigerung, dem alten Staatengebilde nachzuweinen, begründen Protestanten mit dem Hinweis, die Schaffung von Demokratie und Glaubensfreiheit sei von überragender Bedeutung.  Erst recht vor der völkerrechtlichen Anerkennung Kroatiens standen die Kirchen beim Aufbau von humanitären Hilfsaktionen in vorderster Reihe; auch die Freikirchen sind hierdurch erstmalig zu öffentlichem Ansehen gelangt. Allerdings fallen den Freikirchen vermittelnde Aufgaben in den Schoß: Alle fünf orthodoxen Priester sind aus der Frontstadt Osijek geflohen.  Es sind deshalb Baptisten und Pfingstler, die hin und wieder einen Orthodoxen beerdigen oder seelsorgerlich betreuen.

 

Aus der serbischen Perspektive sieht die Lage weniger eindeutig aus.  Meistens verteilen serbische Protestanten die Schuld zwischen Serben und Kroaten gleichermaßen.  Bei ihnen sitzt die Trauer um neue Grenzziehungen und das Zerplatzen uralter Freundschaften tief.  Die serbische Frau eines kroatischen Pastors in Novi Sad fragte entsetzt: "Wie, angesichts der horrenden menschlichen Kosten, können die Kroaten Genugtuung über die Entstehung neuer Staaten verspüren?"

 

Es bestehen aber auch Parteigänger der serbischen Nationalitätenpolitik: Der methodistische Superintendent für Serbien und Mazedonien, Martin Hovan, z.B., warnt vor der Entstehung eines "germanisch-vatikanisch-muslimischen" Komplotts gegen das serbische Volk.  Von der Kontraproduktivität wirtschaftlicher Sanktionen ist er zutiefst überzeugt.  Dabei ist er selbst nicht einmal Serbe, sondern Slowake.

 

Zahlreiche freikirchliche Kirchenbünde weisen die Tendenz auf, schon von sich aus zu zerplatzen.  Noch vor Kriegsausbruch entschieden sich die Baptisten, in allen sechs Provinzen des Landes eine eigene Baptistische Union ins Leben zu rufen.  Zur Begründung wurden Skandale um die unregelmäßigen Geschäfte einer kircheneigenen Druckerei in Novi Sad angeführt.  Diese Zersplitterung in Kleinstunionen von zum Teil nur einigen Dutzenden Gläubigen hält der Belgrader Baptist, Pastor Alexander Birvis, für einen unzumutbaren Zustand: "Das haben die Adventisten besser gehandhabt als wir.  Sie haben schlicht ihre Gemeindeunion in eine 'südosteuropäische' umbenannt und die gleichen Leitungsstrukturen beibehalten.  Unsere jetzigen Strukturen können nicht von Dauer sein."

 

Die Lutheraner Kroatiens kommen auch nicht einmal mit dem Lutherischen Weltbund klar.  Der weltgewandte Dr. Wood nimmt auf die heimische Kirchendiplomatie wenig Rücksicht und arbeitet u.a. mit islamischen Organisationen zusammen, um die Güter möglichst rasch an die darbenden Volksgruppen zu bringen.  Das paßt der kleinen kroatischen lutherischen Kirche - sie hat nur fünf Pastoren - nicht.  Sie will nach eigenem Bekunden nicht einmal mit den "Sekten" - gemeint sind die Freikirchen - kooperieren.  Ende Juni haben Lutherischer Weltbund und Diakonisches Werk ihre Zusammenarbeit mit dem Hilfswerk der kroatischen Lutheraner vorerst eingestellt.

 

William Yoder

Berlin, den 28. September 1992

 

Verfaßt für das „Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt“, 1.460 Wörter