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Spannungen unter den Protestanten Ex-Jugoslawiens

Als ich in der zerstörten Stadt Pakrac/Kroatien die Wohnung des baptistischen Laienpredigers betrat, war die Freude seiner Gattin gegenüber dem unverhofften Gast nicht einhellig.  Einige Minuten später teilte sie mir zu Tische mit, sie hätte mich aufgrund meines Bartwuchses im ersten Augenblick für einen Tschetnik gehalten.  Eindeutig humorvoll war der Vorfall jedoch nicht, denn die Familie Karlovic lebt nur einige hundert Meter vom serbisch-besetzten Gebiet entfernt, und in Pakrac ist die Grenze zwischen dem östlichen und dem westlichen Abendland noch grün.  Vor einem halben Jahr ist der Ehemann, Bozidar, von serbischen Soldaten angehalten und schwer mißhandelt worden.  Doch wegziehen werden die beiden nicht.

 

In Pakrac erlebt man die Art der Völkerverständigung, die den Protestanten noch übrig bleibt: die Bildung von multiethnischen christlichen Gemeinden.  Peter MacKenzie, ein schottischer Missionar aus Zagreb, versicherte: "Die Tatsache, daß sich Serben unseren Gemeinden anschließen, beweist, daß sie uns für Friedensstifter halten.  Manchmal halten uns Scharfmacher sogar vor, `Tschetnik-Gemein­den' zu bilden."

 

Als politische Mediatoren werden sich die kleinen protestantischen Kirchen Kroatiens und Serbiens aber nicht etablieren.  Laut MacKenzie verlangen die Kroaten, "daß die Serben aufstehen und ihre politischen Führer verurteilen.  Die Serben verlangen das gleiche in umgekehrter Stoßrichtung.  Doch keine Seite ist gegenwärtig zu einem solchen Schritt bereit."

 

Peter Kuzmic, der bekannteste protestantische Theologe ex-Jugo­slawiens, begann das Jahr mit dem öffentlichen, auch in der "Idea" abgedruckten Vorschlag, gezielte militärische Anschläge gegen serbi­sche Stellungen vorzunehmen.  Damit pläpperte er nur einer Ansicht nach, die Anfang Dezember von Gunnar Staalsett, General-Sekretär des Lutherischen Weltbundes, geäußert worden war. Unter den Protestanten Serbiens brach jedoch ein Sturm der Ent­rüstung los. Sogar die säkulare Presse nahm ihn aufs Korn; eine der schärfsten Erwiderungen stammte von Lazar Stojsic, Prediger in Bel­grads Hram Svete Trojice (Tempel der Heiligen Dreieinigkeit), die üppigste Pfingstgemeinde Belgrads.  "Kuzmic erinnert mich an einen Menschen mit Bomben in der einen Hand und Gebeten in der anderen," schalt er.  "Er sollte sich bekehren.  Würde er denn die gleiche Ansicht vertreten, wenn seine Familie hier in Belgrad lebte?"

 

Kopien von "Izvori", einer evangelikalen Zeitschrift, die in Osijek herausgegeben wird, werden dem Hrem Svetre Trojice kostenlos überlassen.  "Diese Zeitschrift verteilen wir nicht," versicherte Stojsic.  "Wenn Ungläubige auf diese Zeitschrift kämen, würden sie beschließen, daß wir mit Kroaten und Katholiken gemeinsame Sache machen."

 

Die Ansichten des Superintendenten Martin Hovan aus Novi Sad (Neusatz), der ranghöchste methodistische Würdenträger Ex-Jugoslawiens, sind zugegebenermaßen radikaler als jene des protestantischen Durchschnitts.  "Die germanische Rasse greift uns an," beteuerte Hovan.  "Sie will uns aufspalten, um uns zu besiegen.  Heute, greift der Vatikan die Orthodoxen an, doch morgen könnten wir, die Protestanten, dran sein."

 

Nur kroatische Christen befürworten die Aufstellung von Sanktionen; in Kroatien besteht die felsenfeste Überzeugung, die Haupt­kriegsschuld laste auf den Serben.  In Serbien hingegen heißt es, die Schuld sei auf allen Seiten in ähnlichen Mengen vorhanden.

 

Die Distanz gegenüber dem staatlichen Realpolitik ist in Serbien größer, doch in beiden Staaten nehmen Protestanten politische Positionen ein, die das Einvernehmen mit der Obrigkeit nicht gefährden.  Obwohl serbische Pfingstler und Adventisten pazifistische Positionen für ihre jungen Männer beanspruchen, lassen sie gegenüber der Staatsmacht die Kirche ansonsten im Dorf.  Hrem Svete Trojice berichtete mit Stolz davon, daß Ende März die Videoübertragung der Essener "ProChrist"-Auftritte Billy Grahams nicht ohne einheimische Beteiligung vonstatten gehen wird.  Am Beginn der Veranstaltung in der repräsentativsten Kongreßhalle Belgrads soll der Chor der serbischen Armee mit geistlichen Liedern aufwarten.

 

Da haben es ethnisch monolitische Kirchen wie die slowakischen Lutheraner oder die ungarischen Reformierten ungleich schwerer: pazifistische Optionen nehmen sie nur selten in Anspruch.  Andrej Beredi, Bischof der slowakischen Lutheraner mit Sitz in Novi Sad, verteidigte sich mit dem Einwand: "Wenn zu viele Slowaken den Wehrdienst verweigern würden, käme vom Staat sehr rasch der Vorwurf, wir seien anti-serbisch eingestellt."  Die historischen multiethnischen Freikirchen, die über serbische Mehrheiten verfügen, liegen an dieser Stelle gegen­über der nationalistischen Staatsmacht im Vorteil.

 

Ebenfalls mit humanitären Aktionen wollen sich Protestanten dem christlichen Friedensgebot annähern.  Die 1.500 Baptisten Kroatiens verwalten zwei der größten kirchlichen Hilfsverbände des Landes: Moj Blizny und Duhovna Stvarnost.  ADRA, das Hilfswerk der 12.000 jugoslawischen Adventisten, rühmt sich eines weitverzweigten Lieferungsnet­zes, das bis in die letzten Winkel des ganzen Jugoslawiens hineinreicht.  Dank dieses Netzes - und ihres Rufes, überparteilich zu sein - mußte sogar das Hilfswerk der übermächtigen orthodoxen Kirche, Dobrotvor, ADRA in Anspruch nehmen, um in alle Sektoren Sarajevos zu gelan­gen.  Jovan Lorencin, Präsident aller jugoslawischen Adventisten, wies mit Genugtuung darauf hin, daß die Lieferungen von Dobrotvor "nur so weit reichen wie die serbischen Linien".

 

Doch den Lohn für diesen irdischen Fleiß erwarten die Evangeli­kalen nicht erst im Himmel: Schließlich hat der humanitäre Einsatz sie erstmals auf die südslawische Landkarte geholt.  Bozidar Karlo­vic erzählte vom städtischen Wohlwollen gegenüber seiner Absicht, eine baptistische Kirche mit 300 Plätzen zu errichten.  "Wir leben in einem katholischen Land," erklärte er.  "Doch im Augenblick brau­chen sie uns.  Deshalb müssen wir zuschlagen, solange das Eisen noch heiß ist."

 

In Zukunft wird sich der Kirchenbau ohnehin noch mächtig entfalten können.  In Banija, in der serbisch-besetzten Krajina südlich von Sisak und Petrinja, haben sich offenkundig die Krieger beider großer christlicher Glaubensrichtungen gegenseitig sämtliche Kirchen in die Luft gejagt.  Jovan Nikolic, ein pensionierter orthodoxer Erzpriester, der weiterhin in Zagreb ausharrt, schimpfte: "Zum er­sten Mal in unserer Geschichte werden Kirchen ebenfalls von serbischer Seite zerstört!"

 

Ansätze eines erfreulichen Umdenkens bestehen jedoch auch.  In Osijek konnte am 14. Februar zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder ein orthodoxer Gottesdienst gefeiert werden.  Für die Instandsetzung des ramponierten Gotteshauses war die Ökumene mit aufgekommen: Das Hilfswerk der Pfingstler hatte neue Kirchenfenster besorgt, die neuen Dachziegel sind eine Spende der Katholiken. Mit von der Partie war zugleich der emeritierte Erzpriester Lazar Miskovic, der dank Heimweh und Krankheit vor wenigen Monaten aus der serbischen Vojvodina nach Osijek zurückkehren durfte.  Schlagzeilen machte Miskovic mit seinem Empfang durch den Osijeker Bür­germeister; ein Ereignis, das von der Belgrader Presse weidlich aus­geschlachtet wurde.  Unverdrossen fleht der kranke alte Mann seine Kirche jedoch weiterhin um die Rückkehr weiterer Priester an.

 

Zuständig für die Besetzung solcher Pfarrstellen ist Erzbischof Lukijan, der jenseits der Front im serbisch-kontrollierten Dalj, nördlich von Vukovar, residiert.  Auf diesbezügliche Fragen antwor­tete der hochgewachsene Kleriker ausweichend: Priester hätten Angst vor der Rückkehr, und obendrein sei serbischen Priesterkindern das Leben in Kroatien gegenwärtig nicht zuzumuten.

 

Da vertritt der streitbare Pensionär Nikolic die gegenteilige Auffassung.  Auch schon deshalb liegt dieser Zagreber Serbe mit seinem Vorgesetzten, dem nach Belgrad geflohenen Metropoliten Jovan, im Clinch.  Die Rückkehr von Priestern in das Land vermeintlicher - und auch wahrer - Verfolgung paßt nicht allen Kirchenoberen Belgrads ins politische Konzept.

 

Dem Metropoliten wirft Nikolic eine Politisierung neuer Taufvorgänge vor.  Es bestehen Fälle von Mischehen, in denen kroatische Frauen, die die Gattinnen von serbischen Kommunisten sind, oder waren, nun sicherheitshalber ihre Kinder erstmalig taufen lassen.  "Es stimmt einfach nicht, daß hiermit orthodoxe Kinder zu Katho­liken werden," konstatierte Nikolic.  "Nein, sie waren bisher über­haupt nicht Orthodox!  Seit dem II. Vatikanum ist es auch ganz lä­cherlich, noch von einem Proselytismus zu sprechen.  Heute ist die ganz Welt ein Missionsfeld."

 

Im entgegengesetzten Lager sind die Katholiken Serbiens um die Wahrung ihres Besitzstandes bemüht.  In Ilok, in der serbischen Krajina südlich von Vukovar gelegen, bewahrt Pfarrer Marko die Bücher- und Kunstbestände zerstörter katholischer Kirchen auf.  Ob er die Verständigung mit seinen orthodoxen Amtskollegen sucht?  "Nein," erwiderte der stämmige Priester knapp.  "Zuerst muß der Krieg auf­hören, dann können wir reden."  Vater Marko ist ganz auf das Überwintern eingestellt.  Schließlich ist seine Kirche nicht von ungefähr für ihren langen Atem bekannt.

 

William Yoder

Berlin den 8. März 1993

 

Verfaßt für das „Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt“ in Hamburg, 1.225 Wörter

Anmerkungen im Februar 2021: Von den genannten Personen sind mindestens Andrej Beredi und Peter MacKenzie bereits verstorben. Lukian (Vladulov), geb. 1933, der orthodoxe Bischof von Dal, verstarb 2017 im Amt. Der 1946 geborene Pfingstler Peter Kuzmic ist seit 1993 am "Gordon-Conwell Theolgoical Seminary" im Bundesstaat Massachusetts tätig. Der norwegische Theologe und Politiker Gunnar Staalsett (geb. 1936) ging 2005 in den Ruhestand.