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Gubener Bürgermeister seit einem Jahr im Amt

"Ich bin Mitglied der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde Guben, und das reicht mir."

 

Demnächst feiert der wahrscheinlich ranghöchste freikirchliche Stadtvater der Bundesrepublik sein einjähriges Amtsjubiläum.  Am 1.2.1994 trat der Baptist Gottfried Hain seinen Dienst als Bürgermeister der 30.000 Einwohner zählenden Grenzstadt Guben an.  Ferner ist der 38-jährige Kommunalpolitiker einer der kinderreichsten deutschen Stadtväter überhaupt: Er und seine Frau Juliane sind - einschließlich eines Pflegekindes - die stolzen Eltern von sieben Kindern.

 

Zum Weg in die Politik versichert der gelernte Krankenpfleger: "Ich hatte nie die Intention Politiker zu werden."  Das Politikerwerden  war vielmehr ein Ergebnis der Wendezeit und seiner dreijährigen Verwaltungsarbeit im sozialen Bereich, zuletzt als Sozialdezernent im Landkreis.  "Ich würde mich nicht zuerst als Politiker bezeichnen," fügt er hinzu.  Ich bin eher jemand, der bestimmte Aufgaben sieht und sie nun mit den Instrumenten der Politik umzusetzen versucht."

 

Zwischen der Tätigkeit als Krankenpfleger in der DDR und als Bürgermeister in der neuen Bundesrepublik sieht Hain keine wesentlichen Unterschiede.  Früher habe er zu signalisieren versucht: "Ich bin ein DDR-Bürger und Mensch, der in diesem Land das Bestmögliche für die Menschen tun will.  Dieser Aufgabe stehe ich nach wie vor zur Verfügung.  Mein Lebensgefühl hat sich nicht wesentlich geändert."

 

Hain war bei der Direktwahl 1993 als partei- und fraktionsloser Kandidat einer unabhängigen "Wählerinitiative Bürgerbündnis" aufgestellt worden.  Gefragt, weshalb er keiner Partei angehöre, pflegt dieser Gemeindeleiter zu erwidern: "Ich bin Mitglied der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde Guben, und das reicht mir."  Nach ihm bedeute die Parteizugehörigkeit "eine Relativierung der eige­nen Meinung, ein Eingehen auf Dinge, die man allein nicht so entschieden hätte."

 

Hain versichert jedoch: "Ich bin gerne Partner für die verschiedenen Parteien.  Ich will gesprächsfähig sein für alle Parteien, die etwas Vernünftiges denken.  Ich versuche die Polarisation­en, die zur Politik gehören, zusammenzuführen.  Es muß die Möglichkeit geben zu integrieren."

 

Der evangelische Pfarrer Michael Domke, der gemeinsam mit dem Baptisten vier Jahre in der Gubener Stadtverordnetenversammlung verbracht hat, begrüßt die Parteilosigkeit: "Ich sehe darin eine Chance.  Bei den entscheidenden Abstimmungen gab es überhaupt keinen Fraktionszwang.  Wir haben nach dem Gewis­sen abgestimmt.  Das fand ich sehr wohltuend."

 

Das Gebot der Integration

In der Stadtverordnetenversammlung bildet die PDS mit 11 Sitzen die stärkste Fraktion.  Eine dezidierte Abgrenzung von der PDS empfindet Hain, ein ehemaliger Bausoldat, als "merkwürdig": "Nachdem ich für vier Jahre das westliche System kennengelernt und gesehen habe mit welchem Geschick man manche konfliktträchtigen Situationen umschifft und Druck abläßt, finde ich es sehr merkwürdig, daß man jetzt diesen vollen Druck in Richtung PDS schickt.  Das ist für mich kein Zeichen von Stärke.  Das führt zu einer noch stärkeren Polarisierung zwischen Ost und West."

 

Hain fährt fort: "Egal in welcher Gesellschaftsformation, entwickeln nur be­stimmte Leute [politische] Begabungen und Fähigkeiten.  Wer sich damals politisch entwickelt hatte, der hatte nur die Möglichkeit: entweder SED oder Blockpartei.  Dafür können wir Menschen im Nachhinein nicht verdammen oder ausgrenzen.  Wir müssen ihre Arbeit genauso achten wie die Arbeit der Leute, die politisch wirksam geworden sind im westlichen Teil unseres Landes."

 

Hein begreift sich als Gegner der Ideologisierung.  Der Bürgerrechtler der Wendejahre meint heute: "Bündnis 90/Grüne ist mir zum Teil zu stark ideologisiert."  Zu den Gefahren einer christlichen Ideologisierung meint er: "Für mich ist der Glaube an Jesus Christus eine ganz freiwillige persönliche Geschichte, die ich selbst entscheiden muß.  Er wirkt auch wirklich nur befreiend, wenn ich auch anderen diese Entscheidung zubillige."

 

Gegenüber einer einheitlichen christlichen Position in der Abtreibungsfrage verhält sich der Baptist äußerst zurückhaltend: "Ich habe selbst in der Gynäkologie gearbeitet.  Man muß das Thema sehr diffe­renziert betrachten.  Wie kann ich einer belasteten Frau helfen, wenn ich ihr von vornherein ein Urteil spreche?"

 

Der junge Stadtvater sträubt sich dagegen, sich als "evangelikalen Bürgermeister" bezeichnen zu lassen.  "Gerade das will ich nicht: Ich bin ein ganz normaler Mensch und Bürgermeister."  Hain will sich auch nicht in die politisch linke oder rechte Ecke drängen lassen.  "Ich habe schön öfters gesagt: Im Herzen bin ich links, im Kopf bin ich konservativ.  Das Soziale muß sich an den wirtschaftlichen Gegebenheiten orientie­ren und daran messen lassen - und umgekehrt."

 

Die interkonfessionelle Lage

In Guben hält der gute ökumenische Geist der achtziger Jahren an.  Seit acht Jahren duzen sich die evangelischen Pfarrer und der baptistische Gemeindeleiter.  Laut Pfarrer Domke zeichnet sich Hains Führungsstil durch "persönliche Bescheidenheit und Lauterkeit" aus.  "Ich habe nicht das Gefühl, daß er Dinge verheimlicht oder anders sagt als zu einem selber.  Er hat die Gabe Sachverhalte so darzulegen, daß sie beruhigend wirken."

 

Für die anderen Christen der Stadt ist Hains Konfession unproblematisch.  Die vorhandene Reserve hat mit Hains Christsein, nicht mit seinem Baptistsein zu tun.  Domke meint: "Für die, die nicht in der Kir­che sind, spielt es im Grunde keine Rolle, in welcher Kirche man ist.  Es besteht die Ansicht: 'Hier hat die Kirchenlobby ihren Mann durchgebracht.'  Das könnte ich nicht genau belegen, aber diese generelle Reserve geht durch alle Parteien quer durch."

 

Hain gesteht, daß auch in seiner eigenen Gemeinde eine punktuelle Skepsis gegenüber seinem neuen Amt vorhanden war.  "Meine Arbeit im Krankenhaus war von den Geschwistern sehr geachtet, da herrschte eine große Gelassenheit."  Nun bestehe jedoch eine "besondere Angst um mich: die Angst, daß mich dieses Amt kaputtmachen könnte."

 

Dr. William Yoder

Berlin, den 16. Dezember 1994

 

Verfaßt für den Ev. Pressedienst  (EPD) in Berlin, 820 Wörter

 

Anmerkung von September 2021: Der 1956 in Polen geborene Gottfried Hain unterlag 2002 bei seiner Wiederwahl als Bürgermeister. Er wurde ersetzt von einem wirtschaftsfreundlichen Politiker der FDP. Hain wurde bald darauf Verwaltungsdirektor des lutherischen (SELK) Naemi-Wilke-Stifts” in Guben. Er ging 2021 in Rente.