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Vorwürfe gegenüber den Freikirchen werden häufiger

„Sekte“ als Keule

 

Das ökumenische Anliegen ist auch in Berlin und Brandenburg gefährdet.  Zahlreiche freikirchliche Pastoren haben das Empfinden, von den säkularen und sakralen Medien bewußt ignoriert zu werden.  Die Ansätze zur ökumenischen Zusammenarbeit, die vor 1989 vorhanden waren, schwinden dahin.

 

Wir "Freikirchler" stören uns an einer anhaltenden Dreiteilung der Christenheit (Katholisch-Evangelisch-"Fernerliefen").  Denn unter "Fernerliefen" befinden sich neben der Orthodoxie wichtige Kirchen wie die Methodisten, eine Grundsäule und Mutter der ökumenischen Bewegung, sowie pfingstlerisch-charismatische Kirchen, die die schnellstwachsende protestantische Denomination der Gegenwart darstellen.

 

Nur weil eine Kirche in Deutschland klein oder unbekannt sei, heißt noch nicht, daß sie unwichtig oder gar eine Sekte wäre.  Der christlichen Fairneß halber genügt es eben nicht, die Weltchristenheit über den westeuropäischen Kamm zu scheren.

 

Obwohl es Religionsgemeinschaften gibt - z.B. Scientology und die Mun-Gruppe - die eine Gefahr für das Gedeihen demokratischer Gesellschaftsformen darstellen, möchte ich dennoch für eine sehr präzise und seltene Verwendung des Begriffes "Sekte" plädieren.  Mir ist es hilfreich, jene Gruppen als "Sekten" zu definieren, die einen Ausschließlichkeitsanspruch stellen bzw. sich selbst für "alleinseligmachend" halten.  Das sind u.a. die Zeugen Jehovas und Mormonen.  Die bisherige Praxis der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, die im Ökumenischen Rat und im Arbeitskreis Christlicher Kirchen vertretenen Kirchen nicht als Sekten zu behandeln, ist ebenfalls hilfreich.

 

Am liebsten würde ich jedoch gemeinsam mit dem konservativen Theologen Georg Huntemann rufen: "Werft die Sektenkeule weg!"  Ich stimme seiner Feststellung zu, daß der Begriff zu einem Kampfbegriff herabgesunken sei; seine aufklärende, beschreibende Wirkung ist nur noch minimal.

 

Meine Aversionen hängen mit dem Verdacht zusammen, dieser Begriff entstamme der prädemokratischen Ära monolithischer staatsherrlicher Kirchenregimente. Seine Verwendung geht mit der anhaltenden Bevorzugung bestimmter christlicher Denominationen - auch wenn dies der verfassungsmäßig verbrieften Gleichstellung aller Religionsgemeinschaften entgegensteht - einher.

 

Die Kirchen sollten sich stattdessen gegenseitig befruchten.  Freikirchen können Modelle für die finanzielle Selbstbehauptung von Ortsgemeinden sowie für die Förderung von Laienbeteiligung und Evangelisation liefern.  Wir Baptisten können uns von der Weltzugewandtheit des Luthertums mehr als nur eine Scheibe abschneiden.  Die gegenwärtige Krise der Kirchen betrifft auch die Freikirchen: Ich wünschte mir, Freikirchen und Landeskirchen würden die Krise gemeinsam statt gegeneinander meistern.

 

William Yoder

Berlin, den 15. September 1995


Aufsatz dem Blatt „Die Kirche“ in Berlin angeboten, 350 Wörter