Über ein seelsorgerliches Kopfzerbrechen
Im Beitrag vom ([Berliner Pastor] Volker Tepp (siehe "Wort und Werk" Nr. 2) war zu erfahren, daß das 1993 mit Empfehlung des Bundes herausgegebene Buch "Lebendige Liebe" den in Scheidung lebenden Gemeindegliedern eine Notbrücke baut. Mit der Unterscheidung zwischen einer "Schöpfungs-" und "Notordnung" schafft es die theologische Basis für das Zusammenleben in der Gemeinde mit geschiedenen Gemeindegliedern. "Mit diesem Buch" - so Pastor Tepp - "ist es erstmalig gelungen, die lange quälende Frage nach einer biblisch verantworteten Position lebbar mit der Wirklichkeit in unseren Gemeinden zu verbinden."
Laut Siegfried Grossmann, dem Hauptautor dieses Buches, ist eine ähnliche Argumentation im Falle nichtehelicher Lebensgemeinschaften nicht möglich. Denn im Gegensatz zum Zerbruch einer Ehe bricht eine nichteheliche Lebensgemeinschaft nicht ungewollt über die beiden Partner her. Deswegen lehnt er es ab, die Unterscheidung von Schöpfungs- und Notordnung auch für diesen Bereich anzuwenden, denn ein "Verzicht auf genitale Sexualität sei dem Menschen zuzumuten und wird ihm auch vom Neuen Testament zugemutet, während andererseits die Bibel durchaus davon ausgeht, daß Ehen zerbrechen können und auch Beispiele für einen Neuanfang gibt".
Pastor Grossmann erkennt eine enge Wechselwirkung zwischen dem intimen Verkehr und der Ehe: "Wer den intimen Verkehr eingeht, ist aus biblischer Sicht mit der Person schon verheiratet." In "Lebendige Liebe" heißt es: "Im biblischen Sinn gibt es keine nichtehelichen Lebensgemeinschaften, sondern nur Ehen, die keine Ehen sein wollen." (S. 144) "Wenn beide Partner gute Gründe dafür haben, eine eheliche Verbindung . . . noch nicht zu wagen, dann sollten sie auch auf die intime sexuelle Beziehung . . . warten." (S. 147) Nicht "Ehe" oder "nichteheliche Lebensgemeinschaft" seien die christlichen Alternativen, sondern "Mut zum geschlechtlichen Einswerden in der Ehe" oder "Mut zum Verzicht auf genitale Sexualität". Dabei plädiert er im Gespräch nicht für die Ausgrenzung von Menschen, die anders handeln, sondern "für seelsorgerliche Sensibilität, allerdings ohne die biblische Grundhaltung als Ziel aufzugeben".
Es zeigt die Schwierigkeit dieses Themas, daß "Lebendige Liebe" keineswegs als Konsens innerhalb des gesamten Bundes anzusehen ist. Peter Muskolus, "Vertrauensbruder" unserer Vereinigung und Pastor der Gemeinde Berlin-Steglitz, bestreitet den ehebestimmenden Charakter intimer Beziehungen: "Nein! Die Sexualität begründet die Ehe nicht, sondern die Sexualität ist ein Bereich, der zwar mit zur Ehe und Lebensgemeinschaft gehört, aber sie ist nicht ehebegründend. Die Ehe ist in erster Linie eine personale Beziehung und keine biologische. Die Sexualität begründet die Ehe nicht, auch wenn ein Kind unterwegs sein soll. Die Ehe wird nicht in erster Linie äußerlich geregelt. Die tragende Kraft einer Ehebeziehung bleibt die Verantwortung füreinander und miteinander."
Auf die Frage, ob "Etappenehen" - gemeint ist die voreheliche Sexualität - theologisch zu rechtfertigen seien, erwidert Bruder Muskolus: "Ich sage mal so: Wenn man es direkt von der Bibel her sieht, kennt die Bibel unsere Lebensverhältnisse nicht. Wir stellen fest, daß es in Palästina keine Koedukation gab, daß das Zusammentreffen von jungen Männern und Frauen überhaupt nicht vorhanden war, und daß es die Ehe auch gar nicht gab - das waren Familiengeschichten. Die Wahl eines Partners und all das, was wir heute kennen - die sind der Bibel völlig fremd. Deshalb, so meine ich, müßte man die große Entwicklung sehen: Was heißt es von einer der Institution hergegebenen Lebensauffassung zu einer individuell geprägten verantwortlichen Lebensauffassung zu gelangen? Das entscheiden heute nicht die Eltern, nicht der Staat, und auch nicht die Gemeinden. Diese Dinge entscheidet jeder für sich. Und diese Entscheidungen sind nicht einfach falsch weil die Institution das nicht so gerne sieht."
Peter Muskolus bewertet die "Etappenproblematik" als eine befristete altersbedingte Erscheinung. Über seine Gespräche mit überwiegend kirchenfernen Paaren berichtet Hartmut Wahl, Leiter der "Evangelischen Beratungsstelle Berlin-Pankow": "Die meisten wollen heiraten, aber sie wollen nicht gleich und sofort. Eigentlich wollen wie alle heiraten, aber sie brauchen Zeit."
Gefragt, ob er Menschen in eheähnlichen Verhältnissen als Gemeindeglieder aufnehmen würde, antwortet Bruder Muskolus: "Wenn hier ein Mensch in einem Lebenszusammenhang lebt, den er von der Liebe her gestaltet, d.h. wo zwischenmenschliche Beziehungen wirklich laufen, dann kann das nichts Böses sein. Daß jemand noch nicht diese Konsequenz der Heirat sieht, oder, daß es andere Varianten des Lebens gibt, muß man grundsätzlich bejahen."
Gemeindedisziplin?
"Lebendige Liebe" wendet sich gegen das unbefristete Zusammenleben von Paaren, die zur Gemeinde gehören wollen (S.
149): "Zur Trennung zwischen der Gemeinde und dem Paar wird es kommen müssen, wenn es in der nichtehelichen Lebensgemeinschaft bleiben will oder wenn eine zumutbare Zeit der Prüfung und der
Seelsorge überschritten wird." (Handreichung zu "Lebendige Liebe", S. 22) Im Gespräch tritt Pastor
Grossmann für das Mitspracherecht der Gemeinde in Belangen des Ehe- und Sexualverhaltens ein: "Wer [als Betroffener] dies ablehnt, darf nicht in der Gemeinde bleiben."
Dabei vertritt Peter Muskolus eine gegenteilige Ansicht: "Meine Auffassung ist, daß Ehe- und Beziehungsfragen ferngehalten werden sollten von der Frage: Gemeindemitgliedschaft oder nicht. Für uns gibt es keine Trennung von der Gemeinde in Blick auf ein solches Verhalten. Für die Menschen zwischen 20 und 30 Jahren spielt die Etappenfrage eine ganz große Rolle. Aber das sind doch vorübergehende Erscheinungsformen, auf die man Menschen nicht ein Leben lang festlegen sollte im Blick auf die Mitgliedschaft. Das ist eine Junge-Erwachsenen-Problematik, und wenn man daraus lebenslängliche Konsequenzen zieht, in dem man sagt, 'Wir schließen dich aus der Gemeinde aus,' dann halte ich das theologisch für einen glatten Unsinn."
Auf den Einwand, es bestünden doch eindeutige Fälle von sexuellem Mißbrauch, reagiert Pastor Muskolus mit einer Relativierung: "Es gibt u.a. auch finanziellen Mißbrauch. Wir dürfen ja nicht meinen, daß wir als Christen nicht in der Lage seien, Mißbrauch zu betreiben. Aber der Mißbrauch ist nicht sofort ein Grund zur Trennung. Es gibt Begleitung und das Warten, es werden Gespräche geführt, aber nicht immer mit dieser Ausgrenzungsüberlegung. Wir bleiben als Menschen grundsätzlich miteinander verbunden, auch wenn jemand einen Irrweg oder ein Fehlverhalten an den Tag legt. Dann ist nicht sofort die Frage 'rein oder raus'. Wir haben uns entschieden, die Probleme, die Menschen haben, miteinander zu tragen, auch wenn man dazu eine lange Zeit braucht. Wir denken nicht, daß wir eine reine Gemeinde sein müssen, sondern wir wollen eine Gemeinde sein, die Ja zum Mitglied sagt. Das Mitglied soll wissen, auch wenn es durch schwere Wege und Fehlverhalten geht: Wir stehen als Christen zueinander."
Peter Muskolus meint nicht, daß diese offene Haltung eine Tendenz in Richtung Promiskuität fördert. Vielmehr bezeichnet er die Promiskuität als eine Krankheit: "Nach meinen Erfahrungen ist die Promiskuität kein Lebensstil, in der Regel entstammt sie einer kranken Seele. Wo Promiskuität wirklich gepflegt wird, stimmen auch andere Dinge nicht. Darum würde ich das nicht mit der Gemeinde auf der ethischen Ebene verhandeln, sondern meinetwegen mit einem Psychologen oder Psychiater."
Die Witwenrenten
Hinsichtlich der permanenten Frage, ob Rentner zusammenleben dürfen, um somit die ohnehin kageren Witwenrente nicht zu gefährden, scheint "Lebendige Liebe" vom Standpunkt eines nur befristet zu duldenden Zusammenlebens abzuweichen: "Einzelne Gemeinden nehmen es in . . . Härtefällen hin, daß die Betroffenen unverheiratet zusammenleben; allerdings nur dann, wenn bei einer Eheschließung existentielle finanzielle Probleme entstehen würden." (Handreichung, S. 22)
Heute, fast drei Jahre nach Veröffentlichung dieser Schrift, weist Bruder Grossmann auf einen Ausweg hin, der gewiß nicht nur dem österreichischen Fremdenverkehrsamt Freude bereitet: Die katholische Kirche legt Rentnerpaaren nahe, sich in Österreich kirchlich trauen zu lassen. Die dortige Gesetzgebung gestattet kirchliche Trauungen ohne eine parallele standesamtliche Trauung.
Den Rat von "Lebendige Liebe", lieber zu helfen als zu verurteilen (S. 148), nimmt unsere Pankower Beratungsstelle zu Herzen. Hartmut Wahl räumt ein, daß sehr wenige Paare schon auf Grund ihres Nichtverheiratetseins den Weg zur Beratungsstelle finden: "Das ist eigentlich gar nicht der Grund, weshalb sie zu uns kommen. Wir kriegen das dann im Gespräch nur noch mit." Das dortige Team ist jedoch bemüht, im Falle gesunder Zweierbeziehungen zur Eheschließung zu ermutigen. "Wir versuchen, dem Paar über Skrupel und Bedenken hinwegzuhelfen," versichert Bruder Wahl. "Es handelt sich jedoch zum Teil um ganz tiefe Ängste und traumatische Erfahrungen." Er erzählt vom Fall eines jungen Mannes, der sich verliebt hatte, jedoch nicht den Mut fand, seine Freundin zu heiraten: "Ihm kamen die Ängste, es könnte ihm genauso gehen wie seinem Vater. Würde er in eine Situation kommen, in der er plötzlich diese Frau, die er liebt, so schlägt wie sein Vater seine Mutter geschlagen hat? Da brauchte er wirklich eine Hilfe. Wir versuchten, ihm diese Hilfe auch zu geben."
Bill Yoder
Berlin, circa 1996
Verfaßt für die baptistische Zeitschrift „Wort und Werk“, 1.375 Wörter
Amerkung von Oktober 2021: Der emitierte Pastor Siegfried Grossmann (geb. 1938) wohnt mit seiner Gattin in 38723 Seesen. In den Jahren nach 2000 diente er zeitweilig als Präsident des „Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland“ (BEFG).