· 

Das Wendejahr 1989 + 10

"Wir wollten uns nicht nur anpassen"

 

Im Jahr 1996 machte ich eine Umfrage unter einem Viertel der rund 80 ehemaligen Mitarbeitern des Bundes der Ev.-Freikirchlichen Gemeinden in der DDR. Die Trauer und Enttäuschung, die in den damaligen Befragungen durchschimmerten, habe ich mir als Außenstehender etwa wie folgt erklärt:

 

Bis 1990 war der BEFG-Ost im Landes- und im Weltmaßstab noch wer. Wo sonst gab es Baptisten und Brüder in einem kommunistisch regierten aber historisch mehrheitlich protestantischen Land? Vor Ort konnten die Gemeinden mit einem einzigartigen Angebot aufwarten; auch für Millionen im Weltbaptismus waren die Gemeinden in der DDR ein Begriff. Doch nun im postkom­munistischen Zeitalter werden die Gemeinden in Deutschland-Ost auch von deren Umgebung nur noch als ein Angebot unter vielen empfunden. Der "Normalfall" ist eingekehrt.

 

Mit diesem Verlust an Sichtbarkeit ging eine Kompetenzenverlagerung einher. Manche die Ostgemeinden existentiell betref­fenden Fragen wurden nun fernab in Bad Homburg und Hamburg durch völlig andere Personen und Gremien ent­schieden. Die "Leitungen" wurden länger und schwerfälliger, die getroffenen Entscheidungen weniger transparent. Schon vor 1989 war ein gewisser Abstand zwischen Leitung und Basis vorhanden; diese hatte sich aber über Nacht weiter vergrößert.

 

Zur räumlichen Distanz traten ungewohnte Größenordnungen hinzu. In einem Gemeindebund mit 88.000 Mitgliedern reagiert es sich natürlich anders als in einem mit 16.000. Die westliche Mentalität und andere Größenordnungen brachten einen neuen Führungsstil mit sich. Lohn­erhöhungen und die plötzlich auftretende Geldverknappung (im Westen hatte es traditionell den Waren-, im Osten den Geld­überhang gegeben) machten eine energische Personal­poli­tik not­wendig, die nicht wenige Ostgemeinden und -gremien um ihre hauptamtlichen Mitarbeiter brach­te. Manche Interviewten sprachen 1996 von einem geschäfts­mäßigen Ton und "Managementgebaren": "Da ging das, was unseren Bund im Osten bisher ausgezeichnet hatte, verloren: der ge­schwi­sterliche Umgang." Friedhelm Sachse, Referent für Jugend­arbeit beim Ostbund 1986-92, berichtete von einer "Arbeitge­bermen­talität, an die wir uns erst gewöhnen mußten".

 

Dennoch reagierten viele Ostdeutsche auf die neuen Leiter und deren Leitungsstil eher passiv. "Laßt die erst mal machen, dann sehen wir weiter," war eine häufige Devise. Im Hinblick auf die ostdeutschen Liegen­schaften mit offener Zukunft stellte ein ehemaliger Bundes­mitarbeiter fest: "Man hat den West­brüdern einfach zu viel zugetraut. Wir dachten, sie hätten nach 40 Jahren so viel in der Trickkiste und sie taten auch so, als ob sie es packen würden."

 

Zum Mentalitätsunterschied meinte Bundesevangelist Jörg Swoboda: "Westdeut­sche wirken auf Ostdeutsche oft sehr perfekt und gekonnt. Aber . . . hinter manchem gekonnten Auftreten ver­birgt sich eine ganze Menge Unsicherheit. Nur, es gehört sich im west­deutschen Kontext nicht, so etwas zu signalisieren."

 

Eine Zusammenführung mit Anschlußcharachter

Obwohl anders gewollt, entpuppte sich nach Auffassung der Interviewten die Zusammenführung der Bünde letzlich als eine Wiederholung von Zusammenführungen im politischen Bereich. Daß ein Anschluß stattgefunden habe und es letzlich auch auf kirchliche Ebene im wesentlichen zu einer Vergrößerung bundesrepublikanischer Strukturen und Institutionen gekommen sei, war für die Befragten schwer von der Hand zu weisen. Der kleinere Partner mußte sich dem Gros anpassen. Eine damalige Klage lautete: "Wir werden entweder vernichtend beurteilt oder belächelt. Was am meisten fehlt, ist eine aktive und bewußte Auseinandersetzung mit unserer ostdeutschen Geschichte." Es ist aber unweigerlich so, daß sich der kleinere Partner sehr viel stärker mit dem größeren befaßt als umgekehrt.

 

Ostdeutsche sind überzeugt, daß die Kosten der Wiedervereinigung keineswegs gleichmäßig verteilt worden sind. Die Auf­fassung, es habe sich für Wessis "nichts mehr als die Post­leitzahl verändert" ist auch in unseren Gemeinden geläufig. Beim "Gesundschrumpfen" vom gesamtdeutschen GJW und Seminar standen fast nur ostdeutsche Arbeitsstellen zur Disposition. "Wir sehen nicht, daß da eine Parität wäre," meinte Pastor Bernd Wittchow. "Wir vermißten die Solidarität der Brüder," stellte Siegfried Rosemann, ein Jugendpastor im DDR-Bund, fest. Da ging Friedhelm Sachse noch weiter: "Ein Anschluß war es nicht, es war im Ergeb­nis eine Auflösung. Anschluß hätte geheißen, daß wir (vom GJW-Ost) alle Arbeitsstellen etwa in Hamburg angeboten bekommen hätten."

 

Zur leidigen Gehaltsfrage ist festzustellen, daß sich Pastorengehälter im Osten etappenweise dem Westniveau anzugleichen hatten. Es wurde kein gemeinsamer Orientierungspunkt unterhalb des Westniveaus (z.B. 90% des bisherigen Westgehalts für alle Pastoren) gefunden.

 

Folgen

Wegen dieser nicht zu übersehenden Schönheitsfehler berührten aus dem Westen kommende Aufforderungen zur Freude und Dankbarkeit sensible Stellen. Über die Siegener Bundesvereinigungs­konferenz von 1991 räumte Pastor Ulrich Materne ein: "Das Wiederzuein­anderfinden in Deutschland wurde von allen als ein Geschenk Gottes empfunden. Die Abstimmung darüber hat das sehr deutlich gemacht. Aber die Begeisterung darüber war unter­schiedlich stark." Ostdeutsche sind froh über die Wiederver­einigung, aber sie hat den Verlust dessen bedeutet, was über vier Jahrzehnte mit eigenem Schweiß aufgebaut worden war. "Wir wollten uns nicht nur anpassen," fügte er hinzu. "Wir wollen unsere Dankbarkeit zum Ausdruck bringen, aber zugleich auch etwas von den Unterschie­den, die einfach da sind." "Wir haben nicht nur gewonnen, wir haben auch einiges verloren," folgerte Pastor Manfred Kern. "Zum Beispiel die Sicherheit der Arbeits­plätze."

 

Eine menschliche Entfremdung?

Es ist verständlich, daß die Transformation von einer Spender-Empfänger-Beziehung zu einem partnerschaftlichen Verhältnis Mühe bereitete. Jörg Swoboda berichtete, "daß durch die Öffnung der Mauer selbst bewährte Freundschaften und verwandtschaftliche Beziehungen in die Brüche gegangen sind". Er sagte ferner: "Ich habe mich gefragt, warum. Die Antwort für mich lautet: Die alten Rollen funktionierten plötzlich nicht mehr. Bei den Ostdeut­schen hat es einen enormen Werte- und Selbst­wertverlust gege­ben. Es gab einen Wegbruch der bisherigen Lebenskoordinaten. Das produzierte eine solch große Unsicher­heit im Umgang mit­einander, daß man sich da lieber aus dem Wege ging. Das ist eine menschliche Katastrophe, weil der Zusammenbruch der Mauer in solchen Fällen das geschafft hat, was der Bau der Mauer eigentlich erreichen sollte: die menschliche Entfremdung." Ein pensionierter Ostpastor konstatierte: "Wir haben die gleichen Worte gesagt, aber wir haben verschiedene Dinge gemeint. Es war ein Fehler zu glauben, daß wir uns schon damals vor dem Mauerfall kannten."

 

Als Ergebnis des Anschlusses haben sich eine Reihe von enttäuschten, einst sehr engagierten Gemeindemitarbeitern auf Tauchstation begeben. Einer von ihnen stellte 1996 fest: "Der Bund spielt in unseren Gemeinden keine Rolle mehr." Ein anderer fügte hinzu: "Viele haben kein Interesse mehr am Bund. Die Leute sagen: 'Meine Gemeinde ist mir wichtig.'"

 

Doch 1999 ist zumindest ein ehemaliger Mitarbeiter des Bundes wiederaufgetaucht und hat sich mit erneuter Verve ins Getümmel übergemeindlichen Lebens geworfen. Gewiß werden weitere folgen. Denn einiges hat sich in unserem Gemeindeleben eindeutig verbessert: Der ehemalige Osten fühlt sich in der gesamtdeutschen Bundesleitung eher ausreichend vertreten; das "Hamburger" Seminar und Bundes-GJW befinden sich nun vor den Toren Berlins.

 

Doch wer sich die Berliner Wahlergebnisse zur Europawahl von 13.6.99 anschaut, kann nur ein erhebliches, anhaltendes Denkgefälle zwischen Ost und West im allgemeinen konstatie­ren. Anhand dieser Wahlergebnisse könnte jeder Ortsunkundige mühelos feststellen, welche Stadtbezirke im Westen und welche im Osten liegen. Das schlägt sich auch im kirchlichen Bereich nieder. Das Dahinschwinden aller Unterschiede wird ohne Zweifel noch eine Weile auf sich warten lassen. Und wenn es stimmt, daß sich der Osten nicht nur anzupassen hat, ist es auch gut so.

 

Dr. William Yoder

Berlin, November 1999

 

Verfaßt für die Zeitschrift „Wort und Werk“ in Berlin, 1.115 Wörter