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Charlotte Meschkauskene; ein Wolfskind in Slawsk

Mich interessieren u.a. die Menschen deutscher Abstimmung, die Ostpreußen eigentlich nie verlassen haben. Da gibt es noch einige -innerhalb weniger Tage bin ich auf mindestens vier Namen gestoßen. Einer von ihnen, die Königsberger Christin Elvira Seruga, ist immer wieder im deutschen Fernsehen zu sehen. Doch Ende Februar 2002 bin ich in der evangelischen Kirchengemeinde Slawsk/Heinrichswalde unweit von Sowetsk/Tilsit auf Charlotte Meschkauskene gestoßen.

 

In der Hoffnung, dem Hungertod zu entkommen, war sie wie viele Deutsche 1945 nach Litauen geflohen. Zuvor waren Mutter und Oma verstorben, innerhalb weniger Wochen ist dann auch der Opa, mit dem sie nach Litauen geflohen war, gestorben. Nun stand das 10-jährige Mädchen völlig alleine im zerstörten Litauen auf der Straße. Als rechtloses Kindermädchen konnte sie sich dann einigermaßen durchschlagen.

 

Mit 18 Jahren kam sie unter die Haube bei einem viel älteren Litauer, "damit ich ein Dach über den Kopf bekam", sagt sie heute. Im Jahr 1966 kehrte sie nach Ostpreußen in ein Bauerndorf westlich von Slawsk unweit des Kurischen Haffs zurück. "Ich wollte einfach wieder nach Hause," erklärt sie in ihrem ostpreußischen Hochdeutsch. Dort hat Mitte der 90er Jahre eine deutsche Journalisten sie aufgestöbert, die dann auch dafür sorgte, dass Charlotte zu Besuch nach Deutschland fahren konnte. Hier wurde sie dann 1997 völlig unerwartet mit ihrem Vater auf dem Todesbett zusammengeführt. Das Wiedersehen war verständlicherweise bewegend: Sie hatte ihn seit 1941 nicht mehr gesehen. Die beiden hatten sich seit einem halben Jahrhundert gegenseitig für Tod gehalten. (Ihr Vater war als Soldat in Holland gefangen genommen worden.) Nun, als ihr Vater 92-jährig starb, konnte sie bei der Beerdigung dabei sein.

 

Leider sind für Charlotte die traumatischen Lebensumstände nicht zu Ende. Für die kleinen Landwirte im heutigen Kaliningrader Gebiet gibt es keine Kredite. Charlottes fünf Kinder und deren Familien sind darauf angewiesen, durch den Verkauf von Milch und Käse an Wochenenden auf einem Markt in Tilsit für das eigene Überleben zu sorgen. Eine 43-jährige Tochter erblindet an einem Auge und bedarf eines Medikaments, das vierteljährlich 800 Rubel (30 Euro) kostet. Doch soviel überschüssiges Geld hat die Großfamilie nicht.

 

Mir kommt die DDR zunehmend wie eine Episode vor - sie entschwindet der heutigen Realität immer mehr. Die Folgen des von den Nazis entfachten Krieges scheinen viel zählebiger zu sein. Erst recht an einem Ort wie dem russischen Nordostpreußen.

 

Charlotte hat bis heute das 4. Schuljahr nicht abgeschlossen. Doch bei zumindest einer Sache muss ich bei Charlotte in die Schule gehen: Sie kann mir etwas darüber beibringen, in welcher Weise der Glaube an Christus einen Menschen tragen und durchbringen kann.

 

William Yoder

Kaliningrad, den 4. März 2002

 

Verfaßt für den "Aufbruch", das Blatt der Ev..-Freikirchlichen Gemeinde Berlin-Schöneberg, Hauptstr., 420 Wörter

 

Nachtrag von August 2021: Das Kaliningrader Wolfskind Elvira Seruga lebte von 1930 bis 2010. Sie erzählte dem Verfasser im Oktober 2002, es gebe in der russischen Exklave nur noch 12 „alte Ostpreußen“ d.h. Wolfskinder. Im Juni 2021 war Charlotte noch immer Mitglied der lutherischen Gemeinde in Slawsk (einst Heinrichswalde).