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10 Jahre Gemeinde Slawsk/Heinrichswalde

Gemeindehaus links, Stadtkirche rechts. Aufnahmen des Verfassers vom 28. März 2021.

 

Für Pfarrer Istvan Thuranszky lassen sich zwei Fragen im Falle der Gemeinde Slawsk/Heinrichswalde leicht beantworten. Nach seiner Überzeugung ist es der emsigen Arbeit der inzwischen hochbetagten Edith Fetingene zu verdanken, dass sich diese florierende Gemeinde gerade in Slawsk und nicht etwa in den größeren "Zwillingsstadten" von Sowetsk/Tilsit und Neman/Ragnitz befindet. Hätte Frau Fetingene damals am Grenzfluss Nemen/Memel gewohnt, würde die evangelische Kirchenkarte heute anders aussehen.

 

Istvan Thuranszky, seit Oktober 2000 Pfarrer der Gemeinde, ist ferner klar, dass Russland "das interessanteste Land Europas" sei. Gerade hier gebe es "viel wilde Natur"; gerade hier seien Menschen für Glaubensfragen besonders offen. Für diesen ungarischen Geistlichen, der zuvor sechs Jahre lang als Pfarrer in Nagybörzsöny an der Grenze zur Slowakei diente, hätte der Dienst nicht unbedingt in der Oblast Kaliningradskaja stattfinden müssen. Gott hatte es eben so gefügt, dass Propst Erhard Wolfram ihn als Erster zu einem Pastorendienst in Russland einlud. Zur Attraktivität Russlands gehört aber auch, dass Pastor Thuranszkys Ehefrau, Valeria Lesetar, eine russische Mutter hat.

 

Das Gedeihen der Gemeinde Slawsk hat gewiss damit zu tun, dass sie über treue Freunde in Deutschland verfügt. Hierzu erzählt Gemeindevorsteherin Nina Plissowa eine Anekdote: Es waren vor allem die Gemeindefreunde aus Karby, die sich am Stricken von Wolldecken und -socken beteiligt hatten. Fur die Gottesdienste in der großen, unbeheizten Stadtkirche waren sie dringend erforderlich; erst mit der Einweihung des neuen Gemeindezentrums am 26.08.1996 wurden sie überflüssig.

 

In der Stadtkirche hatte für die Evangelischen alles Offizielle mit der Gemeindegrundung am 12.05.1992 begonnen. Eingangs feierten alle drei Konfessionen (Orthodox, Katholisch, Evangelisch) ihre Gottesdienste in der Stadtkirche; doch bald wurden nur noch orthodoxe Gottesdienste gestattet. Es konnte dennoch ein Nutzungsvertrag ausgehandelt werden. Durch eine Bezahlung der Propstei an die orthodoxe Kirche, die sie befahigte, an einem anderen Ort einen Raum fur ihre Gottesdienste einzurichten, konnte der lutherischen Gemeinde im Oktober 1995 das Nutzungsrecht fur die Stadtkirche zugesprochen werden.

 

Doch nicht nur den Orthodoxen war diese Kirche zu groß fur den täglichen Gebrauch und die Sanierungskosten zu gewaltig. Aus finanziellen Gründen ruhen nun seit vier Jahren die Sanierungsarbeiten. Nach wie vor ist der Förderkreis "Stadtkirche Heinrichswalde e.V." mit Sitz in Volkmarsen dabei, Gelder fur die Sanierung zu sammeln. Zumindest das Dach ist dicht und der Turm stabilisiert; der Erhalt dieses 1869 erbauten kulturellen Kleinods - einst beherbergte es ein Gemalde von Leonardo da Vinci - scheint fur künftige Generationen gesichert.

 

Dafur genießt die evangelische Gemeinde ihr Leben im ehemaligen Gemeindehaus der Landeskirchlichen Gemeinschaft. Mit deutscher Fernhilfe und einheimischem Fleiß ist in diesem im 19. Jahrhundert erbauten Haus ein hochst brauchbares, strahlendes Gemeindezentrum entstanden. Diese eher kleine Kirche verfügt uber etwas, das nicht einmal die Kaliningrader "Auferstehungskirche" hat: Dank einer Spende der Gemeinde Korbach werden die Gottesdienste mit einer richtigen Kirchenglocke ein- und ausgeläutet.

 

Doch der große Reichtum dieser Kirchengemeinde besteht nicht in ihren Immobilien: Neben den 86 Vollmitgliedern gibt es über 60 Kinder. Zu diesem Reichtum an kleinen Menschen trägt nicht zuletzt die Diakoniegemeinschaft Puschendorf bei. Diakonisse  ist seit sieben Jahren im Auftrag dieser aus dem Großraum Nurnberg stammenden Schwesternschaft in Slawsk unterwegs. Nach unzähligen burokratischen Hürden konnte sie im Oktober 2000 das Kinderheim "Swetlatschok" (Gluhwürmchen) eroffnen. Heute werden von ihr und Ottilie Schmidt sieben Kinder im Alter bis neun Jahren liebevoll betreut. (Hinzu kommt Rosmery, die 12-jährige Tochter von Frau Schmidt.) Die Direktorin Schwester Barbara stellt mit Genugtuung fest, dass das Heim Fuß zu fassen beginnt in der Bevölkerung. "Warum macht Ihr das eigentlich?" ist eine haufige Frage. Staatliche Ämter seien nach Schwester Barbara erstaunt daruber, "dass wir Wort gehalten und angefangen haben". Über einen Mangel an kleinen Anwärtern kann nicht geklagt werden. "Wir hatten genugend Anfragen, um ein zweites Heim aufmachen zu konnen," erzählt die Heimdirektorin.

 

Angefangen hat das Puschendorfer Engagement mit Hilfslieferungen. Noch heute beliefern Puschendorfer die Schulen und das Krankenhaus von Slawsk mit lebenswichtigen Gütern.

 

Lohnt sich der große, internationale Aufwand fur diese kleine Gemeinde am Standort Slawsk? Davon ist Frau Plissowa uberzeugt. Zu Sowjetzeiten hatten sie und ihr Mann sehr wenig über den Glauben gewusst; erst 1995 konnten die beiden getauft und konfirmiert werden. Am 24. Marz 2002, nur wenige Wochen vor dem 10. Jubilaum dieser Gemeinde, werden 10 weitere Gläubige getauft oder konfirmiert werden. Darum geht es ja letztlich: dass Menschen den Weg zu Christus finden. Und trotz aller Ausreisen Richtung Deutschland bleibt die Evangelische Kirchengemeinde eine bedeutende christliche Gemeinschaft in Slawsk.

 

Dr. William Yoder

Kaliningrad, den 20. Marz 2002

 

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Nachtrag von September 2021: Den Liebesdienst der Treuen möchte ich keineswegs übersehen, doch der Gemeindebesuch am 28. März 2021 machte auf mich einen traurigen Eindruck. Nur 10 Personen (alles Erwachsene) waren zum Gottesdienst erschienen. Läden am benachbarten Marktplatz sowie Taxifahrer wußten nicht, daß es in der Uliza Lenina 5 eine evangelische Gemeinde gibt.

 

Im November 2002 kehrte Istvan Thuranszky in die ungarische Heimat zurück; seit etwa sechs Jahren kommt diese Gemeinde ohne einen eigenen Pfarrer aus. Noch engagiert sich Barbara Weith für das Kinderheim. Laut „Wikipedia“ wird die Stadtkirche seit 2013 als örtliches Infozentrum benutzt.