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Wenn einem die alte Ideologie genommen wird

Gewalt und soziale Note im Baltikum

 

Auf seinen über Jahrzehnte bewährten, gewaltlosen Widerstand gegen die Sowjetherrschaft ist das inzwischen unabgängige Litauen stolz. Giedre Gadeikyte, Dozentin für Konfliktbewältigung und Soziologie am „Lithuania Christian College“ (LCC) in Klaipeda/Memel, weist jedoch darauf hin, dass sich dieses gewaltlose Erbe nicht automatisch auf andere Gesellschaftsgebiete übertragen lässt.

 

Zu Zeiten der Sowjetunion war der litauische Gewaltpegel niedrig; der Zusammenbruch der sozialistischen Staatsordnung brachte einen blitzartigen Anstieg von Gewalt und Kriminalität mit sich. Vielleicht hat die Kriminalitätswelle ihren Zenit noch nicht erreicht: Im Jahr 1990 registrierte Litauen bei einer Bevölkerung von rund 3,5 Mio. Einwohnern 37.056 Straftaten; 1995 waren es bereits 60.819. Im Jahr 2000 waren es 82.370. Dabei ist das Verhalten von Jugendlichen besonders problematisch: Im Jahr 2000 begingen 18- bis 29-Jährige 47% aller Verbrechen in Litauen obgleich sie nur 17% der Bevölkerung ausmachen.

 

Allerdings ist der Anstieg nicht quer über alle Kriminalitätsspalten zu verzeichnen: Die Mordstatistik hat seit 1995 wieder abgenommen; die Kriminalitätsraten bei Beschäftigten und Studierenden fiel von 56% in 1990 auf 5% im Jahr 2000.

 

Offensichtlich erschweren die sich verändernden Geschlechterrollen die ohnehin problematische Integrierung junger Männer. Frau Gadeikyte stellt fest: „Was die Gesellschaft von den Männern erwartet, steht im Widerspruch zur faktischen Rolle der Männer in der Gesellschaft.“ Die für Männer gesteckten Ziele werden von ihnen nicht erreicht. Die litauischen Selbstmordraten sollen die höchsten Europas sein – und dabei handelt es sich vor allem um Männer. Die angestaute Frust führt zur Selbstzerstörung. In ein paar breit publizierten Fällen haben junge Männer eigene Elternteile aus Habsucht ermordet.

 

Ein in Kaliningrad/Königsberg (Russland) tätiger Gerichtspsychologe ist sich mit Frau Gadeikyte darin einig, dass Kriminalitätsraten unmittelbar mit wirtschaftlicher Not und Beschäftigung verkoppelt sind. Dies verbindet der 43-jährige Psy­chologe noch mit dem Aufkommen materialistischer, konsumorientierter Werte. Nach ihm setze der vermeintliche Zwang zur Erringung eines konsumorien­tierten Lebens junge Menschen massiv unter Druck. Allerdings gebe es dabei nur eine begrenzte Zahl an legalen Optionen, um die Erfolgsleiter zu erklimmen. Deshalb werden ständig illegale Optionen ausgekocht, die einen verkürzten Weg zum ersehnten wirtschaftlichen Erfolg verheißen. Dieser neue, von der Konsumwelt erzeugte Druck erklärt der auf der Krim aufgewachsene Russe auch wie folgt: „Als wir noch keine Vergleichsmöglichkeiten hatten, erkannten wir die eigene Armut nicht. Wir waren glücklich, da wir nicht wussten, dass wir eigentlich unglücklich sein sollten.“

 

Der Psychologe bedauert ferner, dass jungen Russen der Glaube an eine lichte Zukunft und einen positiven Ausgang des nationalen Geschehens genommen worden sei. „Junge Leute träumen von der Auswanderung,“ erzählt er. „Sie glauben nicht mehr an Russland, und das hat verheerende Folgen für unser Land.“ Obendrein wirke die sich anhaltende Korruption unter Teilen der Polizei demoralisierend auf die mit der Verbrechens­bekämpfung befassten Kreise aus.

 

Beide Gesprächspartner waren der Auffassung, dass bei der Bewältigung dieser Herausforderung die Kirchen des Baltikums noch ganz am Anfang stünden. Giedre Gadeikyte, die in Litauen die freikirchliche „Freie Christengemeinde“ besucht, meint, dass allgemein etwa in Predigten die soziale Not der Menschen angesprochen werde. „Doch Kirche, soziales Engagement und soziale Gesetzgebung bleiben getrennte, voneinander unabhängige Bereiche.“ Der konfessionslose Gerichtspsychologe behauptet sogar: „Ich habe noch nie einen Kriminellen erlebt, der sich dank religiösen Einflusses gebessert hätte.“ Trotz des Baus von orthodoxen Kapellen auf Gefängnishöfen und der Tätigkeit von orthodoxen und katholischen Seelsorgern kann er keinen positiven Wandel feststellen. Für ihn beschränke sich die religiöse Tätigkeit im wesentlichen auf das Rituelle – vom Wirken russischer Gefängnisiniti­ativen wie die des wegen Watergate verurteilten Amerikaners Charles Colson weiß er nichts.

 

Es sind dennoch diakonische Initiativen am Wirken, die sich um das seelische Not der Bedürftigen kümmern. Der Franziskaner-Orden bemüht sich in Pakutuvenai/Litauen um die Rehabilitation von Suchtkranken. Das Gleiche versucht das vom Potsdamer Pietisten Traugott von Below geführte Drogentherapiezentrum Snamenka, das sich am südöstlichen Rande des Königsberger Gebiets befindet. Im Westen relativ bekannt ist die Arbeit mit Straßenkindern in Kaliningrad und St. Petersburg.

 

Initiativen zur Verbreitung der Hilfsmittel von Mediation und Konfliktbewältigung stecken noch in den Kinderschuhen. In der litauischen Hauptstadt Vilnius sind die „Baltic Partners for Change Management“ (www.partnersbaltic.lt) bemüht, Mediations-Dienste für Kommunen, Familien und Firmen ins Leben zu rufen. Dabei soll auch das Gerichtssystem entlastet und leichte Strafmaßnahmen durch rehabilitierende Optionen ersetzt werden.

 

Auf wissenschaftlichem Gebiet hat das litauische LCC den Anfang gemacht und für die Mediation und Konfliktbewältung eine Art Lehrstuhl eingerichtet. Er wird geleitet von Frau Gadeikyte, einer Absolventin der in diesem Fach führenden, mennonitischen „Fresno Pacific University“ in Kalifornien.

 

Da sieht auch der russische Gerichtspsychologe ein, dass der Gottesglaube eine aufbauende Wirkung auf Betroffene haben könnte. „Er sagt: „Es ist sehr gut, wenn Menschen an einen Gott glauben. Das ist allemal besser als der blanke Atheismus.“

 

Dr. William Yoder

Kaliningrad, den 16. Februar 2004

 

Verfaßt für das Blatt, "Die Gemeinde", in Kassel. Sie ist das Blatt der deutschen Baptisten.