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Eine mit Baptisten liierte Pastorin

Ein schreiender Stein

 

Shirinai Dossowa (oder Dosowa) hat ihre Gemeinde in Moskau-Mitte fest in der Hand. Aber man merkt das nicht – dafür sorgen ihre Charisma und Charme. Bei den rund 100 Besuchern im Konferenzsaal einer Hochschule geht es freundlich und locker zu. Geburtstage und Krankheitsfälle werden erwähnt. Gesang und Wortbeiträge erfolgen spontan und ohne jeden Ritus. Jeder Gast hat sich vorzustellen. Es ist klar, daß hier jeder willkommen ist - nur anonym bleiben kann keiner.

 

Beinahe hätte es diese bezaubernde Gemeinde gar nicht gegeben. In ihrer Selbst­biographie gibt Schirinai zu, daß in den 90er Jahren die evangelikale Ausreisewelle Richtung USA sie beinahe mit fortgespült hätte. Doch war es der Arbat, der ihr das Anker reichte. Dort in jener Flaniermeile war sie 1991 auf den Mann gestoßen, der sie zum Glauben führte. Wiktor Pawlowitsch hatte aus Glaubensgründen 12 seiner 60 Jahre im Gefängnis verbracht. Das faszi­nierte die 33-jährige. Noch haperte es mächtig mit den Bibelkenntnissen, doch schon am zweiten Tag nach der Begegnung mit Wiktor – und am ersten Tag nach der Bekehrung - begann die Buchhalterin mit dem Predigen auf dem Arbat. Sie liebt gerade das, was nach ihren Angaben die allermeisten Moskauer Pastoren scheuen: das Glaubensgespräch im Freien. Ein Foto zeigt sie mit Megafon und Menschenpulk direkt vor dem Lenin-Mauselum auf dem Roten Platz. Ihr ist das Predigen im Freien so selbstverständlich wie das Amen in der Kirche. Dem Arbat auch hat sie im wesentlichen ihre Gemeindeherde zu verdanken.

 

Eine entbehrungsreiche Kindheit hat bei Schirinai tiefe Spuren hinterlassen. Da der Bruder ihrer Mutter zum „Volksfeind“ gestempelt wurde, wurde die Familie der Mutter 1941 von der ukraini­schen Heimat nach Usbekistan verschleppt. Dort, im kriegsbedingten Volksgewim­mel lernte die Mutter ihren Ehemann, einen Tadschiken und Muslimen, kennen. Dem Paar wurden 10 Kinder beschert; Schirinai gehört zu den drei Paaren von Zwillingen. Schon in sehr jungen Jahren mußte sie die schwere Arbeit auf dem Acker aufnehmen. Deshalb mußte sie sich ihrer Bildung nachträglich aneignen.

 

Schirinais Familie entsprach dem Durchschnitt – auch bei ihnen war es die Mutter, die die Hosen trug. Das traf auch im körperlichen Sinne zu. In ihrem Buch erzählt Schirinai, daß wenn die Eltern schwerbepackt den Lebensmittelladen verließen, es die Mutter war, die auf dem Nach-Hause-Weg das Erworbene zu schleppen hatte. „So war das in der muslimischen Kultur,“ schreibt Schirinai.

 

Obwohl ihre Mutter niemals hörbar über Glaubensfragen sprach, bezeichnet Schirinai sie als „große Heilige“. Zu den orthodoxen Festtagen wurde die gesamte muslimische Nachbarschaft eingeladen. Ihre Lebensart war das Zeugnis. Doch der Tod der Mutter war nicht weniger schwer als das Leben: Sie starb mit 64 Jahren nach langer Krankheit an Krebs. Jesus und die eigene Mutter sind die Helden dieser Pastorin. Es ist kein Wunder, daß aus der Tochter ebenfalls eine Powerfrau wurde.

 

Kontakte hat diese nur russischsprechende Frau. Seit Jahren ist sie Mitarbeiterin des Korntaler Missionswerkes „Licht im Osten“; mit der südbaptistischen „Curtis Baptist Church“ in Augusta (Bundesstaat Georgia) ist sie aber auch verbunden. Studiert hat sie nicht nur in Moskau und Rumänien; bei der Theologin Kay Arthur in Chattanooga (Bundesstaat Tennessee) absolvierte sie ein „induktives“ Bibelstudium. Im November 2005 bereiste sie Deutschland. Die Versorgung ihres Zwillingsbruders Schakar – er ist Gemeindepastor in Usbekistan – ist in starkem Maße den Kontakten seiner Schwester zu verdanken. Über Scherereien an der Grenze zu Usbekistan kann sie inzwischen eine Menge berichten.

 

Es ist z.Zt. auch nicht sonderlich klar, zu welcher Kirche Schrinais Gemeinde gehört. Als sie gegründet wurde, zählte ihre Gemeinde zu den Baptisten und versammelte sich in baptistischen Räumlichkeiten. Doch bei einer Umregistrierung 2002 landete die Gemeinde offiziell bei den ihnen verwandten Evangeliumschristen. Aber nach wie vor fühlt sich die Gemeinde den Baptisten am nächsten. Die Pastorin unterstreicht, daß sie nicht im Streit mit den Baptisten liege. „Bei den Baptisten bezeichne ich mich nicht als Pastorin,“ erläutert sie. „Bei ihnen bin ich nur Gemeinde­leiterin (Rukowoditel), und das ist kein Problem.“ Diese Beteuerung könnte auch wirklich stimmen, denn leitende russische Baptisten berichten warmherzig vom Gemeindedienst dieser Frau. An ihrer Theologie haben sie nichts auszusetzen.

 

Schirinai Dossowa ist keine Emanze; eine geistliche Leiterin des russischen Baptismus will sie nicht werden. „Aber die Männer sollten an sich arbeiten,“ fügt sie hinzu. „Es wäre besser, wenn die Männer vorangehen würden. Wir würden ihnen gerne mehr Verantwortung übertragen. Doch weder in Gesellschaft, Familie noch Gemeinde sind sie bereit, die ihnen zustehende Verantwortung zu übernehmen. Die männlichen Verkündiger müssen sich anstrengen, sich bilden,“ sagt sie. „Warum eigentlich,“ erwidern die Männer. „Wir haben in der Gemeinde nur Frauen vor uns!“ „Aber die Frauen können auch eine tolle Arbeit machen!“ erwidert sie trotzig. Auch in der Gemeinde, und nicht nur „in der Welt“, werden Frauen oftmals diskriminiert. In Rußland sind rund Dreiviertel der Besucher von baptistischen Gottesdiensten weiblich. Sie versichert: Die Zeit werde zeigen, welcher Weg der Beste sei.

 

Als ich bei ihr den Gottesdienst besuchte, hatte nach einer Bedenkzeit ein Diakon es gerade abgelehnt, beim pastoralen Dienst der Gemeinde mitzuwirken. Das enttäuschte Schirinai schwer: „Er meint, er sei für den Dienst noch nicht vorbereitet. Doch das verstehe ich nicht.“ Sie fuhr fort: “Christus sagte, daß die Steine schreien werden, wenn wir selber das Wort nicht verkündigen. Genau das bin ich auch - ein Stein.“ Aber ein ganz gewöhnlicher Stein ist Schirinai Dossowa wirklich nicht.

 

Dr. William Yoder

Berlin, 14. Januar 2006

 

Erschienen im Blatt der deutschen Baptisten, „Die Gemeinde“/Kassel, im 2.2006, 860 Wörter.