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Dimitri Lotov und das Vorhaben St. Peter-und-Paul

Die Begegnung von Himmel und Erde

 

M o s k a u - Dimitri Lotov begann seinen pastoralen Dienst 1992 in einer Kirchenruine in Samara/Wolga. Steinig und steil war der Weg, doch inzwischen hat Lotov, Pastor der russischsprachigen, lutherischen Gemeinde in der Moskauer Kathedrale St. Peter und Paul, einen Erfolg aufzuweisen. Dieser läßt sich am besten mit den Ohren vernehmen: die 1898 von der Firma W. Sauer in Frankfurt/Oder erbaute Orgel. Im Jahr 1928 mußte sie aus der von den Bolschewiki zum Abbruch vorgesehenen St.-Michaelis-Kirche geborgen werden; 1996 konnten Pastor Lotov und andere sie mit List und Tücke aus einem Moskauer Krematorium holen und in die St. Peter-und-Paul-Kirche überführen. Doch erst nach dem Eintreffen von Spenden in ausreichender Höhe konnte ernsthaft mit der Restaurierung begonnen werden. Wurde die Leistung dieser Orgel für die Kathedrale zu klein sein? Als am 2. Dezember 2005 die ersten Akkorde nach Jahrzehnten erklangen, waren alle Ängste des leidenschaftlichen Organisten Lotov verflogen. Zum 100. Jubiläum der Kathedrale am 18. Dezember letzten Jahres konnte die Orgel gehört werden; im Februar 2006 vollendete die Halberstädter Werkstatt Reinhard Hüfken die Restauration. Der Pastor nennt das Ergebnis seiner Mühe um die Orgel „den Sieg in einem 12-Jahre-währenden Kampf“.

 

Ein zweites, viel größeres Erfolgserlebnis läßt noch auf sich warten: die Wiederherstellung der Moskauer Bischofskirche in seiner ursprünglichen Pracht. Im Jahr 1993 war die Kirche unweit des Kreml den Lutheranern wieder zur Nutzung übergeben worden. Ursprünglich war daran gedacht, die im Kirchenschiff eingezogene Zwischendecke zu belassen und nur den ersten Stock als gottesdienstlichen Raum zu nutzen. Doch im Jahr 2004 trafen unerwartet hohe Zuwendungen seitens des russischen Staates ein und sie hatten zur Auflage, daß das gesamte Kirchenschiff in seinen Urzustand zurückversetzt wird. Manche Kirchenvertreter freute das wenig, doch Pastor Lotov hatte von Anfang an kein anderes Ziel im Auge.

 

Wahrung des Ursprünglichen und Kontinuität sind für Dimitri Lotov das A und O. Ihm ist es eine besondere Genugtuung, daß noch zwei Frauen zu den Gemeindegliedern gehören, die schon vor der erzwungenen Schließung der Kirche 1938 dabei waren. In alten Kirchen fühlt er sich “wie ein Fisch im Wasser“; sogar die kleine Wohnung seiner vierköpfigen Familie verfügt über einen neugotischen Altar. Er feiert die Liturgie so, wie sie im Zarenreich vor 100 Jahren gefeiert wurde. In der Thomaskirche zu Leipzig mußte der Moskauer Pastor mit Entsetzen feststellen, daß die dortige Orgel keine Sauer-Orgel mehr sei: Heute sei sie technisch verfremdet – nur noch die polierten Firmenschilder geben das Erbe der Firma Sauer wieder. „Das ist nicht mehr der ursprüngliche Klang,“ stellt er entsetzt fest. „Ihr fehlt nun die Aroma des 19. Jahrhunderts.“ In Moskau ist das anders.

 

In Moskau soll die hohe, an einer Säule angebrachten Kanzel wiederentstehen. Der 40-jährige Pastor führt die Abschaffung oder Nichtnutzung derartiger Kanzeln auf „westliche Dummheit“ und ein falsches Verständnis von Demokratie zurück. Doch waren die überdachte Kanzel vorne und die Orgel hinten wesentliche Bestandteile des durchdachten, akustischen - und visuellen - Konzepts der Kirchenerbauer.

 

Lotovs Geschmack läßt kleine Änderungen zu, wichtig ist ihm jedoch, daß eine neugotische Kirche auch neugotisch bleibt. Eine Vermischung von Stilen – siehe die Lübecker Marienkirche - kann er nicht ertragen. Geht es nach ihm, wird die Moskauer Bischofskirche Aushängeschild und Prachtstück des russischen Luthertums sein. Er meint, keine der zahlreichen lutherischen Kirchen Petersburgs sei mit annähernd gleicher Präzision zurückgebaut worden. „Moskau ist das Herzstück Rußlands,“ erzählt der Pastor. „Viele Menschen werden sich anhand dieser Kirche ihre Meinung zum russischen Luthertum bilden. Deshalb muß sie die schönste evangelische Kirche in ganz Rußland sein. Rußland hat eine tausendjährige kirchliche Tradition. Nach russischer Überzeugung halten Sekten ihre Gottesdienste in Schulen ab. Nur wer sich in historischen Gebäuden trifft, kann eine Kirche sein.“

 

Noch vor Ende 2006 soll die entgültige Einweihung stattfinden. Doch auf Termine legt sich Lotov nicht gerne fest: Wichtig ist ihm nicht der Zeitpunkt der Vollendung, sondern die Qualität des Ergebnisses. Nun soll der Rückbau der gesamten Kirche statt drei, fast 10 Millionen Euro kosten. Aber den Optimismus des russischen Pastors dämpft das nicht.

 

Warum steht Dimitri Lotov mit Haut und Haaren auf neugotischen Schmuck und hochkirchliche Liturgie? Als 13-jähriger Sprößling einer atheistischen Moskauer Familie überwältigte ihn die neugotische Aura der nie geschlossenen, Rigaer Alt-Sankt-Getrauden-Kirche. Heute muß für ihn jedes Detail in Kirchenbau und Liturgie stimmen, der Gottesdienst habe sich mit großer Präzision abzuspielen. Wenn Liturgie und Umgebung eine Einheit bilden, entsteht ein Ambiente, in dem sich Himmel und Erde begegnen. Es geht nicht nur um die Predigt, sondern um das gesamte Erlebnis. So fand er als Junge in Lettland den Weg zum christlichen Glauben. Er ist überzeugt, anderen wird es ähnlich ergehen. Die für St. Peter und Paul vorgesehenen Konzerte sollen keine billige Unterhaltung sein, auch sie werden zur Schaffung christlichen Glaubens beitragen.

 

Die Kathedrale St. Peter und Paul gehört zur ELKER, der Evangelisch-Lutherischen Kirche - Europäisches Rußland. Die ELKER gehört ihrerseits zur in St. Petersburg beheimateten ELKRAS (Ev.-Luth. Kirche in Rußland, Ukraine, Kasachstan und Mittelasien). Die ELKRAS vertritt rund 40.000 Christen evangelischen Glaubens, die sich in 300 Gemeinden versammeln. Lotovs gleichberechtigter Partner und Pastor der deutschsprachigen Gemeinde St. Peter und Paul ist Gottfried Spieth. Bischof der ELKER ist Siegfried Springer.

 

Dr. William Yoder

Moskau, den 26. Juni 2006

 

Artikel in Absprache mit der ELKER verfaßt und zur Veröffentlichung freigegeben, 835 Wörter.

Anmerkung von Juni 2021: Im Herbst 2010 trennte sich Dmitri Lotow von der „Evangelisch-Lutherischen Kirche Europäisches Rußland“ und verließ die „St. Peter-und-Paul“ Kathedrale. Dabei nahm er ein Großteil der dort vorhandenen Gemeinde mit sich. Im Mai 2015 schloß sich diese Gemeinde der in St. Petersburg beheimateten „Evangelisch-Lutherischen Kirche Ingermanlands in Rußland (ELKIR)“ an. Siehe hierzu unsere Meldungen vom 4. November 2012 und 3. April 2016 u.a.