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Wer sind die "Evangeliumschristen"?

Sind wir ein Bindestrich oder ein "Und"?

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Wer sind die Evangeliumschristen innerhalb der RUECB?

 

Reportage

 

M o s k a u – Wer genau sind die „Evangeliumschristen“ innerhalb der “Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten” (RUECB)? Manchmal tragen wir Baptisten selbst zur generellen Verwirrung bei. Der russischsprachige Teil der Webseite des Moskauer Seminars der RUECB (www.moscowseminary.org) berichtet völlig korrekt von „Evangeliumschristen-Baptisten“, doch die Überschrift auf der englischsprachigen Seite lautet „Union der Evangeliumschristen und Baptisten“. Handelt es sich bei unserer Union um einen Bindestrich oder um ein „Und“? Sind wir eine einzige, aus zwei Zweigen bestehende Konfession, oder sind wir tatsächlich zwei verschiedene Konfessionen? Wahrscheinlich sind wir einer Fehlbezeichnung aufgesessen, denn die wenigen leitenden Persönlichkeiten, die ich dazu befragte, hielten ein „Und“ für die passendere Variante. Der 1928 geborene Dr. Alexei Bytschkow, Generalsekretär des „Allunionsrates der Evangeliumschristen-Baptisten“ von 1971 bis 1992, der danach als Baptistenpastor diente, sieht sich wieder als „Evangeliumschristen“. „Anfangs hatte ich mich als Evangeliumschristen verstanden, doch als ein Leiter der gesamten Union, geriet diese Identität in Vergessenheit.“

 

Evangeliumschristen und Baptisten haben sich erst 1944 – unter nicht gerade freiwilligen Umständen - zu einer Denomination, dem „Allunionsrat der Evangeliumschristen-Baptisten“ zusammengeschlossen. In den Jahren der Verfolgung nach 1944 ließe sich das Verhältnis zwischen den beiden Konfessionen wohl am ehesten als „Bindestrich“ bezeichnen. Doch in den Jahren seit der Perestroika hat das Empfinden für die konfessionellen Unterschiede wieder zugenommen. Manche spalteten sich vom Allunionsrat ab. Zwei der 10 Denominationen, die heute zum „Öffentlichen Rat“ baptistischer Kirchen gehören, bezeichnen sich als „Evangeliumschristen“. Im allgemeinen waren Evangeliumschristen städtisch-bürgerlicher, ausgebildeter, stärker sozial-gesinnt und ökumenischer als ihre zahlreicheren baptistischen Geschwister. Doch der Baptist Alexander Zuzerow, der gegenwärtig als Rektor des „Moskauer Seminars der Evangeliumschristen“ fungiert, definiert die Evangeliumschristen schlicht als „theologisch konservativ. Sie bejahen die verbale Inspiration und die Unfehlbarkeit der Schrift.“

 

Die Entstehungsgeschichte der Evangeliumschristen ist mit dem Namen von Iwan Prokhanow (1869-1935), der in einer Familie von Molokhanern in Wladikawkas aufwuchs und sich 1887 den Baptisten anschloß, eng verbunden. Später siedelte er sich in St. Petersburg an, wurde Mitglied der Evangeliumschristen und bleib Anführer dieser Bewegung von 1908 bis 1928. Ihm gelang es nicht, Baptisten und Evangeliumschristen zu vereinen, doch die Einheit der Evangelikalen blieb sein ständiges Anliegen. Er ist bekannt wegen des Satzes: „Im Grundsätzlichen Einigkeit, im Zweitrangigen Freiheit, und in allem insgesamt Liebe.“ In seinem Streben nach christlicher Einheit sprengte er sogar die Rahmen der evangelikalen Bewegung. Nach Verhaftung des Patriarchen Tikhon 1922 erklärte er sich solidarisch mit seinem ehemaligen Unterdrücker: der Russischen Orthodoxen Kirche. Für eine begrenzte Zeit vor 1928 trat er sogar für eine Form des christlichen Sozialismus ein.

 

Doch heute ist das Profil der Bewegung verwässert und ihr Name muß oftmals als Ausweg für Gruppen herhalten, die sich nicht als „Baptisten“ bezeichnen wollen. Ein weiteres Beispiel des gleichen Phänomens ist die Neigung von Pfingstkirchen, sich auf den Namen „evangelisch“ zu beschränken. Das geschieht meistens sehr zum Bedauern der benachbarten, lutherischen Gemeinden. Obwohl die fundamentalistische und separatistische Theologie vieler Aussiedler aus der UdSSR sie am anderen Ende des theologischen Spektrums gegenüber den einheimisch-russischen Evangeliumschristen setzt, agieren nicht wenige von ihnen unter dem Fittichen „Evangeliumschrist“. Das wurde größtenteils getan um eine Verwechselung mit den einheimischen, deutschen Baptisten zu vermeiden, die von den Aussiedlern als theologisch liberal angesehen werden. Zuzerow behauptet, es könne in Rußland bis zu 20 Gruppierungen geben, die sich als „Evangeliumschristen“ bezeichnen. Ganz offensichtlich sind „Evangeliumschristen“ sowohl eine konkrete Konfession wie eine sehr generelle Bezeichnung vergleichbar mit dem Terminus „Protestant“.

 

Plötzlich sind die Evangeliumschristen als selbstständige Große in Rußland wieder sichtbar geworden. Der Moskauer Unternehmer Alexander Semtschenko, bis Februar 2008 ein lebenslanger Baptist, führte in einem Moskauer Hotel Ende April 2009 eine Konferenz mit fast 1.000 Teilnehmern durch. Anlaß war das hundertjährige Jubiläum der Gründung der von Prokhanow angeführten „Allrussischen Union der Evangeliumschristen“. Semtschenko ist für den Vorwurf anfällig, er haben den Namen „Evangeliumschrist“ nur genutzt als Vehikel, um Organisationen parallel zur RUECB aus dem Boden zu stampfen. Er hat dennoch mehr Anrecht auf den Namen als andere, denn er ist immerhin im vorigen Jahr zum Bischof der „Union der Kirchen evangelischer Christen” – wohl genauer als „Union der Kirchen der Evangeliumschristen“ zu übersetzen – ernannt worden.

 

Moskauer Seminar der Evangeliumschristen

Mir ging es darum, Informationen über die Evangeliumschristen zu sammeln. Deshalb dachte ich eingangs, ich hätte die falsche Adresse gewählt als ich dem „Moskauer Seminar der Evangeliumschristen“ im Norden der Stadt meine Aufwartung machte. Mir teilte der Rektor mit, die Einrichtung habe sich trotz ihres Namens seit ihrer Gründung stets als überkonfessionell verstanden. Ihre Webseite (www.moscowseminary.ru) unterstreicht die ökumenische Zusammensetzung der Studentenschaft. Ihre 80 Studenten (nur 35 von ihnen studieren vollzeitig und vor Ort) bestehen zu 40% aus Baptisten, 32% aus Pfingstlern/Charismatikern, 15% aus Evangeliumschristen, 6% aus Methodisten und jeweils 3% aus Nazarenern und Presbyterianern.

 

Dank finanzieller Unterstützung der in Greenwood/Bundestaat Indiana beheimateten Mission “OMS International”, konnten Alexei Bytschkow und Witali Kulikow (1936-2007), Chefredakteur der inzwischen eingestellten Zeitschrift „Bratski Westnik“, das Seminar 1993 gründen. Bytschkow betont, die Einrichtung habe von Anfang an über starke Beziehungen zur Orthodoxie geführt und nennt den 1990 ermordeten, orthodoxen Visionär und Priester Alexander Men einen leitenden Geist. Bis heute haben insgesamt vier Orthodoxe zum Dozentenstab gehört.

 

Im überkonfessionellen Ansatz sieht das Seminar ein Standbein seines Versuches, sich „am Markt“ zu behaupten. Zuzerow nennt seine Einrichtung das einzige überkonfessionelle Seminar Moskaus und führt aus: „Wir schlagen vor, daß andere Denominationen wie die Baptisten sich uns anschließen. Wir meinen, 70% unseres Lehrprogramms ist überkonfessionellen Charakters und wir sind gerne bereit, Dozenten aus den jeweiligen Konfessionen das Recht einzuräumen, die restlichen 30% den eigenen Studenten beizubringen. Es hat keinen Sinn, Gelder zu verschwenden und ein fünftes Rad am Wagen anzubringen – wir selber können für das Grundsätzliche sorgen. Alles ist bereit. Wir haben uns die Mühe gemacht, Genehmigungen u.a. vom Brandschutz und von der Hygiene zu besorgen. Wir haben alle Steuern bezahlt. Es wäre ein Zusammenwirken ohne Verlierer. Der Clou dabei ist, daß wir niemanden konvertieren wollen. Die kleinen Kirchen wissen, daß ihre Schützlinge bei uns gut aufgehoben sind.“ Etwa um die Lehre der Erwachsenentaufe ist das Seminar bei Presbyterianern und Lutheranern nicht bemüht. Doch im Bezug auf den notwendigen aber schmerzlichen Prozeß der Zusammenlegung bleiben die Fragen nach „wer“ und „wen“ offen. Welche Seminare seien bereit, die eigenen Tore zu schließen damit andere überleben können?

 

Mit Bedacht habe ich in diesem Aufsatz das Wort “ökumenisch“ benutzt. Es ist genau das Wort, das Pastor Bytschkow benutzte, um die Ausrichtung seines Seminars zu beschreiben. Und just an dieser Stelle spiegelt das „Moskauer Seminar der Evangeliumschristen“ das Erbe der Evangeliumschristen wider: das Streben nach „geschwisterlichen“, überkonfessionellen und ökumenischen Beziehungen.

 

Dr. William Yoder

Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen der RUECB

Moskau/Berlin, den 28. April 2009

 

Eine Veröffentlichung der Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen bei der Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten. Sie will informieren und erhebt nicht den Anspruch, eine einheitliche, offizielle Position der RUECB-Leitung zu vertreten. Zur Veröffentlichung freigegeben. Meldung Nr. 09-14, 1.064 Wörter oder 8.083 Anschläge mit Leerzeichen.

 

Anmerkung von Oktober 2020: Alexei Bytschkow verstarb 2015 nach langer Krankheit. Das von Zuzerow geführte "Moskauer Seminar der Evangeliumschristen" ist heute wahrscheinlich das bedeutendste protestantische Seminar Rußlands.