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Ukrainische Baptisten sind höchst öffentlich geworden

Ukrainische Baptisten feierten in Kiew

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Aufbruch und Kontinuität zum 400. Jubiläum der baptistischen Bewegung

 

Kommentar

 

M o s k a u / K i e w -- Wie keine andere baptistische Union Osteuropas haben die Ukrainer den Sprung ins Blickfeld der Öffentlichkeit geschafft. Das wurde deutlich als die Baptisten slawischer Zunge ein viertägiges Fest in der ukrainischen Hauptstadt zum 400. Geburtstag der baptistischen Weltbewegung veranstalteten. Ab dem 27. August fand in der Zentralen Baptistengemeinde Kiews eine Konsultation mit 250 Teilnehmern aus 26 Ländern statt. Der krönende Abschluß bildete eine bewegende, dreistündige Feierstunde mit fast 5.000 Teilnehmern im staatseigenen Nationalpalast „Ukraine“ am 30. August. Allein der Chor bestand aus 370 Sängern und Sängerinnen. Dort wurden nicht wenige Augen feucht als die Veranstalter mit multimedialer Unterstützung die langen Leidensjahre kommunistischer Verfolgung Revue passieren ließen. „Wer hätte das gedacht!“ jubelte der katholische Nachrichtendienst RISU aus Lemberg. „Die Welt hatte nicht damit gerechnet, daß nach Jahrzehnten der Verfolgung und Unterdrückung, daß nach härtester Traumatisierung und Demütigung, die Baptisten sich wieder aufrichten und getrost von ihrem Glauben reden würden!“

 

Das Kiewer Ereignis feierte sowohl die Kontinuität wie den Aufbruch im Wirken des slawischen Baptismus. Wie bereits beim großen Jugendkongreß in Odessa ein Jahr zuvor wurde im Abendmahl auf der Abschlußveranstaltung die Weiterreichung des Stabs an die jüngere, postsowjetische Generation symbolisch dargestellt. In einem Interview mit der RISU am Rande hielt Grigori Komendant, pensionierter Präsident der „All-Ukrainischen Union der Kirchen der Evangeliumschristen-Baptisten“ die Kontinuität hoch. Methoden ließen sich verändern, doch „Jugendliche müssen verstehen, daß sie keine Bahnbrecher seien. Es bestehen Glaubensprinzipien, die weder durch einen konservativen noch liberalen Ansatz verändert werden dürfen.“ Beim Evangelisten der Missionsgesellschaft Billy Grahams, Wiktor Hamm (Winnipeg), lautete es: „Wir stehen auf den Schultern der Glaubensväter, die vor uns da waren. Mein Vater Gerhard Hamm verbrachte mit den Leitern der nichtregistrierten Baptisten ganze Nächte im Gebet, damit die riesige Sowjetunion wieder laut und deutlich das Evangelium hören könne. Nun ist es soweit. Laßt uns die Zeit dafür nutzen, Menschen für Christus zu gewinnen!“

 

Neben einem persönlich vorgetragenen Grußwort des griechisch-katholischen Patriarchen Lubomir Husar (Lemberg) konnte sich die Abschlußveranstaltung mit geschriebenen Grußworten von Staatspräsident Wiktor Juschtschenko, Ministerpräsident Julia Timoschenko und dem Kiewer Oberbürgermeister Leonid Tschernowetski (einem Charismatiker) schmücken. Bei der Veranstaltung hielt der Baptist Alexander Turtschinow, Erster Stellvertretender Ministerpräsident der Ukraine und rechte Hand der Ministerpräsidentin, eine Rede. Juri Reschetnikow, Leiter des einst gefürchteten Staatsministeriums für Religiöse Angelegenheiten und selbst Baptist, nannte seine Kirche die viertgrößte Konfession der Ukraine. Der 29-jährige Pawel Ungurjan (siehe unsere Meldung vom 18.8.2009), Landesjugenddirektor der ukrainischen Baptistenunion und Mitglied des Nationalparlaments, war ein Hauptinitiator des Ereignisses.

 

Wiederholt klang an, daß sich die Ukrainer als Vorreiter unter den Baptisten slawischer Nation verstünden. Zum kürzlich erfolgten Ukraine-Besuch des Moskauer Patriarchen Kirill hieß es im Interview mit Komendant: „Kirill kennt die ukrainische Nation nicht vollständig. Gemessen an seinem Territorium und Einfluß könnte man Rußland eigentlich als ‚slawisch-asiatisch’ bezeichnen. Im Gegensatz dazu ist die Ukraine ein wahrlich slawisches Land.“ In Berichten über das Ereignis wurde die starke Vertretung der ukrainischen Diaspora betont. Ein Russe gab an, die Ukraine und Moldawien seien – wohl abgesehen vom Baltikum - in konfessioneller Hinsicht die freiesten Länder der ehemaligen Sowjetunion.

 

Mit Zahlen wurde großzügig umgegangen – meistens wurde die Zahl ukrainischer Baptisten mit 200.000 angegeben. Tony Peck (Prag), Generalsekretär der „Europäischen Baptistischen Föderation“ (EBF) gab in Kiew an, die Ukrainer stellten einen Viertel der 800.000 Baptisten Europas. Komendant meinte, bereits 2002 habe der ukrainische Bund den britischen als den größten Baptistenbund Europas abgelöst. Doch im EBF-Jahrbuch für 2009 weist der Baptistenbund Großbritanniens eine Mitgliedschaft von 136.677 auf; die „All-Ukrainische Union der Kirchen der Evangeliumschristen-Baptisten“ - 133.258. Hinzu kommen Nichtregistrierte und die 10.000 Mitglieder der baptistischen „Brüderschaft“ der Ukraine. Doch auch das Vereinigte Königreich verfügt über weitere baptistische Unionen und selbständige Baptistengemeinden. Bei den all-europäischen Jubiläumsfeierlichkeiten der EBF in Amsterdam Ende Juli – es waren 900 Besucher zugegen - hatte Ungurjan von 40.000 baptistischen Jugendlichen in der Ukraine gesprochen. Doch in Kiew berichtete die RISU von einem jugendlichen Anteil von 40%. Das wäre genau die doppelte Menge.

 

Man sagt, die gesamte Mitgliedschaft des sowjetischen „All-Unionrats der Evangeliumschristen-Baptisten“ habe etwa in den 70er Jahren eine Million betragen. Doch im Grußwort von Juschtschenko am 30. August hieß es, daß nur 3.000 Baptisten den stalinistischen Terror überlebt hätten. Komendant gab an, 1991 habe es bei der Verselbständigung des ukrainischen Bundes nur 90.000 Baptisten in der Ukraine gegeben. Klar ist eigentlich nur, daß es in den letzten zwei Jahrzehnten erfreuliche Wachstumsentwicklungen gegeben habe.

 

Nachdenkliches am Eröffnungstag

Die Notwendigkeit kritischer Selbstreflexion wurde am ersten Tag spätestens beim Vortrag von Mikhail Iwanow (Moskau), dem Leiter der theologischen Abteilung bei der „Russischen Union der Evangeliums­christen-Baptisten“ deutlich. In seinem Referat unterstrich er die wesentliche Bedeutung der Gewissensfreiheit im Entstehen und Gedeihen der baptistischen Bewegung. Er betonte wiederholt, daß die Gewissensfreiheit allen gelte, auch „Pfingstlern, Adventisten, Zeugen Jehovas, Krischna-Anhängern und sogar Atheisten“. Was wir anderen abverlangen, müssen wir auch anderen gewähren.

 

Doch dieser Grundpfeiler baptistischer Theologie laufe der defensiven, abwehrenden Denkweise osteuropäischer Kultur zuwider. Beispielsweise „schweigen wir oftmals bei der Verfolgung charismatischer Gemeinden“ aus Angst davor, selbst unter den Einfluß charismatischer Tendenzen zu geraten. Viel bequemer sei es, die Freiheit des Gewissens auf die eigene „Freiheit zur Verkündigung des Evangeliums zu verengen“. Hinzu komme, daß unsere Gemeinden unzureichend in der biblischen Lehre verwurzelt seien. „Deshalb ist es notwendig, sich mit der theologischen Festigung unserer Gemeinden zu befassen – damit wir auch nicht passiv weiterhin die Unterdrückung Andersdenkender unterstützen.“

 

Die Übernahme fremden Gedankenguts klang schon im ersten Vortrag am Eröffnungstag an. Darin zeigte der baptistische Historiker und Bildungsspezialist Sergei Sannikow (Odessa) minutiös auf, in welch starkem Maße die slawischen Baptisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts ihr Weltbild und ihre Theologie von den in die Ukraine eingewanderten Mennoniten preußischer Herkunft übernommen hätten. Die herkömmliche Kleider- und Gottesdienstordnung, Gemeindezucht, der Pazifismus, die Abschottung von der Welt und die politische Enthaltsamkeit seien keineswegs baptistischen Ursprungs, sondern ein Überbleibsel mennonitischen Einflusses. Sannikow trat deshalb für die Schaffung einer neuen, eindeutig baptistischen Identität ein.

 

Dazu würden in Osteuropa tätige Kreise aus Nordamerika gerne beitragen. Doch in einem anderen Vortrag wurde Rick Warren namentlich kritisiert, weil er zu den vielen Nordamerikanern zählt, die ein kalvinistisches Heilsverständnis vertreten. In Osteuropa hat die zur Werkgerechtigkeit tendierende arminianische Heilslehre eine lange Tradition. Osteuropäer wähnen in der erst in den letzten zwei Jahrzehnten verbreiteten, kalvinistischen Lehre einer bedingungslosen Heilszuversicht einen Freibrief für frevelhaftes Verhalten. Nach Meinung des Referenten, Pastor Alexander Sipko aus Spokane/USA, könnte das Festhalten an einem solchen Heilsverständnis zu einem „bösen Erwachen“ am Lebensende führen.

 

Im erwähnten Interview versicherte Altpräsident Komendant, eine „vernünftige Balance“ zwischen Tradition und Aufbruch könne zu einem Ausgleich zwischen den Generationen führen: „Es ist nie nur die eine Seite schuldig.“ Da blieb nur die schwierige Frage, an genau welchem Punkt auf der Werteskala ein Gleichgewicht sich herstellen könne.

 

Dr. phil. William Yoder

Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen der RUECB

Moskau, den 18. September 2009

 

Eine Veröffentlichung der Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen bei der Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten. Sie will informieren und erhebt nicht den Anspruch, eine einheitliche, offizielle Position der RUECB-Leitung zu vertreten. Meldung Nr. 09-27, 1.095 Wörter oder 8.518 Anschläge mit Leerzeichen.