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Theologie der russischen Baptisten seit 1990

Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen

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Ein Gespräch mit Pastor Gennadi Sergienko

 

M o s k a u – Gennadi Andrejewitsch Sergienko wurde 1957 in Moskau geboren und wuchs in der altehrwürdigen Zentralen Baptistengemeinde der Stadt auf. Bei der „Dallas Theological Seminary“ machte er 1994 den Diplomabschluß; er promoviert z.Zt. im Fach Neues Testament an der „Fuller Theological Seminary“ in Pasadena/Kalifornien. Bisher diente er als Dozent an mehreren theologischen Hochschulen in Moskau; in einem Falle war er deren Rektor. Er ist gegenwärtig Hauptpastor der Zweiten Baptistengemeinde in Moskau.

 

Unsere Abteilung hegt die Hoffnung, dieses Interview möge von weiteren gefolgt werden. Dabei sind Gespräche mit Personen, die gegenteilige Auffassungen vertreten, willkommen..

 

Bruder Sergienko: Beschreiben Sie bitte den theologischen Wandel unter den russischen Baptisten seit 1990. Wie sahen die Auffassungen vorher aus, und was ist aus ihnen geworden?

 

Die geschichtlichen Umwälzungen der 90er Jahre eröffneten uns völlig neue Chancen. Aber sie stellten uns gleichzeitig vor neuartige Herausforderungen. Leider nutzten viele Gläubige die offenen Tore, um das Land für immer zu verlassen. Nach meiner Einschätzung sind Hunderttausende von Protestanten emigriert. Eine negative Folge der Emigration bestand darin, daß die Leitungsstrukturen der Union der Baptisten verarmten – auch auf oberster Ebene. Ich zolle denen Respekt, die den Mut hatten, sich der Herausforderung zu stellen und Leitungsaufgaben in die Hand zu nehmen. Aber sie konnten sich erst im Amt die nötigen Fertigkeiten aneignen. “Learning by doing” nennt man das.

 

Es ist hinreichend bekannt, daß die 90er Jahre eine Flut ausländischer Missionare mit sich brachten. Die baptistische Union wurde somit gezwungen, sich neue Partner auszusuchen. Nach meiner Einschätzung wurde keine glückliche Wahl getroffen: Sie fiel zugunsten von fundamentalistischen Missionen und Kirchen aus, die formal sowohl dem Namen wie dem Bekenntnis nach nicht als baptistisch gelten. Das war bedauerlich, denn diese Wahl kappte die gewachsenen Verbindungen und Beziehungen zur großen, weltweiten Familie der Baptisten. Es klingt seltsam, daß wir im Grunde die ausgestreckte Hand jener Organisationen abwiesen, die uns zu kommunistischen Zeiten unterstützt hatten.

 

Hätten sich die russischen Baptisten tatsächlich anders entscheiden können?

 

Die Wahl wahr insofern verständlich, als die russischen Baptisten schon immer dem konservativen Flügel des Protestantismus nahestanden. Allein der Wahnsinn und die Tragik der stalinistischen Ära zwangen einen, die Bibel durch die apokalyptische Brille zu lesen! Das Klima der neuen Freiheiten und der Wegfall einer offensichtlichen Zensur gewährten uns endlich die Chance, unsere wahren Ansichten kundzutun. Da war es eigentlich kein Wunder, daß wir auf jene Gruppen zugingen, mit denen wir ein ähnliches Denk- und Wertegebäude teilten. Wir waren auch schwer beeindruckt von der Tatsache, daß sich die Hauptvertreter dieser Gruppen mit ihren beachtlichen Titeln wie „Doktor“ und „Professor“ nicht vor den „Liberalen“ verstecken mußten. Heute, 20 Jahre danach, können wir uns die Ergebnisse jener Kooperation ansehen.

 

Sie haben mir bereits von der russischen Arbeit des „Master’s College und Seminar“ aus Santa Clara/Kalifornien erzählt. Diese Einrichtung wird von Dr. John F. MacArthur angeführt; ihre russische Filiale nennt sich “Predigerinstitut und Seminar von Samara”.

 

Es hat auch gute Entwicklungen gegeben, aber jetzt habe ich vor Augen die negativen Folgen unseres US-gesponserten Bildungssystems. Da meine ich vor allem die Absolventen der Predigerschule in Samara/Wolga. Wenn sie in ihre Gemeinden zurückkehren, lösen sie häufig ernsthafte Probleme aus, die zu Spaltungen führen. Da denke ich vor allem an Gebiete um Rostow-am-Don in Südrußland, Baschkortostan (die Gegend um Ufa), und das Omsker Gebiet in Sibirien. Diese Neulinge kehren nach einem oder zwei Jahren mit einer „schlechten Nachricht“ in ihre Gemeinden zurück: Der Glaube der Vorfahren sei mangelhaft gewesen – sie hätten die falsche Doktrin vertreten.

 

Diese Rhetorik ist eingebettet in einer feierlich vorgetragenen Verpflichtung zur biblischen Unfehlbarkeit. Das stellt uns vor die größte Herausforderung überhaupt, denn die russischen Baptisten haben schon immer die Bibel äußerst ernst genommen! Doch nun wird uns eine Terminologie aufgedrängt, die aus einem völlig anderen historischen Zusammenhang stammt. Unter dem Motto der schriftlichen „Unfehlbarkeit“ wird uns eine unfehlbare Auslegung der Schrift aufgepfropft. Doch ein fundamentalistisches Lesen der Bibel unterschlägt die mannigfaltigen Stimmen der Schrift zugunsten einer einzigen Interpretation, einer einzigen Doktrin. Und wenn einer diese Lesart nicht teilt, ist er schnell draußen! Der Bildungszweck wird auf Indoktrination reduziert. Die Schrift zeugt nicht mehr von Jesus Christus – sie wird zum Mittel, um die ideologische Festlegung auf eine ganz bestimmt Weltsicht zu forcieren. Manche dieser Prediger hatten einst der kommunistischen Ideologie gehuldigt und ich frage mich, ob in ihrer Gedankenwelt das Christentum mehr als nur eine neue Begrifflichkeit für altes Denken verkörpert.

 

In der Vergangenheit blieben russische Baptisten im allgemeinen von der “Theologie” unbescholten. Aber sie verfügten immerhin über eine eindeutig christuszentrische Herangehensweise an die Schrift. Ist das nicht auch der hermeneutische Schlüssel, den der Auferstandene Jesus seinen Jüngern in Lukas 24 mitteilt? Unsere vergangene, überragende Stärke wird nun für Mangelware gehalten – unsere Ahnen „konnten es nicht besser wissen“. Ja, unsere Väter waren meistens Analphabeten und sehr einfache Menschen. Aber sie waren Jesus begegnet und waren bereit, dafür ihr Leben zu opfern. Jetzt erliegen wir der stets vorhandenen Versuchung, uns auf den „richtigen“ Weg zu einem höherwertigen Wissenstand festzulegen. Wir denken wir stünden vor der verlockenden Möglichkeit, die letzte, ultimative „Wahrheit“ zu erfassen. Doch Paulus schämte sich nicht, einzugestehen, daß unser Wissen nur Stückwerk sei, daß wir nicht so klar sehen, wie wir es gerne hätten (I. Kor. 13). Er wertet die Behauptung, über höherwertiges Wissen oder höherwertige Gaben zu verfügen sogar als einen Beleg für geistliche Unreife (I. Kor. 13,11). Das hat in der russischen, evangelikalen Gemeinschaft dazu geführt, daß jedes einzelne, winzige Grüppchen meint, über einen besonderen, exklusiven Zugang zur Wahrheit zu verfügen! So gewinnt man bestimmt niemanden für Christus. Das hilft uns auch nicht, einen konstruktiven Dialog mit der Russischen Orthodoxie zu führen.

 

Welche weiteren Tendenzen sind für diese neue Bewegung charakteristisch?

 

Ich würde zuerst die erhabene Rolle des Leiters erwähnen. Das allgemeine Priestertum wird durch die Autorität eines Einzelnen ersetzt. Und das ist auch logisch: Verfügt der Leiter über die letzte Wahrheit, dann ist eine bedingungslose Unterwerfung gegenüber seiner Sichtweise und seinem Willen nur folgerichtig.

 

Zweitens, werden im Leben der Gemeinde nur Kleinkreise betont. Kleinkreise sind ein fundiertes Prinzip bei der Bildung von Gemeindeleben – abgesehen von den Fällen, in denen sie auf Kosten aller anderen Gemeindedienste geschehen. In habe Fälle erlebt, in denen dem Gemeindepastor die Fähigkeit genommen wurde, mit den eigenen Gliedern zu kommunizieren, denn sie waren ausschließlich dem Leiter ihres Kleinkreises rechenschaftspflichtig. Bei jeder Kleinigkeit mußten sie den Rat ihres Leiters suchen. Kleinkreise dienen dann dazu, eine eindeutig sektiererische Struktur aufzubauen, in der alle in eine Kette von Unterwerfungen eingefügt werden. Menschliche Mühen ersetzen die Kraft die Heiligen Geistes.

 

Drittens, wird die Rolle der Frau im Leben der Gemeinde emphatisch negiert. Damit meine ich nicht nur das Lehramt, sondern überhaupt jegliche Rolle. Frauen werden ausschließlich passive Funktionen unter männlicher Leitung zugewiesen. Ein solcher Chauvinismus ist sogar in unserer von Männer beherrschten Gesellschaft neu.

 

Wie geht’s weiter? Bestehen Aussichten, daß eine einheimisch verwurzelte Theologie doch noch entsteht?

 

Leider ist der Boden für die Entstehung einer einheimischen Theologie des russischen Baptismus noch nicht reif. Ich sagte schon: Für eine Bildung, die über Indoktrination hinausreicht, sind wir noch nicht bereit. Stattdessen stimmen wir unbewußt weiterhin ein adaptiertes, doch völlig ausländisches Lied an, dessen Akzent das Entstehungsland preisgibt. Kein Wunder, daß uns die Auswanderung dermaßen zugesetzt hat! Wer würde sich weiterhin in einem anrüchigen, hoffungslosen Babylon aufhalten wollen? Wir sind im Grunde eine marginalisierte, in sich geschlossene, religiöse Minderheit geblieben, die unfähig ist, die Schrift in einer sinnvollen, Kontext gerechten Art und Weise zu lesen. Deshalb fühlen wir uns eher in einer Palästina des ersten Jahrhunderts nach Christus zuhause, als in den Realitäten der russischen Gegenwart. Wir lesen die Bibel, um den Herausforderungen der heutigen Zeit zu entfliehen. Doch das Volk Gottes ist schon immer aufgefordert worden, Vergangenheit und Gegenwart zu verschmelzen. Das ist die prophetische Aufgabe der Kirche heute. Da müssen wir uns die Frage stellen, ob wir für diese Hausforderung gewappnet sind.

 

Die Fragen stellte: Dr. phil. William Yoder

Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen der RUECB

Moskau, den 22. November 2009

 

Eine Veröffentlichung der Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen bei der Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten. Sie will informieren und erhebt nicht den Anspruch, eine einheitliche, offizielle Position der RUECB-Leitung oder dieser Abteilung zu vertreten. Meldung Nr. 09-36, 1.288 Wörter oder 9.194 Anschläge mit Leerzeichen.