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Mennoniten in der ehemaligen UdSSR

In Sibirien sind die Mennoniten am stärksten

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Über die „Omsker Brüderschaft“ und einiges mehr

 

M o s k a u -- Wer durch ein schmuckes Dorf wie Miroljubowka, etwa 80 km westlich vom westsibirischen Omsk, spaziert, könnte meinen, er befände sich in Paraguay oder Mexiko. Mädchen mit Zöpfen und Röcken laufen umher, man spricht und lacht Plattdeutsch. Wer fragt, bekommt gleich die Familiennamen zu hören: Reimer, Klassen, Wiens, Wiebe, Schellenberg und Sawatsky. Das dörfliche Gemeindeleben bleibt weiterhin von der Landwirtschaft bestimmt: Abendgottes­dienste beginnen oftmals erst nach Abschluß der Melkarbeiten gegen 22 Uhr. Hier handelt es sich um Menschen aus der Mennoniten-Brüdergemeinde, einer Abspaltung von den „Kirchlichen“ Mennoniten, die sich 1860 in der Südukraine im Raum Saporoschje vollzog. Schon 1789 kamen die ersten holländisch-preußischen Mennoniten in die Ukraine; ab 1890 zogen die ersten von ihnen in dieses Gebiet Westsibiriens und das benachbarte Kasachstan weiter. Aufgrund der Deportation der Deutschen nach Osten im August 1941 kamen immer mehr Mennoniten nach; manche trafen erst in den 50er Jahren ein.

 

Die meisten dieser Mennoniten sammeln sich in einem regionalen Verein, der sich seit 1996 „Omsker Brüderschaft“ nennt. Schon 1907 hatte sich dieser Zusammenschluß herausge­bildet -- seine Neugründung ist 1957 nach drei Jahrzehnten härtester Verfolgung erfolgt. Ihr Laienhistoriker, Peter Epp aus Isilkul an der kasachischen Grenze, berichtet, der Verein habe 1987 ausschließlich aus Deutschen bestanden – doch 20% von ihnen waren Baptisten. Seitdem sind diese deutschstämmigen Baptisten nahezu vollständig ausgewandert.

 

Heute besteht diese Brüderschaft aus rund 950 getauften Frauen und 450 getauften Männern – 1987 waren es noch insgesamt 2.306. Erstaunlich wenige dieser Omsker Mennoniten sind seitdem nach Deutschland ausgewandert – nur rund die Hälfte. Mit der Öffnung für Mission durch die Perestroika begann man unter Nichtdeutschen zu missionieren; heute predigen die Laienprediger überwiegend auf Russisch. Vor der Perestroika verfügte die Brüderschaft über keine eigenen Gotteshäuser – heute hat man 17 neugebaute und 36 umgebaute Bethäuser zur Verfügung. Im Dorf Putschkowo entsteht ein Bethaus gehobenen, westdeutschen Standards mit mehr als 200 Plätzen. Kenner berichten, es seien die Verwandten und Freunde in Deutschland, die das nötige Kleingeld gespendet hätten. „Patriarch“ für die meisten dieser Gemeinden ist der 1929 geborene Nikolai Dikman (oder Dieckmann) aus Marionowka; der die Jahre 1951-56 im Gulag Workuta verbringen mußte.

 

Eine Gemeinde der Kirchlichen Mennoniten, die sich in Solnzew­ka nördlich von Isilkul befindet, bestand 2008 aus 130 getauften Mitgliedern und 160 Kindern. Das macht sie zur größten Mennonitengemeinde der GUS-Staaten. Weitere, kleine Gemeinden der Kirchlichen Mennoniten befinden sich in Nieudatschino östlich von Omsk und in Nowosibirsk – keine von diesen gehört zur Omsker Brüderschaft. In Solnzew­ka steht Gemeindeältester Philipp Friesen, ein pensionierter Schäfer und Landwirt, wie ein Fels in der Brandung gegen die weitere Auswanderung. Doch völlig läßt sich auch diese Gemeinde nicht von westlichen Einflüssen abschirmen: Seit mehr als 70 Jahren vertritt die Gemeinde die Lehre der All-Versöhnung. Beziehungen bestehen zum schwäbischen „Bibelkonferenz­zentrum Langensteinbacher Höhe“, das für diese Lehre bekannt ist. Das hat die Spannungen verschärft – man hört z.B., eine Eheschließung in Solnzewka über die internen, mennonitischen Grenzen hinweg sei nicht möglich.

 

Weitere Gemeinden befinden sich im Raum Slawgorod (Gebiet Altai südöstlich von Omsk) sowie die Gemeinde Schutschinsk bei Karaganda in Kasachstan, die eindeutig mennonitischen Ursprungs sind. Das Gleiche gilt für vier oder fünf Missionsgemeinden im Raum Orenburg/Ural, die von ausgewanderten Kirchlichen Mennonitengemeinden aus Bielefeld gefördert werden. Doch diese Gemeinden, insofern sie noch als mennonitisch zu bezeichnen sind, haben ihren deutschen Charakter verloren. Alexander Weiß (geb. 1964), ein Pastor des unregistrierten „Internationalen Gemeindenbundes der Evangeliumschristen-Baptisten“ (IGBECB) in Slawgorod, bekennt sich eindeutig zu seinen mennonitischen Wurzeln. Er erklärt: „Als wir in den 50er Jahren ein geistliches Leben wieder aufnehmen durften, waren nur noch einige Omas da, die sich überhaupt zur mennonitischen Herkunft äußern konnten. Und sie hatten Angst davor, darüber zu reden.“ Erst in den 50er Jahren konnte der alten mennonitischen Identität neues Leben eingeflößt werden.

 

Doch überhaupt sind die Grenzen zwischen den Mennoniten-Brüdergemeinden und Baptisten fließend geworden. Von den Baptisten übernahm die Mennoniten-Brüdergemeinde die Taufe durch Untertauchen. Es wird konstatiert, die pietistische Lehre des deutschen Baptistengründers und Rußlandmissionars Johann Gerhard Oncken (1800-1884) habe – neben der Auseinandersetzung um Ackerland - zur Spaltung der Mennonitenbewegung1860 beigetragen. Der Prozeß der Angleichung wurde beschleunigt durch die Tatsache, daß sich ab 1966 zwecks Registrierung etwa die Hälfte aller Mennonitengemeinden dem „Allunionsrat der Evangeliumschristen-Baptisten“ anschlossen.

 

Schon an ihren Namen sind die heutigen baptistischen Unionspräsidenten von Kasachstan und Kirgistan als Mennoniten zu erkennen: Franz Tissen (oder Thiessen) und Genrikh (Heinrich) Foth. Der deutsch-russische Kanadier Viktor Gamm (oder Hamm), ein in Osteuropa besonders beliebter Evangelist der „Billy Graham Evangelistic Association“, gehört der Mennoniten-Brüdergemeinde an. Auch der gemarterte Vater von Georgi Vins (oder Wiens) (1928-1998), der 1979 ausgewiesene Generalsekretär der nichtregistrierten Baptisten der UdSSR, war ein Missionar der Mennoniten-Brüderge­meinde aus Kanada.

 

Missionswerke mennonitischer Prägung wirken auch heute von Deutschland aus nach Rußland hinein: siehe z.B. „Bibel-Mission“, „Friedensstimme“, „Hoffnungsstrahl“ und „Janz-Team“. Einer der beiden Gründer der renommierten Mission „Licht im Osten“, Jakob Kroeker (1872-1948), war ein ukrainischer Mennonit. Fast 10% der 2,2 Mio. Rußlanddeutschen, die heute in Deutschland wohnen, haben mennonitische Wurzeln. (Zum Zeitpunkt des I. Weltkriegs hatte die Zahl der getauften Mennoniten in Rußland 120.000 erreicht.)

 

Noch heute vertritt die kleine Schar der Mennoniten westlich von Omsk den Pazifismus, Pietismus, Arminianismus und Separatismus großer Teile des historischen. russischen Baptismus. Es ließe sich folglich behaupten, die Omsker Mennoniten stünden dem historischen Erbe des russischen Baptismus näher als die viel jüngeren kalvinistisch-orientierten, nordamerikanischen Gruppierungen, die seit 1990 den Umgang mit Kreisen des russischen Baptismus pflegen.

 

Trotz aller theologischen Nähe, kann dennoch nicht behauptet werden, daß vor Ort in den sibirischen Dörfern die Beziehungen zwischen Mennoniten und Baptisten harmonisch wären. Insider führen das auf eine ungewollte Konkurrenzsituation zurück. Fast alle mennonitischen und baptistischen Gemeinden in der Gegend westlich von Omsk (sowie Slawgorod) sind unregistriert. Das bedeutet, daß Gemeindehäuser unter den Namen von Privatpersonen laufen. Wechselt der offizielle Bethausbesitzer in eine andere Konfession, könnte nur noch sein Gewissen ihn davon abhalten, die Immobilie mit in die neue Konfession zu nehmen. In manchen Fällen können Mennoniten den nichtregistrierten Baptisten also vorwerfen, neben „Schafestehlen“ (Proselytismus) auch Immobilienklau zu betreiben.

 

Die nordamerikanischen Mennoniten – mit Kommentar

Schon ab 1920 war das Hilfswerk der nordamerikanischen Mennoniten, das „Mennonite Central Committee“ (MCC) humanitär in der Sowjetunion engagiert. Nach 1955 gehörten es zu den Delegationen, die Gemeinden in der UdSSR häufig besuchten. Im Kalten Krieg bemühte sich das MCC gemeinsam mit Quäkern und manchen Brüdergemeinden (z.B. Kirche der Brüder) um eine Politik der Verständigung zwischen den verfeindeten Machtblöcken.

 

Nach 1990 gehörte das MCC zur großen Schar westlicher Missionen und Werke, die in Moskau ihre Zelte aufschlug. Dort mietete sie sich in der großen, historischen Zentralen Baptistengemeinde in Kreml-Nähe ein. Doch der Konkurrenzkampf zwischen den Missionen und die hohen Lebenskosten machten diesem Dienst den Garaus: 1998 verlegte das MCC ihr GUS-Büro ins ukrainische Saporoschje. Das war für Mennoniten ein historisches Territorium ersten Grades – aber auch abgelegen. Inzwischen sind dank der Bemühungen der Nachkommen von ukrainischen Mennoniten aus Kanada rund fünf kleine Gemeinden in diesem Gebiet neu entstanden. Doch da bleibt Westsibirien mit seinen rund 2.000 Mennoniten (einschließlich Nachwuchs) zahlenmäßig unschlagbar.

 

Kanadier mit ukrainischen Wurzeln haben – größtenteils ohne die Mithilfe ihrer Missionswerke – Kirchliches und Humanitäres im Raum Saporoschje auf den Weg gebracht. Es ist auch nicht mehr völlig ausgeschlossen, daß sich ein ähnlicher Interessenkreis für Sibirien bildet. Das würden manche begrüßen, denn aufgrund ihrer 220-jährigen Geschichte auf russischem Boden bilden die Mennoniten nach den Lutheranern, die „traditionellste“ protestantische Kirche Rußlands. Nicht alle meinen, es wäre zu spät, um an dieses Erbe anzuknüpfen. Etwa in diesem Zusammenhang fand vom 2. bis 4. Juni ein erstes Geschichtssymposium kanadischer Mennoniten in Omsk statt.

 

Im Dorf Apollonowka westlich von Omsk hat Walter Willms, ein mennonitischer Großbauer aus Britisch Kolumbien, erfolgreich investiert. Ein landwirtschaftlicher Betrieb und eine Getreidemühle laufen bereits; eine Bäckerei steht vor der Vollendung. Wie ebenfalls in der paraguayischen Wildnis werden die gebeutelten, öffentlichen Straßen der Umgebung von einer „mennonitischen“ Planierraupe geebnet. Da handelt es sich um eine Liebesgabe aus Britisch Kolumbien, hergeschafft im Container.

 

Könnte in abgewandelter Form eine verbesserte Neuauflage der mennonitischen und protestantischen Besiedlung Rußlands von 1789 als Alternative zum teuren, oftmals ineffektiven „missionarischen Tourismus“ herauskristalli­sieren? Dieser Tourismus beschränkt sich bekanntlich auf Stippvisiten, die etwa zwischen fünf Tagen und fünf Jahren in Anspruch nehmen. Eine Einladung besteht bereits: In einem Moskauer Gespräch am 17. Juni 2008 mit Neville Callam, dem Generalsekretär der Baptistischen Weltallianz, rief Alexander Torschin, der Stellvertretende Vorsitzende des Rates der Russischen Föderation, die Protestanten des Westens dazu auf, die Weiten Rußlands neu zu beackern. Da könnte es auch nicht schaden, daß der mennonitische Bauunternehmer Harry Giesbrecht aus Winnipeg seit Jahren mit Wladimir Putin befreundet sein soll! Doch hier darf man nichts ins Schwärmen geraten: Hoffen wir erst mal auf eine Neuansiedlung von 200 Protestanten. Das wäre 0,1% der allein nach Deutschland ausgewanderten Menschen mennonitischen Ursprungs.

 

Mit dem I. Weltkrieg scheiterte nach 125 Jahren relativen Wohlstands das Experiment Rußland für die Siedler deutschen Ursprungs kläglich. Vorausgesetzt, alle beteiligten Seiten hätten aus ihren vergangenen Vergehen gelernt, könnte ein künftiges Experiment von noch längerer Dauer sein. Die ersten Rückkehrer gibt es bereits.

 

Dr.phil. William Yoder

Moskau, den 29. Juni 2010

Pressedienst der Russischen Evangelischen Allianz

 

Meldung Nr. 10-17, 1.475 Wörter oder 11.110 Anschläge mit Leerzeichen.

 

Anmerkung von August 2020: Ein paar Menschen, die in diesem Aufsatz erwähnt werden, Alexander Weiss z.B., sind inzwischen verstorben. Mir wurde später mitgeteilt, daß es sich bei der Planierraupe in Apollonowka um ein Geschenk aus Britisch-Kolumbien handelt, gebaut wurde sie jedoch in Tscheljabinsk/Ural. Siehe hierzu unsere Meldung vom 14. Juni 2018.