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Alexei Smirnow und die Baptisten in Dedowsk

Die Glaubensreinheit bewahren

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RUECB-Präsident Alexei Smirnow erzählt von Vergangenheit und Gegenwart

 

Reportage

 

M o s k a u – Alexei Wassilewitsch Smirnow, neuer Präsident der “Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten“, wuchs in einem Haus auf, in dem die Innenräume immer größer wurden. Smirnow kam 1955 auf die Welt – just in dem Jahr als sein Vater, Wassili Jakowlewitsch Smirnow, in der Industriestadt Dedowsk 38 km nordwestlich von Moskau ein Haus für seine Frau und die sieben noch lebenden Kinder baute. Die beweglichen Wände hingen damit zusammen, daß das Familienhaus gleichzeitig als Kirche fungieren mußte. Schon 1956 konnte das Haus 100 Gottesdienstbesucher aufnehmen. „Ich hatte eine glückliche Kindheit“, versichert Pastor Smirnow, „denn ich wuchs in einer christlichen Familie auf. Die Probleme begannen erst als mein Vater und seine älteren Brüder sich verstärkt für die evangelische Bewegung engagierten.“

 

Bei der Wiederzulassung der “Zentralen Baptistengemeinde” in Moskau im Jahre 1943 gingen Stalin und seine kommunistische Regierung davon aus, daß es keine zweite protestantische Gemeinde im Großraum Moskau geben dürfte. Doch die Gläubigen hatten andere Pläne und schon 1947 begann Vater Smirnow mit dem Abhalten von Gebetsgemeinschaften in Dedowsk.

 

Die Spannungen im Verhältnis zum Staat gipfelten 1961 als fünf leitende Brüder – einschließlich Vater Smirnow – zu Gefängnisstrafen in Sibirien verurteilt wurden. Eine Versammlung so dicht an Moskau war der KGB ein ganz besonderes Ärgernis gewesen. Der Staat sorgte für eine größtmögliche Öffentlichkeit, im dem er die Gerichtsverhandlungen im größten Kulturhaus der Stadt abhielt. Alexei Smirnow berichtet: „Eine umfassende, antibaptistische Propaganda war im Umlauf: Baptisten wurden als amerikanische Spione diffamiert; sie verspeisten Kinder usw. Also war vor den Verhandlungen der gesamte Platz vor dem Kulturhaus durch Menschenmengen blockiert. Als man unsere Leiter durch die Menschenmenge führte, war es nur den Anstrengungen der Miliz zu verdanken, daß sie nicht erschlagen wurden.“ Im Jahre 1964 entdeckten die Behörden plötzlich, daß die Verurteilungen nicht rechtens waren und setzten alle fünf auf freien Fuß. Doch das konfiszierte Gemeindegut wurde nicht zurückgegeben. Fast ein halbes Jahrhundert später durfte die Gemeinde einen Weihnachtsgottesdienst genau in dem Raum feiern, in dem ihre Leiter einst verurteilt worden waren.

 

Zwei Jahre nach Entlassung der Gefangenen spaltete sich die Dedowsker Gemeinde. Eine Gruppe verblieb beim registrierten „All-Unionsrat der Evangeliumschristen-Baptisten“; die zweite Gruppe, zu der Smirnows Eltern gehörten, schloß sich dem 1961-gegründeten und -verbotenen „Rat der Kirchen der Evangeliumschristen-Baptisten“ an. „Die Spaltung ging quer durch die Familien hindurch,“ erinnert sich Smirnow. „Wir waren alle miteinander verwandt und wir Kinder spielten weiterhin miteinander.“ Ein Onkel diente weiterhin als Superintendent (Starschi Presbyter) im registrierten Bund. Smirnow resümiert: „Von der Spaltung im Jahre 1966 bis 1987 wurde unsere Dedowsker Gemeinde ununterbrochen verfolgt.“

 

Im April 1987, unmittelbar nachdem Mikhail Gorbatschow alle Gewissensgefangenen in die Freiheit entlassen hatte, begann Smirnow gemeinsam mit Freunden in der Moskauer Hauptfußgängerzone Arbat zu missionieren. Bis 1991 entwickelte die Gemeinde einen Plan, um Gemeinden entlang der Bahnlinie, die durch Dedowsk bis Riga im Westen führte, zu gründen. Bald trafen sich die Gläubigen an 11 verschiedenen Orten. Diese Gemeinschaft hat immer Wert auf die Arbeit mit Kindern gelegt. Heute verfügt sie über das Kinderlager „Rutschejok“ in der Nähe von Rumjantsewo sowie eine Kinder- und Jugendarbeit in einem Dedowsker Kulturhaus.

 

Merkwürdigerweise verlangte der nichtregistrierte “Rat der Kirchen”, zu dem diese Gemeinde gehörte, das Evangelisieren sofort einzustellen. Smirnow erläutert: Der Rat „meinte nicht, daß die wahre Freiheit bereits eingetroffen worden wäre, und daß wir durch unsere Aktivitäten nur weiteres Wasser auf die Mühlen der kommunistischen Behörden leiteten. Damit halfen wir ihnen, die Weltöffentlichkeit hinters Licht zu führen.“ Doch die Gruppe weigerte sich, das Missionieren einzustellen und wurde deshalb aus dem Rat der Kirchen ausgeschlossen. Die Gruppe gab sich 1993 den Namen „Assoziation der Brüdergemeinden“ (ABC) und erhielt vier Jahre später die staatliche Zulassung. Heute besteht sie aus fast 20 Gemeinden. Trotz ihres Namens bleibt die ABC eine Kirche baptistischer – nicht brüderlicher - Tradition.

 

Heute ist Dedowsk bei weitem nicht die einzige russische Stadt, die vier „Sorten“ von Baptistengemeinden aufweist – und keine von ihnen gehört der größten Union, der RUECB, an. Dennoch nennt Alexei Smirnow Dedowsk ein „Mittelpunkt baptistischen Lebens“. Dort hat die nichtregistrierte Gemeinde, die aus der Spaltung von 1966 hervorging, noch rund 150 zumeist ältere Mitglieder; die dynamischere Gemeinde von Alexei Smirnow und Peter Rumatschik wird sonntags von rund 250 Personen besucht. Die Gemeinde, die 1966 beim All-Unionsrat verblieben war, schloß sich auch der ABC an. Eine vierte Gemeinde, die 1995 entstanden ist, gehört ebenfalls zur ABC. Smirnow erklärt: „Wir verfügen über verschiedene Stile, haben jedoch eine einzige Theologie. Wir gehen halt verschieden an die Gestaltung des Gottesdienstes heran.“

Der Öffentliche Rat

Alexei Smirnow, der ab 1991 die ABC und deren ursprüngliche Zusammensetzung für drei aufeinanderfolgende Dreijahresperioden leitete, war ein führender Verfechter herzlicher Beziehungen zur RUECB und zu allen baptistischen Gruppierungen. „Unsere Haltung hat sich ab 1990 erst allmählich entwickelt,“ erinnert er. „Nichts wurde plötzlich oder spontan entschieden.“ In den 90er Jahren erhielten sechs ABC-Pastoren eine Ausbildung an der theologischen Hochschule der RUECB in Moskau.

 

Bei der Gründung des “Öffentlichen Rats” in Moskau 2006 waren Alexei Smirnow und Juri Sipko, der damalige Präsident der RUECB, seine vehementesten Befürworter. Heute sammeln sich rund 10 baptistische Denominationen sowie verschiedene Missionsgesellschaften und Organisationen unter seinem breiten Schirm. „Wir wollten keine Super-Union“ gründen“, versichert Smirnow. „Die Grundlage unserer Einheit sind eine gemeinsame Theologie und die baptistischen Prinzipien. Der Öffentliche Rat habe die Aufgabe, diese Einheit wider zu spiegeln und zu fördern. Dem Rat gehe es nicht um die institutionelle Einheit. Doch will Alexei Smirnow nicht ausschließen, daß sich die ABC irgendwann der RUECB offiziell anschließt. „Ich gehöre nicht mehr zum ABC-Leitungsteam“, erläutert er. „Ich bin nur noch Pastor einer Gemeinde, die der ABC angehört. Aber ich sehe keine unüberwindbaren Hürden wenn es darum ginge, sich der Union anzuschließen.“

 

Zweifellos schätzte Juri Sipko die Bemühungen Alexei Smirnows, die versprengten Teile der baptistischen Bewegung einzusammeln. Das war mit ein Grund mit dafür, daß ihn Sipko einlud, Teil des RUECB-Teams zu werden. Im Jahre 2006 zog Smirnow als Leiter der Pastorenabteilung in die Moskauer Zentrale der RUECB.

 

Smirnow schränkt den Ruf zur baptistischen Einheit nicht auf die russische Welt ein. Er betont, Rußland sei „Teil der Weltbewegung des Baptismus. Wir trennen uns nicht von den grundlegenden theologischen Positionen aller Baptisten. In den praktischen Fragen der Schriftauslegung mögen wir uns unterscheiden, doch als Baptisten bleiben wir Bestandteil des Gesamten. Wenn wir unsere Würde und Qualitäten gegenseitig anerkennen, dann werden wir auch imstande sein, uns gegenseitig den Fehlern der anderen zuzuwenden. Wenn uns das gelingt, wird das in der Tat eine sehr wertvolle Form der Zusammenarbeit sein.“ Er fährt fort: Russische Baptisten „müssen sich nach einer 70-jährigen Gefangenschaft bewußt werden, daß das Christentum nicht nur aus seiner russischen Variante besteht. Manche Entwicklungen an anderen Orten mißfallen uns, doch sie helfen uns zu begreifen, daß Gott der Souverän ist. Er bestimmt selber, wer seine Kinder seien – nicht wir. Diese Erkenntnis hilft uns, mit größerem Verständnis auf die christliche Welt zu schauen.“

 

Nach Jahrzehnten im Überlebensmodus inmitten einer feindseligen Umwelt, in der man sich wie ein verstoßener Fremdling fühlte, vertritt Alexei Smirnow die Ansicht, Baptisten fühlten sich nicht weiterhin wie Bürger zweiter Klasse. Ihr Charakter, der in den Jahren der Verfolgung geformt wurde, könne nun positiv auf die russische Gesellschaft und die Weltgemeinschaft überhaupt ausstrahlen. Der Zwang, getrennt von der Gesellschaft leben zu müssen, gewährte russischen Baptisten die Möglichkeit, ihren Prinzipien treu zu bleiben, „eine Glaubensreinheit zu bewahren, die bis heute eine besondere Eigenschaft des russischen Baptismus ist“. In einer freien Gesellschaft müssen Kirche und Staat miteinander in Verbindung treten, und die Kirche fühlt sich dann genötigt, zwecks Verständigung Kompromisse einzugehen. „Doch kann die russische Kirche durch ihr Beispiel beweisen, daß man gegenüber dem Staat für die eigenen Überzeugungen und den eigenen Glauben einstehen muß.“ Daraus folgert Smirnow, Baptisten seien „in jeder Hinsicht – betreffend persönliche Lebensführung, Moral, Arbeitsleistung, Familie, Beziehungen zum Staat - der beste Teil der russischen Gesellschaft“. Evangeliumschristen-Baptisten beschreibt er als „Patrioten“; wenn der Staat seine eigene Verfassung einhalte, „dann sind wir die besten Staatsbürger im Lande“.

 

Pastor Smirnow meint, den Orthodoxen gebühre Anerkennung dafür, daß sie das Christentum nach Rußland gebracht hätten. Im letzten Jahrhundert litten die Gläubigen gemeinsam: „Auch sie saßen ihres Glaubens wegen im Gefängnis.“ Er bedauert jedoch, daß sich der Staat nach 1990 entschied, den „richtigen“ christlichen Glauben zu benennen. Bezüglich der moralischen Werte erkennt er völlige Übereinstimmung zwischen Baptisten und Orthodoxen. Wo theologische Differenzen aufkommen, sollten sich beide Seiten hinsetzen, „die Bibel zur Hand nehmen und im Geiste der Brüderlichkeit einen Dialog führen“. Die Anfeindungen der Vergangenheit führt er auf „gegenseitige Ignoranz“ zurück und fügt hinzu: „Ich habe den Wunsch, daß alle, die sich als Christen verstehen, wahrhaftige Christen werden.“

Zum Persönlichen

Alexei Smirnow hat eine bescheidene und ruhige Art. Er betont, daß er niemals eine kirchenleitende Position angestrebt hätte. „Ich hatte sogar niemals vor, Pastor zu werden. Ich wollte nur dem Herrn dienen und seinen Willen erfüllen. Ich habe mich nie um gewählte Positionen bemüht, doch andere haben wiederholt für mich gestimmt.“

 

Oberhaupt der RUECB seit dem 24. März 2010, Smirnow ist ein vielbeschäftigter Mann. Die Geschäftigkeit ist ihm jedoch keineswegs fremd. Als seine erste Frau nach sechsjähriger Krankheit im März 1998 verstarb, hinterließ sie ihm sechs, zwischen 1979 und 1992 geborene Söhne. Außerdem hatte der Witwer noch einen weltlichen Beruf und seine kirchlichen Aufgaben. Anderthalb Jahre später heiratete er Inna Nikolajewna (Smirnowa). Sie

 

ist ganz offensichtlich eine mutige Frau mit Gottesvertrauen, denn mit der Eheschließung wurde sie nicht nur Ehefrau - sie wurde gleichzeitig Mutter für viele. Heute dient sie auch als die eifrigste Mitbeterin und Helferin bei der Arbeit ihres Mannes.

 

Dr. phil. William Yoder

Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen der RUECB

Moskau, den 3. September 2010

 

Eine Veröffentlichung der Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen bei der Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten. Meldung Nr. 10-24, 1.557 Wörter oder 11.116 Anschläge mit Leerzeichen.