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Lutheraner im Westen der ehemaligen UdSSR

Das Ziel bleibt die Einheit

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Lutherische Entwicklungen im Westen der GUS-Staaten

 

Reportage

 

M o s k a u -- Ein feierlicher Gottesdienst im Nordosten von Belarus - in Polotsk - am 12. September machte die Not der kleinen „Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche in der Republik Belarus“ deutlich. Am Beginn des Abendmahls erklärte Richardas Dokshas, der dienstführende, litauische Geistliche aus Wilnius, den drei oder vier einheimischen Pastoren, wo sie zu stehen, und, daß die Geistlichen erst am Ende des Abendmahls das Brot und Wein zu sich zu nehmen hätten. Auch der Bischof dieser faktisch etwa acht Gemeinden zählenden Kirche - Wladimir Meyerson aus Bobruisk – gilt nicht als Theologe. Wahrscheinlich würde es auch im Gebiet Kaliningrad/Königsberg ähnlich aussehen, hätten die dortigen Lutheraner für die letzten zwei Jahrzehnte auf die sehr zahlreichen Gäste aus Deutschland verzichten müssen.

 

Wohl der einzige jetzt in Belarus lebende Lutheraner mit abgeschlossener Theologieausbildung gehört dieser Kirche gar nicht an: der junge Weißrusse Wladimir Tatarnikow. Tatarnikow ist Pfarrer der großen, in St. Petersburg beheimateten „Evangelisch-Lutherischen Kirche in Rußland, der Ukraine, in Kasachstan und Mittelasien“ (ELKRAS – „www.elkras.ru“). Er betreut die deutschgeprägte Gemeinde und Kirche in Grodno sowie eine kleine Versammlung in Witebsk.

 

Auch im vielbesuchten russischen Gebiet Kaliningrad (Nordostpreußen) machen die gegenwärtigen, internen Entwicklungen wenig Mut. Die Besucherzahlen bei Gottesdiensten schwinden, der Mitarbeiterstab in der Königsberger Kirchenzentrale ist größtenteils ausgewechselt worden. In September siedelte Alexander Maibach, ein begabter Laienmitarbeiter, der sich über Jahre in der Jugendarbeit große Verdienste erworben hatte, mit seiner Großfamilie nach Deutschland über.

 

In jüngster Zeit verlangt eine aufstrebende Russische Orthodoxe Kirche die Übereignung von 15 ehemaligen protestantischen und katholischen Kirchen in der Kaliningrader Exklave. Die Kirchen in Druschba (Allenburg), Wladimirowo (Tharau) und Slawsk (Heinrichswalde) sind bereits übergeben worden; über die teils wiederhergestellten Kirchen in Gwardejskoje (Mühlhausen), Marino (Arnau) und Turgenjewo (Groß Legitten) steht das endgültige Urteil noch aus. In allen dieser Kirchen stecken die Mühe und Geld deutscher Freundeskreise und Stiftungen. Alle werden vor allem als ostpreußisches Kulturgut geachtet – nur gelegentlich (abgesehen von Druschba) tangieren sie das Leben der kleinen lutherischen Gemeinden. Seit 1994 bemühen sich die Baptisten vergeblich um die Rückgabe ihrer durchaus funktionsfähigen, säkular genutzten Kapelle in Jantarni (Palmnicken). Ein Novum in der großen Russischen Föderation ist die (vorläufig) gemeinsame, orthodox-baptistische Nutzung einer Kirche. Das Gotteshaus in Lipezk wurde der Orthodoxie überlassen nachdem es von den Baptisten restauriert worden war. Man könnte meinen, dieses Modell wäre auch anderweitig anwendbar.

 

Zur Kirchenpolitik

Das Gebiet Kaliningrad verfügt über einen seltenen Luxus: Seine rund 45 lutherische Ortsgemeinden befinden sich alle unter einem kirchlichen Dach. Alle gehören der europäischen Regionalkirche der ELKRAS – der „Evangelisch-Lutherischen Kirche Europäisches Rußland“ (ELKER) – an. Durch Einwirkung der konservativ-sakramentalistischen „Lutheran Church – Missouri Synod“ sind um die Jahrtausendwende nahezu alle belarussischen Gemeinden aus der EKRAS ausgetreten. Ihre heutige Vereinigung, die erwähnte „Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche“ („byluther.org“), wird von Missouri und der noch konservativeren „Wisconsin Evangelical-Lutheran Synod“ unterstützt.

 

Allein in Rußland bestehen vier lutherische Denominationen – in den USA allerdings die doppelte Zahl. Die mit Finnland und Estland verbundene „Evangelisch-Lutherische Kirche Ingermanlands – oder Ingria - in Rußland“ (ELKIR – „www.elci.ru“) entstand 1992. Die beiden anderen Denominationen sind die in Akademgorodok bei Nowosibirsk ansässige „Sibirische Evangelisch-Lutherische Kirche“ („www.lutheran.ru“) und die weitestgehend isolierte, 2007 gegründete „Evangelisch-Lutherische Kirche Augsburgischer Konfession in Rußland“ („www.luther.ru“). Die Existenz beider Kirchen ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, daß es zwei starke und streitbare Persönlichkeiten gibt: Bischof Wsewolod Lytkin in Akademgorodok und Kirchenpräsident Wladimir Pudow in Moskau. Lytkins Versuch ist wohl gelungen, die konservativste und konfessionalistischste lutherische Kirche Rußlands zu bilden. Dagegen ist die Kirche Pudows bemüht, ihre patriotische Gesinnung und Freiheit von ethnischen Bindungen hervorzukehren. In einer Glaubensdarstellung dieser Kirche heißt es z.B, „Der Dienst in der Armee ist heilige Bürgerpflicht.“ Pudow selbst war in den 80er Jahren Mitarbeiter des KGB. Schon deshalb läßt sich die Sprengung eines ihrer Gottesdienste durch eine schwerbewaffnete Polizeieinheit in Kaluga am 28. Februar 2010 nur als massives Mißverständnis verbuchen. Die Polizei war nach einigen Ausgaben darauf aus, einer terroristischen Vereinigung das Handwerk zu legen.

 

Die Kirche Lytkins verfügt über etwa 20 Ortsgemeinden, Pudows, um fast 10. Die ingermanländische (bzw. Ingria) Kirche hat nach eigenen Angaben 15.000 Mitglieder in 75 Ortsgemeinden. Bei der ELKRAS spricht man von 120 Ortsgemeinden. Nach demselben Schlüssel wie im Falle Ingrias käme man dabei auf eine Mitgliederzahl von nur 24.000 – doch die tatsächliche Mitgliederzahl könnte auch 40.000 übersteigen.

 

Die ELKRAS ist auch innerhalb der eigenen Reihen keine theologische Einheit. Etwa gleichzeitig mit der Fertigstellung des einst abgetragenen Kirchturms der massiven Moskauer Sankt-Peter-und-Paul-Kathedrale im Sommer 2010 trat Dietrich Brauer seinen Dienst als Bischöflicher Visitator der ELKER an. Brauer, der von Gussew (Gumbinnen) im Kaliningrader Gebiet nach Moskau wechselte, geht von drei Strömungen innerhalb der ELKRAS aus. Eine pietistische, brüdergemeindliche Tradition der Stubenversammlungen steht einer hochkirchlichen Tradition mit ihrer Vorliebe für gewaltige Kirchen mit Kirchengeläut und imposanter Orgelmusik gegenüber. Die inzwischen überalteten, oftmals deutschsprachige und ausschließlich von Laien geführte „Brüdergemeinden“ hatten sich über Jahrzehnte im sibirischen Untergrund bewährt. Doch die städtischen Großkirchen etwa von Petersburg, Moskau und Samara/Wolga ziehen eher junge Russen mit ihrem einzigartigen Angebot an Klang und Optik an. Diese „Hochkirchler“ sind sakramentalistisch und konfessionalistisch etwa im Sinne der Missouri-Synode und der deutschen „Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche“ (SELK) eingestellt. Eine kleine, dritte Gruppierung, die als theologisch „liberal“ zu bezeichnen wäre, ist am ehesten dort noch vorhanden, wo es Kirchenvertreter aus Deutschland gibt: Petersburg und das benachbarte Seminar in Nowosaratowka, das Kaliningrader Gebiet und Wladiwostok. Die pietistische, brüderschaftliche Strömung wird aber auch von deutscher Seite gefördert: siehe z.B. die Arbeit der Marburger (Saratow) und Liebenzeller (Jekaterinburg) Missionen sowie der Diakonie-Gemeinschaft Puschendorf (Gebiet Kaliningrad).

 

Der amtierende Erzbischof, August Kruse (geb. 1941), ist ein hervorragender Vertreter der brüderschaftlichen Richtung. Seine Ablösung des deutschen Staatsbürgers Edmund Ratz als Erzbischof im September 2009 ist auch ein Ausdruck des Wunsches der ELKRAS nach einheimischer Leitung. Die Wahl Brauers (geb. 1983) zum Bischöflichen Visitator der ELKER hat wohl ähnliche Ursachen. Brauer ist ebenfalls kein Vertreter einer hochkirchlichen, streng konfessionalistischen Ausrichtung. Er berichtet davon, daß ein gemeinsames, im Rahmen des Lutherischen Weltbundes gebildetes Gremium von ELKRAS und ELKIR (Ingria) die Annäherung beider Kirchen unterstützen werde. Die konfessonalistische, separatistische Ausrichtung der ELKIR hat ohnehin zahlreiche Anhänger innerhalb der ELKRAS. Der Nachrichtendienst „Luteranskie Westi“ wird bereits gemeinsam von beiden Kirchen herausgegeben. Brauer prognostiziert: „Vielleicht werden wir in 15 Jahren ein gemeinsames Seminar haben.“ Da leiden ihre beiden Seminare schon heute – wie nahezu alle protestantischen Seminare Rußlands – an Studentenmangel. Der Bischöfliche Visitator sagt es deutlich: „Natürlich bleibt es unser Ziel, eine einzige, lutherische Kirche in Rußland zu bilden.“

 

Als Streitthema von Dauer bleibt die Frage der Frauenordination. Schon 1994 kandidierte der heutige, lettische Erzbischof Janis Vanags für das Amt mit der Zusicherung, er werde keine Frauen ordinieren. Entschieden dagegen ist auch Erzbischof Kruse. Doch der Bischöfliche Visitator in Moskau – Brauer – sieht das anders: Schließlich ist die eigene Ehefrau, Tatjana Petrenko, eine studierte und ordinierte Theologin. In Moskau ist sie allerdings ohne pastoralen Auftrag. Bischof der flächenmäßig größten lutherischen Kirche der Welt – die „Evangelisch-Lutherische Kirche Ural, Sibirien und Ferner Osten“ mit Sitz in Omsk - ist seit Oktober 2010 der Deutsche Otto Schaude (geb. 1944). Obwohl er als langjähriger Vorsitzender des „Altpietistischen Gemeinschaftsverbands Württemberg“ über höchste pietistische Auszeichnungen verfügt, tritt er entschieden für die Beibehaltung der Frauenordination ein. So ergibt es sich, daß nur bestimmte Bischöfe für die Feiern zur Ordination von Frauen zur Verfügung stehen. Unterstützende Westkirchen wie die EKD, die SELK und die Missouri-Synode haben verschiedentlich nicht darauf verzichtet, die Vergabe von Geldern vom Standpunkt des Empfängers bezüglich der Frauenfrage abhängig zu machen. Die ELKRAS hat mehr als 20 Pastorinnen im Einsatz; fast alle anderen Pastorinnen auf russischem Boden sind in den Reihen der Charismatiker und Methodisten zu finden.

 

Zur Glättung von Richtungsstreitigkeiten steht weiterhin der respektierte, 80-jährige Altbischof Siegfried Springer (Bad Sooden-Allendorf) zur Verfügung. Er war bis 2007 Bischof der ELKER und besucht gerade in diesen Tagen Moskau.

 

Dr.phil. William Yoder

Moskau, den 16. November 2010
Pressedienst der Russischen Evangelischen Allianz

 

Eine Veröffentlichung der Russischen Evangelischen Allianz. Sie will informieren und erhebt nicht den Anspruch, eine einheitliche, offizielle Position der Allianz-Leitung zu vertreten. Meldung Nr. 10-27, 1.277 Wörter oder 9.904 Schläge mit Leerzeichen.

Anmerkung von Juli 2020: Inzwischen sind die Bischöfe Ratz, Schaude und Springer verstorben.