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Die Evangeliumschristen sind wieder da

Das breite Mittelfeld

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Steckt mehr als Geld hinter der WSEKh?

Kommentar

M o s k a u -- Steckt mehr als Geld hinter der „All-Russischen Arbeitsgemeinschaft der Evangeliumschristen“ (WSEKh)? Ist sie mehr als das Geschöpf eines einzigen, ehrgeizigen Mannes? Wird die Arbeitsgemeinschaft den leiblichen Tod ihres Mäzen – bzw. den Tod seines Bankkontos – überleben? Diese Fragen beschäftigten Beobachter ihres zweiten gesamtrussischen Kongresses, der vom 26. bis 28. April im Moskauer Hotel „Ismailowo“ stattfand. Dieser Kongreß und seine 800 Teilnehmer sollen den 1948 geborenen Unternehmer Alexander Semtschenko Hunderttausende von Dollar gekostet haben. Inzwischen vertritt die 2008 gegründete WSEKh (ВСЕХ) 21 kleine Kirchenbünde und 665 Ortsgemeinden.

 

Für ihre Gegenspieler ist diese Arbeitsgemeinschaft ein rein künstliches Gebilde. In einem Interview unmittelbar vor dem Kongreß versicherte Alexei Smirnow, Präsident der „Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten“ (RUECB), die WSEKh sei bemüht, das zu spalten was längst zusammengeschmolzen sei. „Sie nennen sich selbst Evangeliumschristen – wir Evangeliumschristen-Baptisten sind für sie nur noch ‚Baptisten’. Wir können uns auf keinen gemeinsamen Dienst mit demjenigen (Semtschenko) einlassen, der diesen Prozeß angefangen hat, ehe er Buße tut für die Aufspaltung und Zerstörung der Bruderschaft. Das ist für uns eine geistliche und prinzipielle Frage.“ Dabei nannte der RUECB-Präsident diese neue Bewegung „unbiblisch“, denn sie sei ausschließlich „aus Kränkungen“ entstanden.

 

Unbestritten ist die Tatsache, daß die WSEKh eine kräftige Abwerbung ohne Absprache mit den betroffenen Kirchen betreibt. Bis 2008 waren Leonid Kartawenko, Simon Borodin (beide Missionsab­teilung) und selbst Alexander Semtschenko leitende Mitarbeiter der RUECB. Zwei Jahre danach machten Pawel Kolesnikow (Baptistenpastor in Selenograd bei Moskau) und Irina Metrofanowa (Katechismus-Abteilung der RUECB) den gleichen Sprung.

 

Die Erwiderung

Beim Kongreß selbst stieß man auf leidenschaftliche Befürworter der WSEKh. Manche Anhänger verstehen diese Gemeinschaft als das Aufbegehren gegen eine hierarchisch denkende, eher ungebildete „Nomenklatur“ der Sowjetära, die sich auf Nebensachen (Taufe durch Untertauchen, bestimmte Bekleidungs- und Musikformen) festgebissen habe. Gerade diese „alte Garde“ verteidige vehement die herkömmliche baptistische Subkultur mit ihren mannigfaltigen, ungeschriebenen Regelungen und Verboten. Dagegen ist das schrille, jährliche Osterkonzert der WSEKh eine beeindruckende Mixtur von Schmaus, Sound und Show. Leonid Kartawenko schrieb: „Die Evangeliumschristen sind aufgeschlossener gegenüber der Gesellschaft, gegenüber neuen Menschen und neuen Methoden, den Menschen das Heil nahezubringen.“

 

Im Gespräch geißelte ein erfahrener Gast aus dem Westen das finanzzentrische Denken der letzten Jahrzehnte: „Man wollte Spenden bekommen – nicht Partner sein. Man nahm das Geld mit beiden Händen entgegen. Doch sonst hieß es: ‚Wir wollen so bleiben wie wir sind.’“ Trotzdem seien die Unionen „viel zu viel damit beschäftigt gewesen, westliche Sponsoren zu beglücken. Dabei haben sie die internen Kräfte, die

 

hier entstanden sind, aus dem Blick verloren.“ An die nichtanwesenden Traditionalisten gewandt, meinte der Gast: „Sobald das Geld hier versickert, seid Ihr schon in Amerika. Keiner glaubt mehr, daß Ihr Rußland wirklich im Blick habt. Wer soll noch auf Euch setzen? Davon hat der Westen die Nase voll.“

 

Das breite Mittelfeld

Im russischen Protestantismus gibt es ein breites, theologisches Spielfeld zwischen „Traditionalisten“ und charismatischen Kreisen. Genau dieses weite Feld „zwischen traditioneller protestantischer Kultur und Charismata“ will die – nichtcharismatische - WSEKh belegen. „Die Plattform, die mit Semtschenkos Geld geschaffen worden ist, ist künstlich“, räumte ein Gast aus Westeuropa ein. „Das ist nur eine Bühne, aber das Anliegen dahinter ist real.“

 

Alexander Feditschkin, ein Pastor der RUECB im Süden Moskaus, kann den Vorwurf einer künstlichen Entstehung nicht begreifen. Er sagt, seine eigene Sehnsucht nach einer konfessionsübergreifenden und offenen missionarischen Bewegung sei schon in den 90er Jahren entstanden. Da Semtschenko von den Grundpfeilern evangelikaler Theologie nicht abweiche, bezeichnete Feditschkin dessen Denken als „sehr biblisch“. Dieses Verlangen, und nicht etwa das Geld eines Semtschenko, sei die treibende Kraft der Bewegung. Der Baptist Anatoli Kaluzhny, Hauptpastor einer unionsfreien, nichtcharismatischen Gemeinde mit 1.500 Besuchern in Kiew, sagte es noch deutlicher: „Die WSEKh – das bin ich. Sie verkörpert genau das, was ich auch will.“

 

Dieses Mittelfeld zwischen den Fronten bemüht sich um ein entspanntes Verhältnis zu den strittigen Fragen, die die Evangelikalen Rußlands sonst trennen. Ein Beobachter meinte: „Sobald einer das Wort ‚Geistesgaben’ in den Mund nimmt, wird er als Pfingstler verschrien. Aber das geht nicht - wir können nicht auf Dauer anticharismatische Positionen vertreten. Man muß sachlich diskutieren dürfen. Sonst schafft man Aggressionen; so verliert man junge Leute.“

 

Obwohl die einst baptistische Gemeinde in Tuschino (im Nordwesten Moskaus) zur charismatischen Union des Sergei Rjakhowski gehört, macht sie bei der WSEKh mit. Es hieß im Gespräch: „Solche Gemeinden sind bei den Charismatikern nicht voll angekommen – sie sind Baptisten geblieben.“ Entsteht also ein neuer, linker Flügel des russischen Baptismus?

 

Für dieses Mittelfeld sind die traditionellen baptistischen Auseinandersetzungen über die korrekte Form der Wassertaufe uninteressant. In den WSEKh-Gemeinden ist die Taufe durch Besprengen gang und gebe; sogar Kindgetaufte werden ohne Wiedertaufe als Mitglieder aufgenommen. Für ein gemeinsames Missionieren auch mit orthodoxen Kreisen hält man sich offen.

 

Manche Bünde der WSEKh verstehen sich als calvinistisch, doch darüber diskutieren möchten sie auch. Ein Gesprächspartner versicherte: „Auch solche, die calvinistisch denken, definieren sich nicht aus einem Feindbild heraus. Bisher haben wir uns in diesem Lande schon immer über ein Feindbild definiert. Aber diese Bewegung möchte für etwas sein. Das verschafft uns eine neuartige russische Identität.“

 

Ein westlicher Beobachter versicherte, es sei gerade die „alte Nomenklatur“, die überkonfessionellen Bewegungen wie die Evangelische Allianz, die Lausanner Bewegung und Gruppierungen der christlichen Geschäftsleute behindert hätten. Doch der WSEKh fehle diese Nomenklatur nahezu gänzlich.

 

Dieser Beobachter berichtete, er habe im Rahmen des Kongresses eine Sitzung zur Außenmission erlebt, in der die versammelten sich bereitstellten, auf Kosten ihrer eigenen Gemeinden 30 Missionare nach Afrika zu entsenden. „Das sind neue Töne,“ frohlockte er. „Diese Leute haben ein völlig neues missionarisches Selbstbewußt­sein. Das hat auch Zukunft, denn der Westen wird sich hinter solche Initiativen stellen.“

 

Die Gefahren

Die „All-Ukrainische Union von Assoziationen der Evangeliumschristen-Baptisten“, einer der größten Baptistenbünde Europas, gilt als eine Zitadelle des Traditionalismus. Vor wenigen Jahren gipfelte ihre Mitgliedschaft bei rund 135.000. In Moskau wurde nun behauptet, diese Union nehme jährlich um 3.000 Mitglieder ab. Mitgliederzahlen bei der RUECB schwanken zwischen 72.000 und 80.000 - Tendenz eher fallend

 

In Moskau sagte Anatoli Kaluzhny voraus: „Nun werden die Baptistenbünde es schwer haben. Jetzt gibt es Alternativen – eine Gemeinde kann sich selbst die passendste Union aussuchen.“ Doch angesichts einer langjährigen Konfessionsvielfalt ist diese Option nicht neu – neu ist höchstens die potentielle Größe der Alternative WSEKh.

 

Manche Anhänger der WSEKh erkennen einen Exodus jüngerer, gebildeter und innovativer Leute aus den Reihen der RUECB. „Regional sind Verbände von Leitern entstanden, die mit dem administrativen System der alten Unionen nicht klar kamen. Die alten Unionen haben es nie verstanden, diese innovativen Kräfte zu halten.“ Ferner hieß es: „Wenn dieses Experiment WSEKh gelingt, sind alle weg aus den Kreisen der Evangeliums­christen-Baptisten. Die innovative Kraft, die hinter diesen Leuten steht, ist enorm.“

 

Dabei darf nicht vergessen werden, daß auch die WSEKh nicht ohne westliche Verbindungen auskommen will. Zum Moskauer Kongreß waren Südbaptisten aus dem Bundesstaat Georgia, leitende Vertreter des „Lausanne-Komitees für Weltevangelisation“, der „International Federation of Free Evangelical Churches“ (IFFEC) und der deutschen Mission „Licht im Osten“ angereist. Weitere Missionen wie „Wycliff“, „Radio Teos“ und die lettische „Baznica“ waren ebenfalls zugegen. Bezüglich des Kommens von Lausanne wurde konstatiert: „Sie kamen hierher weil sie in dieser Gruppierung eine Zukunft sehen.“

 

Ein ausländischer Teilnehmer prognostizierte: „Die ‚Freien Evangelischen Gemeinden’, die ‚Evangelical Covenant Church’ sowie die ‚Christian and Missionary Alliance’ haben viel Geld in Rußland investiert. Das lief üblicherweise über den Baptistenbund und sie verzichteten darauf, eine eigene Konfession zu gründen. Doch wenn aus der WSEKh eventuell eine Kirche wird, wird die Versuchung viel zu groß sein, nicht mitzumachen.  Da werden sie endlich etwas Handfestes in der Hand haben.“

 

Die Zukunft

Im Hotel Ismailowo war man sich einig: Gegenwärtig sei die WSEKh ein Netzwerk und keine Kirche. Jetzt sei sie nur ein Konglomerat ohne deutliches Profil. In ihren Reihen befänden sich Baptisten, Evangeliumschristen, Charismatiker, messianische Juden, Calvinisten und Arminianer. Der Presbyterianer und Fünf-Punkte-Calvinist Walerian Ten will aus der WSEKh eine Kirche machen, doch dafür ist seine Theologie nicht konsensfähig. Aber manche meinen, es sei nur eine Frage der Zeit, bis aus dem Netzwerk eine Kirche wird. Die Evangeliumschristen im engeren Sinne haben bereits eigene, kleine Denominationen.

 

Entscheidend hinsichtlich der kirchlichen Landschaft der Zukunft ist die Frage, ob die RUECB der WSEKh das riesige Mittelfeld zwischen baptistischer Subkultur und Charismata streitig macht. Können die RUECB-Gemeinden an der Basis flexibel genug sein; können sie sich auf das Wesentliche im Evangelium konzentrieren? In Moskau hieß es: „Wenn die RUECB bei ihrer Tradition verharrt, holt sie sich mit der WSEKh eine gewaltige Konkurrenz ins Haus.“ Doch es gibt Anzeichen dafür, daß jüngere Baptistenpastoren ins Mittelfeld vorpreschen.

 

Der historische Baptismus – die RUECB - bleibt die größte einheitliche protestantische Kirche im heutigen Rußland. Und es gibt durchaus Anzeichen dafür, daß sie Kräfte im Mittelfeld aufnehmen kann. Es ist auch denkbar, daß die Anhänger der WSEKh die eigenen Stärken sowie die Schwächen der anderen Seite überzeichnen. Die WSEKh agiert ebenfalls hierarchisch – das bringt das massive Geldgefälle zwischen oben und unten mit sich.

 

Ein Konkurrenzkampf zwischen WSEKh und der charismatischen Bewegung einerseits gegenüber der RUECB und den ihr verbundenen Kräften andererseits ist im Gange. Die WSEKh will die bisherige Vorrangstellung der RUECB bei Staat und Orthodoxie ad acta legen. Doch diese intern-baptistische Auseinandersetzung wirft einen negativen Schatten auf den öffentlichen Ruf des Protestantismus. Deshalb wäre es sehr zu hoffen, daß die westlichen Kirchen und Missionen mit Wort und Portemonnaie nicht voreilig zur Vertiefung dieses Grabens beitragen. Manche hegen noch die Hoffnung, Alexander Semtschenko und seine Arbeit mögen in den Schoß der RUECB zurückkehren. Sie werden dort immens gebraucht – und die Unterschiede sind eher stilistisch als inhaltlich. Dafür wäre allerseits viel Flexibilität, Geduld und Beharrlichkeit vonnöten.

 

Dr.phil. William Yoder

Smolensk, den 11. Mai 2011

 

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