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Geschichte baptistischen Lebens im russischen Kaliningrad

Das Gemeindeleben ist nie erloschen

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Buch über die Geschichte der Baptisten im russischen Gebiet Kaliningrad erschienen

 

M o s k a u -- Das wohl erste russischsprachige Buch, das sich mit dem baptistischen Gemeindeleben nach 1945 im sowjetisch gewordenen Nordostpreußen befaßt, ist kürzlich erschienen. Autor ist Anatoli Krikun, der gegenwärtige, baptistische Bischof (Starschi Presbyter) in Kaliningrad/Königsberg. Herausgeber ist das Moskauer Theologieseminar der „Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten“; das Werk ist ein Teil der Diplomarbeit des Bischofs.

 

Als sozialistisches Mustergebiet sollte das neugewonnene, sowjetische Gebiet Kaliningrad über keine Kirchen verfügen. Doch Krikun macht deutlich, daß trotz aller Verfolgungen das kirchliche Leben auf diesem einst deutschen Gebiet niemals erlosch. Die ersten Zweidrittel des 115-seitigen Buches befassen sich mit der deutschen Zeit vor 1945 und liefern dem deutschsprachigen Leser deshalb wenige Neuigkeiten. Doch dafür ist die Beschreibung der sowjetischen Ära aus russisch-baptistischer Sicht ein eindeutiges Novum. Allerdings ist der Titel des Buches – „Geschichte der Evangeliumschristen-Baptisten in Ostpreußen und im Gebiet Kaliningrad“ (Istoria evangeliskikh khristian-baptistow w Wostotschnoi Prussi i Kaliningradskoi oblasti) verwirrend. Im deutschen Ostpreußen hatte es niemals eine Kirche der russischen Evangeliumschristen-Baptisten gegeben.

 

Die existentiellen Härten der ersten Jahre und die Zerstörungswut mancher Sowjetbürger im Gebiet werden vom Autor keineswegs verschwiegen. Gehungert wurde nach 1945 nicht nur in „Großrußland“: Krikun gibt an, daß 51% der 510.063 Neusiedler, die im Zeitraum 1948-1953 ins Gebiet kamen, wieder fortzogen. Da bis November 1945 nur 7.000 Neusiedler im Gebiet eingetroffen waren und diese mehr als 100.000 Deutschen gegenüberstanden, ist Krikuns Hinweis verständlich, daß bis zur Deportation der letzten Deutschen das kirchliche Leben fest in deutscher Hand verblieb. Anfangs ohne jegliche Rücksicht auf die eigene Konfession versammelten sich Deutsche und „Sowjetbürger“ unter der geistlichen Leitung von Deutschen. Deutsche Geistliche genossen hohes Ansehen; „Im allgemeinen verliefen die gegenseitigen Beziehungen positiv“. (S. 81) Das gänzliche Fehlen einer kirchlichen Infrastruktur seitens der Orthodoxie machte es Baptisten umso leichter, Mission im eigenen Sinne zu betreiben. In Kaliningrad wurde 1947 eine 60-köpfige Baptistengemeinde unter Leitung des deutschen Pastors Heinrich Fenner staatlich registriert - sie überlebte den Auszug der Deutschen aber nicht.

 

In den sowjetischen Archiven tauchen Neusiedler-Baptisten erst 1947 auf; mit dem Abtransport der letzten Deutschen im Jahr danach kam das christliche Gemeindeleben fast zum Erliegen. Bei den Lutheranern kam es praktisch zum Aus. Krikun erwähnt nicht, daß wer in den vier Jahrzehnten nach 1948 einen lutherischen Gottesdienst besuchen wollte, nach Litauen ausweichen mußte. Die lutherische Kirche in Silute (Heydekrug) im grenznahen Memelgebiet z.B. ist von den sowjetischen Behörden nie geschlossen worden.

 

Das Eintreffen baptistischer Neusiedler aus Weißrußland, der Ukraine und Weißrußland sorgte immer wieder für ein Aufstocken der kargen baptistischen Reihen. Im März 1947 traf der doppelbeinamputierte Prediger M. P. Reiutski aus Saporoschje/Ukraine ein. Bis 1954 galt er als der führende, baptistische Geistliche im Gebiet. Im Jahre 1950 verfügte seine Kaliningrader Gemeinschaft über 40 Mitglieder; in Tschernjakhowskk (Insterburg) gab es 30 weitere. Die nächstgrößeren Hausgemeinden befanden sich in Gusew (Gumbinnen) und Sowjetsk (Tilsit). Bei einer Feierstunde 1961 kamen 130 Gläubige zusammen; Krikun gibt 70 als die Zahl der damaligen „Aktivisten“ an.

 

Ab 1964 strömten kinderreiche, deutschstämmige Familien aus Kirgisien nach. Das Eintreffen der Deutschen bescherte den Baptisten den Anfang einer Blütezeit, die von 1976 bis etwa 1989 andauerte. Schon 1963 war Pawel Meissner aus Kirgisien eingetroffen; er diente als leitender Geistlicher für das Gebiet von 1965 bis zur seiner Ausreise nach Deutschland 1976. In den Jahren 1966-76 versammelte sich die Kaliningrader Gemeinde weit außerhalb der Stadt in Meissners Privatdomizil im Dorf Perwomajskaja (Pottlitten nahe Bladiau). Mitte der 70er Jahre waren 30% der Baptisten deutscher Abstammung - eine Tatsache, die das Mißtrauen der Staatsorgane erregte. Nach Krikuns Angaben wurde Meissner durch den staatlichen Druck zur Ausreise gezwungen; dies zog eine Ausreisewelle der Deutschstämmigen nach sich. Heute ist nur noch eine Handvoll der dortigen Baptisten deutscher Herkunft. Vor Beginn der Ausreisewelle hatte die Kaliningrader Gemeinde 1976 220 Mitglieder.

 

Das bewegte Gemeindeleben

Das baptistische Gemeindeleben ging nicht ohne Spaltungen und Querelen ab. Ab 1951 reisten Pfingstler aus dem Westen Weißrußlands ein. Nach einem Jahr gemeinsamen Lebens beschloß man getrennte Wege zu gehen. Doch bei der Trennung nahmen die Pfingstler vereinzelte Baptistenfamilien mit. Der Hauptstreitpunkt betraf das Zungenreden.

 

Nach Krikuns Schilderungen hat der massive Druck des Staates um das Jahr 1959 herum - auch in den Medien - zu starken Verwerfungen geführt. Wegen persönlicher Verfehlungen mußten die Pastoren Reiutski und A.A. Mogila den Dienst quittieren. Gegensätzliche Meinungen bezüglich des korrekten Vorgehens gegenüber dem Staat - und den eingeschleusten Mitarbeitern des KGB - brachten die Gemeinde an die Schwelle der Selbstauflösung. Die Autorität der Pastoren wurde untergraben: „Manche weniger Standhaften verließen für immer die Gemeinde.“ (S. 101)

 

Dennoch konnte sich die Gemeinde wieder fangen und schon 1965 wollte sie zwei weitere Brüder ordinieren, um neugewonnene Mitglieder besser versorgen zu können. Doch der Moskauer All-Unionsrat der Baptisten lehnte eine Mitwirkung bei der Ordination ab, weil die Gemeinde nicht registriert war. Daraufhin wandte man sich an eine nichtregistrierte Gemeinde der „Initiativniki“ in Brest/Weißrußland. Bei ihrem Besuch in Kaliningrad machten die Brester jedoch zur Bedingung ihrer Mitwirkung, daß die Kaliningrader jegliche Zusammenarbeit mit den registrierten Gemeinden der UdSSR einstellten. Das lehnte die Gemeinde „auf diplomatische Weise“ ab; es ergaben sich unsanktionierte Ordinationen auf eigene Faust. Eine Folge dieses Kontakts war aber auch, daß sich in Kaliningrad eine Gruppe der „Initiativniki“ abspaltete. Der 2006 erschienenen Diplomarbeit des Rußland-Deutschen Alex Breitkreuz ist zu entnehmen, daß 2004 die Initiativniki im Gebiet eine stattliche Mitgliederzahl von 300 aufwiesen.

 

Die staatliche Verfolgung verlief in Wellen: Krikun legt die Hauptphasen staatlicher Verfolgung auf die Jahre 1954, 1958, 1964, 1971, 1981 und 1984 fest. (S. 108)

 

Weil die Gemeinden im Gebiet unregistriert und somit illegal waren, konnten sie keine Bethäuser einrichten. Doch alle Versuche nach 1948, in die Legalität zu gelangen, wurden von den Gebietsbehörden abgewiesen. Im Mai 1967 war es endlich so weit: Die Baptistengemeinden wurden als erste Religionsgemeinschaft des Gebietes überhaupt offiziell zugelassen. So steht es auf der Webseite dieser Kaliningrader Gemeinde („mir-kld.ru“). Allerdings schreibt Krikun in seinem Buch, die Baptisten seien nur als „eine der ersten religiösen Organisationen des Gebietes“ registriert worden. (S. 106) Wesentlich ist auf jeden Fall, daß diese Registrierung lange vor der Registrierung der Russischen Orthodoxen Kirche im Gebiet erfolgte - das ist erst im April 1985 passiert. Die Katholiken und Lutheraner im Gebiet wurden 1991 registriert.

 

Eng verknüpft mit der Registrierung war die Frage der Immobilien. Erst im dritten Anlauf konnte mit entsprechenden Feierlichkeiten am 12. August 1979 ein kleines, nagelneues Bethaus eingeweiht werden. Das Haus befand sich in der Krylowa 38 fernab aller öffentlichen Verkehrsmittel im Norden der Stadt. Sogar der Gebietsbeauftragte für religiöse Angelegenheiten, J. J. Machobajski, ist zur Feierstunde erschienen. Zu ihm hatte sich ein Vertrauensverhältnis entwickelt. Krikun schreibt, Machobajski habe sich als „ehrlicher und intelligenter Mensch“ erwiesen. „Wenn es erforderlich war, trat er für die Rechte der Gläubigen ein.“ (S. 114) Wahrscheinlich ist die sehr frühzeitige Registrierung der Baptisten diesem persönlichen Verhältnis zu verdanken.

 

Im Jahre 1965 und 1973 wurden Häuser unter Privatnamen erworben mit der Absicht, sie in Bethäuser umzuwandeln. Im ersten Fall wurde das Haus schnell vom Staat konfisziert, im zweiten Fall hingegen wurde das fast fertiggestellte Haus nach langen behördlichen Verzögerungen 1975 Opfer einer Brandstiftung. Danach wurde es planiert.

 

Schon 1976 nach der Ausreise Meissners war der Kraftfahrer Wiktor Schumejew „Leitender Pastor“. Als Zehnjähriger war er gemeinsam mit seinen Eltern 1950 aus dem Gebiet Belgorod (Westrußland) nach Kaliningrad übersiedelt. Anfang 2011 ging er als Pastor in Rente.

 

Der studierte, 1946 geborene Ingenieur Anatoli Krikun stammt aus Berditschew im Gebiet Zhitomir nahe Kiew, wo bereits sein Vater Iwan als Prediger gedient hatte. Im Jahre 1967 zog er ins Kaliningrader Gebiet um; 1973 löste er Schumejew als Gemeindesekretär ab. Krikun wurde 1993 zum Diakon ordiniert, im Jahr danach zum Pastor. Offizieller Leitender Pastor (Bischof) wurde er 1996.

 

Mit dem Machtantritt Mikhail Gorbatschows 1985 hört das Buch plötzlich auf. Krikuns eigene Wahl zum Leitenden Presbyter bzw. Bischof wird nicht mehr erwähnt. Ebenfalls unerwähnt blieb der Umzug der Gemeinde in einen imposanten Neubau in der Uliza Gagarina 18 im Osten der Stadt. Dort ist am 23. August 1998 ein Kirchenzentrum mit 500 Plätzen eingeweiht worden. Zu den rund 700 Gästen zählten 100 Besucher aus Deutschland; die Deutschen - unter ihnen viele ehemalige Königsberger - hatten sich mit rund 500.000 Mark am Neubau beteiligt. Laut Breitkreuz hatte diese Kaliningrader Gemeinde im Jahre 2004 318 Mitglieder; im gesamten Kaliningrader Gebiet gab es damals 426 Baptisten in registrierten Gemeinden. Das Gemeindeleben hat sich stark etabliert: Im Jahre 1999 konnte ein noch existierendes und staatlich anerkanntes „Bibelkollege“ eingerichtet werden. Es ist mit dem von Aussiedler geführten „Bibelseminar Bonn“ verbunden.

 

Dr.phil. William Yoder

Moskau, den 19. Mai 2011

Pressedienst der Russischen Evangelischen Allianz

 

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