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Über den besten Weg für die Kirche in Russland

Eine Stimme aus der Wüste und eine Stimme aus dem Kreml?

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Zur Debatte zwischen den evangeliumschristlichen Baptisten Juri Sipko und Alexander Semtschenko

 

M o s k a u -- Im Februar 2008 kam es zum Bruch zwischen dem Geschäftsmann Alexander Semtschenko und der Leitung der „Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten“. Mit dessen Folgen ist die RUECB bis heute konfrontiert. Nachdem Semtschenko die Sicherheitskräfte seiner Baufirma „Teplotechnik“ eingesetzt hatte, um ein wildes Lager der Gegner einer Waldrodung zu sprengen (siehe unsere Meldung vom 18.8.2010), nahm der öffentliche Disput zwischen ihm und Juri Sipko, bis März 2010 Präsident der RUECB, seinen Lauf. Im dissidentisch-orthodoxen Nachrichtendienst „Portal-Credo“ am 8. Oktober 2010 bezeichnete der Ex-Präsident es als „Unsinn“, daß ein Unternehmer gleichzeitig Bischof sein könne. (Semtschenko ist seit 2008 Bischof der kleinen „Union der Kirchen der Evangeliumschristen“.) Über Semtschenkos kirchliche Mitarbeiter meinte Sipko damals: „Dutzende der heiligen Lehrer des Evangeliums werden aus seiner Hand gefüttert. Der Klang des Geldes übertönt das Gewissen. Dieser schwarze Fleck liegt auf den Verkündigern des Evangeliums.“ Sipko setzte mit zwei Interviews in Portal-Credo am 16. und 28. September 2011 nach; Semtschenko reagierte erstmals mit öffentlicher Kritik in einem Interview mit demselben Nachrichtendienst am 6. Oktober 2011.

 

Für die vielen Unzufriedenen ist Juri Sipko eine mutige und prophetische Stimme. Im Interview mit Semtschenko am 6. Oktober schrieb Portal-Credo: „Die russische Gesellschaft wartet noch auf Worte der Wahrheit, der Moral und der politischen Reife von ihren religiösen Vertretern. In einem solchen, prophetischen Stile tritt Pastor Juri Sipko auf.“ Doch Semtschenko, womöglich der einzige, protestantische Oligarch des Landes, erwiderte: „Alle seiner Reden verraten nur eins: Ressentiments.“ Er halte sich für „den großen Führer einer großen protestantischen Union“, doch die Staatsmacht „wollte mit ihm keine Verbindung eingehen“. Sipko selbst gab zu, kein Vertrauter der Mächtigen zu sein und meinte in einem seiner Interviews: „Ich beobachte von zu Hause aus die politischen Prozesse ein wenig.“

 

Die Position einer Fundamentalopposition, die Sipko vertritt, ist deutlich zu vernehmen im Interview vom 28. September vier Tage nachdem Wladimir Putin angekündigt hatte, abermals für das Amt des Staatspräsidenten zu kandieren. Er geißelte den Widerstreit zwischen Putin und Dmitri Medwedew als abgekartetes Spiel und „Theater“ und versicherte: „Für Putin und Medwedew ist die Lüge ein fundamentales Mittel der Staatslenkung.“ Er folgerte: „Ein wertefreier Mensch hat nicht das Recht, einen Staat zu führen. Beide Jungens in diesem Tandem haben ihren Anspruch auf die Macht verwirkt.“

 

Im Interview vor einem Jahr hatte Sipko versichert: „Wer reich ist in Rußland ist auch Dieb. Der Reiche in Rußland ist unehrlich, ein Betrüger und Lügner. Ein Dieb bekämpft den nächsten Dieb; der Verbrecher schützt sich vor anderen Verbrechern. Dies trifft für alle Reichen in Rußland zu – auch für solche, die heute vorgeben, den Geist, die Ehre und das Gewissen der Nation zu repräsentieren.“ Über die Ausgeschlossenen hieß es ein Jahr danach: „Wer nicht stirbt, reist aus.“ Doch zur Lösung der gesellschaftlichen Krise hebt der ehemalige Präsident auch die geistliche Option hervor: „Wir alle bedürfen der Bekehrung. Ich glaube an die Gnade Gottes.“

 

Die Antwort Semtschenkos

In seiner Erwiderung am 6. Oktober gab sich Semtschenko betont staatsmännisch. Mit globalen Vorwürfen wie „politisches Theater“ konnte der Unternehmer nichts anfangen. Auch den Vorwurf „Lüge“ hielt er für eine unzulässige Pauschalisierung. Schließlich seien alle Politiker von Rang kraft ihres Amtes gezwungen, nur mehr-oder-weniger die ganze Wahrheit zu sagen. Somit sei für ihn der Vorwurf der Lüge „sehr, sehr subjektiv“.

 

In seinen Beiträgen listete Sipko die respektablen, oppositionellen Politiker auf, die durch die Staatspartei Putins kaltgestellt worden sind. Doch Semtschenko hielt dagegen, es gebe in der heutigen Duma keine oppositionelle Partei, die für Protestanten hinnehmbar wäre. Den Nationalisten Wladimir Schirinowski und KP-Chef Gennadi Sjuganow bezeichnete er als „schrecklich“. In Boris Jelzin sah Semtschenko einen sympathischen Menschen, „der sich jedoch als Politiker schwach erwies“ und die Russen beinahe um ihr Land gebracht hätte. Im Interview vom 6. Oktober setzte Semtschenko noch eins drauf: „Ich erachte in Putin einen großen Segen für Rußland. Er ist ein Symbol der Stabilität und des Fortschritts.“

 

Von der gegenwärtigen Opposition erwartet der Kirchenmäzene wenig Gutes: „In dieser Opposition versammeln sich vor allem Unwillen und Haß auf die staatlichen Strukturen.“ Er meinte ferner, für das miese Verhältnis der Protestanten zum Staat seien sie selbst mitverantwortlich. Im Gegensatz zur Orthodoxie sei es „ihnen noch nicht gelungen, ihr eigenes Verhältnis zum Staat auszuformulieren“. Der Unternehmer versicherte ferner, man könne ihm „der Untätigkeit nicht vorwerfen, denn von allen setzte ich mich am häufigsten und am konkretesten mit der Staatsmacht auseinander“. Die Behauptung, er selbst sei kein prinzipienloser Opportunist, untermauert Semtschenko häufig mit dem Hinweis, er sei – etwa im Gegensatz zu Sipko – zur Sowjetzeit inhaftiert gewesen (1982).

 

Gemeinsam mit dem Charismatiker Sergei Rjakhowski, dem Bischof der  2.000-Gemeinde-starken „Vereinigten Russischen Union der Christen Evangelisch-Pfingstlerischen Glaubens“, sieht er es als seine Aufgabe an, in politischen Kreisen für Verständnis gegenüber der kleinen, oftmals unsichtbaren protestantischen Bewegung zu werben. „Wir leiten eine große Arbeit zur Zusammenführung der russischen Protestanten.“ Für staatliche Kreise sollen die protestantischen Kirchen ein attraktiver und hilfreicher Partner werden. „Das heißt aber nicht, daß wir uns einfach der Autorität des Staates unterwerfen und allen seinen Forderungen und Launen folgen sollten.“

 

Resümierend versicherte der Geschäftsmann: „Unser Staat hat nicht die Absicht, den Protestantismus zu vernichten.“ Das Hauptproblem seien vielmehr Möchtegern-Konvertiten in den Reihen der Orthodoxie, die meinen, der Kirche am ehesten einen Dienst zu erweisen, indem sie „die Physiologie eines protestantischen Pastors polieren“. Auf weiterführende Gedanken kämen sie nicht. Zur Dissonanz innerhalb der protestantischen Reihen sowie im Verhältnis der Protestanten zur Gesellschaft meinte er: „Leider ist die Kultur des Dialogs in Rußland noch stark unterentwickelt. Deshalb müssen wir damit beginnen, aufeinander zu hören und einander zu verstehen.“

 

Die heutige von Alexei Smirnow geleitete RUECB agiert vorsichtiger als die beiden hier beschriebenen Kontrahenten. Leitender Vizepräsident Jewgeni Bakhmutski hat wiederholt dazu aufgerufen, auf politische Äußerungen zu verzichten. Witali Wlasenko, deren Abteilungsleiter für kirchliche Außenbeziehungen, sagte: „Wir wollen uns weiterhin bemühen, Brücken zu staatlichen und orthodoxen Stellen zu schlagen.“

 

Semtschenkos neueste Projekte

Vor Monaten verkündete das Moskauer Patriarchat die Absicht, 600 neue Kirchen im Moskauer Raum zu bauen. Nach heftigen Protesten seitens der Bürger und staatlichen Bedenken wurde die Zahl auf 200 zurückgefahren. Inzwischen wird an 18 Baustellen gehämmert. Am 4. Oktober dankte das Kirchenoberhaupt, Patriarch Kirill, der Firma „Teplotechnik“ dafür, „daß sie nicht nur der Hauptauftragnehmer sondern auch der Hauptsponsor des Kirchenbaus in Weschnjaki sein wird“. Hiermit will der Unternehmer Semtschenko zweifellos auf die ihm eigene Art und Weise neue Brücken schlagen.

 

Trotz aller finanziellen Engpässe im eigenen Mitarbeiterstab hat Semtschenko auch Portal-Credo eine größere Spende zukommen lassen. Bisher war diese Agentur sehr viel stärker dem politischen Lager des Ex-Präsidenten Sipko zuzuordnen gewesen.

 

Dr.phil. William Yoder

Moskau, den 31. Oktober 2011

Pressedienst der Russischen Evangelischen Allianz

 

Eine Veröffentlichung der Russischen Evangelischen Allianz. Sie will informieren und erhebt nicht den Anspruch, eine offizielle Meinung der Allianz-Leitung zu vertreten. Meldung Nr. 11-22, 1.057 Wörter oder 7.646 Schläge mit Leerzeichen.

 

Weitere Informationen

 

Bei der Jahreskonferenz der „Euro-Asiatischen Föderation der Unionen der Evangeliumschristen-Baptisten“ (EAF) in Kiew am 18.-19.10. wurde der Beschluß gefaßt, eine neue baptistische Union aus Georgien als Mitglied aufzunehmen. Sie besteht aus 24 Gemeinden; ihre feierliche Gründung soll erst im November kommenden Jahres vor Ort in Georgien begangen werden. In Georgien besteht bereits die von Erzbischof Malkhaz Songulashvili geleitete „Evangelische Baptistenkirche Georgiens“ mit 75 Ortsgemeinden. Diese neue Union wird eher traditionell und slawisch geprägt sein. Nun wird bis auf weiteres eine georgische Union der EAF angehören, die zweite – die Kirche Songulashvilis – der in Prag beheimateten „Europäischen Baptistischen Föderation“. (Die größten baptistischen Unionen in der Ukraine und Rußland gehören beiden Organisationen an.)