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Landwirtschaftliche Unterstützung in der Ukraine

Eine andere Art von Befreiung

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Ein Wiesbadener will helfen, die Ukraine von Almosen zu befreien

 

M o s k a u -- Manchmal gibt es die Wahl zwischen gut und besser. Zur Frage der humanitären Hilfe schreibt Dieter Staudt, ein landwirtschaftlicher Berater in Lebedin (Gebiet Sumy/Nordostukraine): „Natürlich ist es gut wenn Kleidung und andere Artikel des täglichen Bedarfs gesammelt und in die post-sozialistischen Länder geschickt werden. Doch das geht schon über 20 Jahre so und hat an der Bedarfssituation wenig bis nichts geändert. Eine solche Hilfe sollte für einen überschaubaren Zeitraum gemacht werden und darf sich nicht zum Normalen entwickeln. Doch genau das ist passiert: Die Leute sitzen da und warten auf den nächsten Hilfstransport. Wir ‚afrikanisieren‘ die Menschen; die Eigeninitiative und eigene Ideen schwinden. Man überläßt das Schalten und Walten denen, die an der Macht sind.“ Dabei gesteht der seit 2001 in Osteuropa tätige Lutheraner: „Das mag sich hart und verletzend anhören für die Leute, die sich humanitär einsetzen. Doch die Hilfswilligen in aller Welt müssen umdenken.“

 

Vom Potential der ukrainischen Landwirtschaft ist Staudt felsenfest überzeugt. „Die Ukraine (Landesbevölkerung 46 Mio.) könnte Nahrungsmittel für über 300 Mio. Menschen erzeugen - sage mir einer, daß dies kein Reichtum sei!“ Doch noch lebt das Volk zu einem hohen Prozentsatz von teuren Lebensmittelimporten. Die Produktionsraten liegen im Keller: Bei Weizen bringt es die Ukraine auf 3,5 Tonnen pro Hektar – in Deutschland sind es bis zu acht Tonnen.

 

Zur Problematik gehört nicht zuletzt die Preispolitik. Nach Staudt bestehe kein Wettbewerb zwischen den Aufkäufern landwirtschaftlicher Erzeugnisse - Landwirte seien mafiösen Strukturen ausgeliefert. Auch deshalb arbeiten Betriebe defizitär. Der Pachtzins, den größere Bauern den Kleineren für die Nutzung von Grund und Boden zu verrichten haben, bleibt dann aus. So bekommen die Landbesitzer kein Geld und es ist kein Geld für die Anschaffung moderner Landtechnik da.

 

Seit Juni befaßt sich Staudt, der in Deutschland über 25 Jahre lang als Kaufmann tätig war, mit der Erstellung von Machbarkeitsstudien für einen landwirtschaftlichen Betrieb in der 28.700-Einwohner zählenden Stadt Lebedin. Dabei denkt er an den Aufbau einer Landwirtschaft zur Produktion von Gemüse, Salat, Kartoffel und Erdbeeren. Daneben will er Einheimischen beim Aufbau kleinerer Gewerbebetriebe behilflich sein (z.B. in den Bereichen Honig, Gänse und Brennholz für den Export nach Deutschland). Anstelle von Weizen, Roggen, Mais, Soja und Sonnenblumen wird sich der Betrieb auf die Kulturen festlegen die, einen höheren Bedarf an Arbeitskräften haben und bessere Umsätze versprechen. Grundsätzliches Ziel ist es, Arbeitslosen Erwerbs- und Ausbildungsplätze anzubieten und ihnen gerechte Löhne zu zahlen. Anfangen möchte der Deutsche mit nicht weniger als 100 Mitarbeitern – mit einem pro Hektar. Ziel ist es, innerhalb von fünf Jahren 1.000 Hektar zu bewirtschaften.

 

Kartoffel sollen erst angebaut werden, wenn ein ausreichend großes Lager zur Verfügung steht, in dem sie bis zu sechs Monate aufbewahrt werden können. So könnte man gewinnbringende Preise im Frühjahr abwarten. Ein Großteil der Produktion soll in eigener Regie vermarktet werden – so entstünden weitere Arbeitsplätze und ein gerechterer Handel. Geschäfte und Verkaufsstände sollen nicht nur über das gesamte Gebiet Sumy verteilt werden; es soll auch nach dem nur 80 km entfernten Rußland exportiert werden. Noch importiert Rußland überwiegend seinen eigenen Bedarf – und der Megapolis Moskau liegt nur 700 km von Sumy entfernt.

 

Wirft der Betrieb Gewinne ab, sollen auch Sozialeinrichtungen – wie Kindergärten – mitfinanziert werden.

 

Was bereits erreicht worden ist

Die Pacht von Feldern und die Übernahme der Gebäude und eines Teils der Technik einer ehemaligen Kolchose sind bereits angebahnt; willige Arbeitnehmer sind vorhanden. „Es gibt in Lebedin drei protestantische Gemeinden und deren Glieder sehnen sich nach einer solchen Initiative.“

 

Dieter Staudt hat bereits für weitreichende politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Verbindungen gesorgt. Die Agrar-Universitäten Nürtingen und Weihenstephan (Freising/Obb.) haben Verbindungen zur Universität Sumy ermöglicht. Noch vor Beginn der Arbeiten habe die Universität Sumy „um Praktikantenplätze für Studenten nachgefragt und auch wirtschaftspolitische Hilfe angekündigt“.

 

Ein ukrainisches Beraterteam ist vorhanden; doch an ausländischen Spezialisten mangelt es noch. Blitzbesuche und Pakete reichen nicht; eine zukunftsorientierte Unterstützung werde den Hilfsbereiten mehr abverlangen. Staudt erklärt: „“Wir sind gefordert nicht nur dadurch, daß wir unseren Partnern eine finanzielle Starthilfe beschaffen. Wir müssen sie begleiten, schulen und ihnen einzeln das kaufmännische Verhalten beibringen.“ Gefragt sind vor allem landwirtschaftliche Techniker und Spezialisten für Pflanzenbau; „es wäre schön, wenn sich hier Gläubige rufen lassen würden.“

 

Bei der Höhe des Startkapitals für die GmbH „Nadeschda“ (Hoffnung) ist der Wiesbadener nicht zimperlich: Erforderlich wären Schenkungen und Kredite von mindestens 700.000 €. Dazu werden noch ein Gewächshaus, Wasch- und Verpackeinrichtungen für Kartoffel, ein Kühlhaus für die Erdbeeren, Saatgut und ein Gerät, das Brennholz sägt und spaltet, benötigt. Der strategische Vordenker versichert: „Da der innovative Geschäftsplan die Kalkulationen bestätigt, ist für die beteiligten Investoren mit ordentlichen Gewinnen zu rechnen.“

 

Die Vorgeschichte

Nach den Erfahrungen dieses 61-jährigen Geschäftsmannes lasse die finanzielle Ethik osteuropäischer Unternehmer – auch der christlichen – noch zu wünschen übrig. Er hat schwere Enttäuschungen einstecken müssen. Seine 2001 in Sankt Petersburg gegründete Firma zum Vertreib von Küchenbesteck war zuerst ein schlagender Erfolg. Nach einer Moskauer Messe 2007 hatte sich der Umsatz verdreifacht. Doch während eines Aufenthaltes in Deutschland wurde das Firmenvermögen von Staudts Firmenpartnerin unterschlagen – davon konnte sich die Firma nicht mehr erholen. Heute resümiert er: „Grundsätzlich ist das Vorhaben gelungen - auch wenn die Sache letztlich an den Beteiligten gescheitert ist.“

 

Parallel stieg er Ende 2007 bei zwei Kolchosen im Raum Pskow (estnische Grenze) ein. Da sorgte er als Planungs-Leiter dafür, daß ausführliche technische und wirtschaftliche Pläne erarbeitet wurden. Darüber berichtet er heute: „Leider haben wichtige Angaben des Besitzers nicht der Wahrheit entsprochen, sodaß das gesamte Unternehmen auf tönernen Füßen stand. Zahlungsverpflichtungen konnten nicht eingehalten werden.“

 

Der Deutsche ist überzeugt: Wenn wir Christen dem Anspruch, Salz und Licht zu sein, einigermaßen gerecht werden wollen, dürfen wir uns „nicht an den Auswüchsen des post-sozialistischen Kapitalismus beteiligen. Wir müssen uns aus allem, was auch nur im Geringsten mit Korruption zu tun hat, heraushalten - auch wenn es zu unserem Nachteil ist. Man sollte auch ehrlich und offen miteinander umgehen und nicht denken, wenn jemand aus einem westlichen Land kommt, daß hier die ‚Kuh zum Melken‘ eintrifft.“

 

Zum „Melken“ liefert Staudt ein Beispiel: „Ich habe mir von einem baptistischen Bauunternehmer in Sankt Petersburg ein Angebot für einen Umbau machen lassen. Als ich dieses Angebot zu lesen bekam, traute ich meinen Augen nicht. Der Kostenvoranschlag war viermal höher als ich mir selbst grob errechnet hatte. Als der Unternehmer meinen Unmut merkte, stellte er mir in Aussicht, den Auftrag auch ‚schwarz‘ - ohne Steuern - auszuführen. Er hat natürlich den Auftrag nicht bekommen.“

 

Warum macht Dieter Staudt nach zweijähriger Denkpause weiter? Er antwortet: „Auf die Idee Ukraine kam ich selbst gar nicht. Aufgrund meiner unangenehmen Erfahrungen hatte ich für die Ukraine kein Bedürfnis. Aber man hat mich angesprochen - mehrfach. Was mich am Ball hält, ist mein Glaube an den auferstanden Herrn. Er hat mich erwählt - unverdient - und ihm will ich dienen aus Dankbarkeit mit den Gaben, die er mir gegeben hat. Zu ihnen gehören eben geschäftliche Pionierarbeiten – auch in schwierigen Ländern.

 

Er resümiert: „Ohne Träume werden wir vertrocknen - natürlich erfüllen sich nicht alle Träume, aber ohne Träume erfüllt sich gar nichts.“ Er kann sich nichts Schöneres vorstellen, als die „Zusammenarbeit mit mutigen Menschen, die über Träume und gewagte Pläne verfügen“. Nach ihm gehören zu diesen „mutigen Menschen“ auch viele Osteuropäer.

 

Dr.phil. William Yoder

Moskau, den 8. November 2011

Pressedienst der Russischen Evangelischen Allianz

 

Anmerkung von Juni 2020: Dieter Staudt ist etwa 2013 aus diesem Projekt ausgestiegen.

 

Eine Veröffentlichung der Russischen Evangelischen Allianz. Sie will informieren und erhebt nicht den Anspruch, eine offizielle Meinung der Allianz-Leitung zu vertreten. Meldung Nr. 11-23, 1.181 Wörter oder 8.363 Schläge mit Leerzeichen.