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Osteuropäische Evangelikale steigen in den intellektuellen Raum ein

Rein in die gesellschaftliche Mitte

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“Forum 20” versammelte sich in der Ukraine

 

M o s k a u / I r p e n -- Bei osteuropäischen, kirchlichen Konferenzen vor zwei Jahrzehnten traten zumeist ausländische Gäste und deren Dolmetscher auf – die Einheimischen hörten zu. Doch beim „Forum 20“ in Irpen nahe Kiew am 18. und 19. November war die Lage genau umgekehrt: Alle der rund 28 Redner waren Einheimische, nur wenige älter als 40 Jahre. „Ich bin begeistert!“ versicherte Sergei Rakhuba (Wheaton), Präsident der gastgebenden, in den USA beheimateten „Peter Deyneka Russian Ministries“ und seines Ablegers, die „Assoziation für Geistliche Erneuerung“ (Duchownoe Wosdrozhenie). „Junge, begabte Leiter übernehmen die Führung bei der Gestaltung der Zukunft. Das ist auch der Hauptfokus unseres Dienstes: das Zurüsten der kommenden Generation christlicher Leiter.“ 

 

„Raus aus der frommen Subkultur - rein in die gesellschaftliche Mitte!“ war die Devise des Forums. Die große Mehrheit der rund 170 anwesenden Theologen und kirchlichen Mitarbeiter meinte sogar, eine diesbezügliche „Reformation“ sei in den Kirchen der ehemaligen Sowjetunion im Gange. Das Durchhalten in schwerer Zeit sei der bleibende Verdienst der Generation der Väter und Großväter, hieß es. Doch dabei sei die Not des kirchlichen Randdaseins zu einer Tugend erhoben worden, die man auch nach Wegfall der Repressionen nicht mehr preisgeben wolle. Deshalb werde es der kommenden Generation vorbehalten sein müssen, Wege in die gesellschaftliche Mitte zu bahnen.

 

Rakhuba fuhr fort. „Es ist die alte Subkultur, die Gemeindewachstum verhindert. Wenn die alte Tradition mehr gilt als die biblischen Wahrheiten, haben wir ein Problem.“ Auf der Tagung selbst meinte ein Referent: „Tradition (etwa Frauenmode und Musikstil) ist Glaube vermengt mit Dingen, die nicht dazugehören. Außenstehenden ist sie nicht verständlich.“ Bei „Traditionalisten“ werde der Glaube meistens negativ definiert: „Dann wissen Kirchen nur, was sie nicht sind, nicht, was sie sind.“ In einem unterhaltsamen Referat behauptete Pawel Begitschew, ein Pastor der Moskauer Evangeliums­christen: „Ich kam in einer sehr konservativen Baptistengemeinde zum Glauben. Sie waren verwirrt, als ich ihnen mitteilte, auch vor der Bekehrung nicht geraucht zu haben und fragten: ‚Wie können wir überhaupt feststellen, ob Du wirklich bekehrt worden bist?‘“

 

Ganz am Anfang der Tagung gab Mikhail Tscherenkow (Irpen), Vizepräsident der Assoziation für Geistliche Erneuerung, Anleitungen für das sinnvolle Gespräch: „Je ehrlicher unsere Fragen und Antworten sind, desto hilfreicher und nützlicher werden sie auch sein.“ Jeder solle nur für sich reden. Ein anderer meinte: „Wer ist dein Boss, wer hat unterschrieben, wer hat dich befugt?“ All dies seien Fragen hierarchischer Art, die für das sinnvolle und ehrliche Gespräch fehl am Platze seien. Der Evangeliumschrist Sergei Golowin (Simferopol) wies auf die weitreichenden Folgen finanzieller Abhängigkeiten hin: „Sage mir welche Doktrin du hast, und ich sage dir, welchen Sponsor du hast!“ Im Privatgespräch räumte ein Teilnehmer ein, bis zu 80% der Forumsteilnehmer würden weiterhin zumindest einen Teil ihres Gehalts aus dem Westen beziehen.

 

Der Dialog

Der Dialog als Motor des Fortschritts wurde immer wieder hochgehalten. Beim rußlanddeutschen Gast Johann Matthies (Korntal), einem Missionsvertreter der Mennonitischen Brüdergemeinden, hieß es: „Theologie geschieht nur im Dialog.“ Und ferner: „Ohne das Recht, Initiative zu ergreifen, ist Fortschritt unmöglich.“ Einer der offiziellen Redner versicherte: Kaderschmieden seien verpönt – vielmehr benötigten wir ein „Labor“ zur Erprobung theologischer Erkenntnisse.

 

Der Theologe und Autor Ales Dubrowski (Minsk) lieferte eine gewagtere These: „Je mehr der andere anders ist, desto mehr brauche ich ihn für den theologischen Diskurs. Entwicklung gibt es nur dort, wo es auch Unterschiede gibt.“ Nur in der Verschiedenheit werde die Einheit der Kirchen zum Ausdruck kommen.

 

Der Petersburger Baptist Mikhail Newolin berichtete, es sei für evangelikale Kreise ein großer Fortschritt, „die eigenen Fehler analysieren zu dürfen frei von der Angst, dem Gegner Vorschub zu leisten“. Rakhuba sprach von der Synergiewirkung des gemeinsamen Gesprächs und versicherte, ohne eine Erörterung unserer Fehler sei das Schmieden einer brauchbaren Zukunftsstrategie undenkbar.

 

Tscherenkow wies am Ende der Tagung darauf hin, daß alle Erkenntnisse nur Stückwerk seien: „Ein goldenes Zeitalter hat es nie gegeben. Die Krise war schon immer da. Wir waren nie vollkommen und unsere evangelische Bewegung wird auch nie vollkommen sein.“

 

Die Kritik

Kritik hagelte es bei diesem zweiten Forum – das erste Forum der Russian Ministries fand vor drei Jahren statt. Mehrmals wurde gefragt, wo die vielen Tausende geblieben seien, die sich in den ersten Jahren nach 1990 zum evangelikalen Glauben bekehrt hatten. Damals ging ein nahezu ungebildetes Gemeindepublikum in Begleitung ausländischer Missionare auf ein suchendes aber keineswegs ungebildetes Volk zu. Es hieß: Ist nun jemand da, der die Enttäuschten neu einsammeln könnte?

 

Newolin berichtete, daß der Bildungsstand der protestantischen Pastorenschaft weiterhin beklagenswert sei – die Zahl ernstzunehmender protestantischer Hochschuleinrichtungen ließe sich „an einer Hand abzählen“. In Rußland würden theologische Abschlüsse inflationär und ohne wissenschaftliches Niveau verteilt: „Es ist zu früh für uns, unsere Einrichtungen etwa als ‚Universitäten‘ zu bezeichnen.“

 

Ungewohnte Töne leistete sich die baptistische Journalistin Jelena Mokrentschuk (Kiew) mit der Zusicherung, PR dürfe niemals mit Journalismus verwechselt oder vermengt werden. Beide Formen seien erforderlich, doch nur die PR könne mit einer kirchlichen Finanzierung rechnen. Für den Journalismus dürften keine Themen tabu sein. Mikhail Newolin erzählte, daß die Zahl christlicher Webseiten die Menge verfügbarer, russischsprachiger Texte bei weitem übersteige. Die gleichen zumeist kostenlos verschickten Pressemeldungen würden von den verschiedensten kirchlichen Webseiten übernommen.

 

Nach Newolin hapert es auch weiterhin bei den kirchlichen Leitungsstrukturen. Zum Teil aus bürokratischen Gründen liefen viele Initiativen – und Immobilien – auf Privatnamen. Das mache einen Leitungswechsel nahezu unmöglich; Strukturen blieben im Wesentlichen hierarchisch und autoritär. Ein Fazit lautete: „Die Medien ändern sich erst, wenn die Kirchen sich ändern.“ Oder: „Ohne eine Transformation im Denken der Gemeinden wird sich nichts ändern.“

 

Es hieß, es werde auch in den Kirchen den Homosexuellen und Muslimen viel zu viel in die Schuhe geschoben. Zur Untermauerung wurde Angela Merkel zitiert: „In Deutschland gibt es nicht zu viele Muslime, sondern zu wenig Christen.“

 

Es gab aber auch nicht wenige positive Vorschläge. Christen sollten hinein in die Politik, hieß es. Und dabei sollten sie sich für das Gemeinwohl – und nicht nur für die protestantischen Partikularinteressen – engagieren. Der Einsatz für die Freiheiten nichtchristlicher Religionen sollte für Evangelikale selbstverständlich sein.

 

Nicht zum ersten Mal beklagte Mikhail Newolin eine Vorliebe der Protestanten für die Mission unter sozialschwachen Kreisen. Nach seinen Angaben seien rund 90% unserer Neubekehrten „von auswärts“ aus der Drogen- und Alkoholszene. Zur Begründung stellte er die Vermutung an, gerade dieser Personenkreis sehe meistens davon ab, uns Gläubigen peinliche Fragen zu stellen. Doch Newolin möchte keineswegs diese recht erfolgreiche Missionsarbeit in Frage stellen – fraglich sei sie nur, wenn sie auf Kosten der Mission unter den eher bürgerlichen Schichten geschehe.

 

Auf die selbstgestellte Frage, ob Frauen kirchliche Leitungspositionen gewährt werden dürften, erwiderte Alexander Negrow, Rektor der „St. Petersburg Christian University“: „Was ist das für eine Frage? Solche Positionen haben sie doch längst!“ Doch für sich spricht, daß weniger als 10 Frauen als Forumsteilnehmer registriert waren. Diese Äußerung deutete zumindest auf Negrows Zustimmung hinsichtlich einer derartigen Entwicklung hin.

 

Von den Rednern wurden Katholiken und Orthodoxe immer wieder als legitime christliche Konfessionen und gleichwertige Gesprächspartner beschrieben. Die ökumenische „Einheit in der Verschiedenheit“ wurde u.a. von dem Theologen Andrei Pusynin (Donetsk) betont.

 

Es kommt der Verdacht auf, die hehren Gedanken der jungen Theologen bei dieser Konferenz seien vor allem die Wiedergabe von Erkenntnissen, die sie an den Hochschulen des evangelikalen „Mainstream“ im Westen erworben hätten. Rakhuba sprach seinerseits von der Kontextualisierung, von „globalen Konzepten, die auf die örtlichen Begebenheiten übertragen werden müssen. Junge Menschen würden dann dazu beitragen, daß die Kirchen von innen heraus transformiert werden.“

 

Beziehungen unter den Evangelikalen

Sergei Rakhuba betonte, daß alle protestantischen Kreise zum Forum eingeladen worden seien – es kamen nur nicht alle. Charismatische und autonome kirchliche Kreise waren überrepräsentiert; dafür waren die baptistischen Unionen und die Lutheraner unterrepräsentiert. Allerdings war die baptistische Union von Belarus stark vertreten; auch Methodisten waren erschienen. Das ebenfalls in Irpen beheimatete baptistische Seminar, das als eine Filiale der „Masters University“ des John MacArthur in Kalifornien fungiert, war nicht zugegen. Doch im Programm des Forums wurden weder Personen noch Vereine namentlich kritisiert; nicht einmal am Rande der Konferenz wollte sich Rakhuba für eine Kritik gegenüber Einzelpersonen hergeben. Er erklärte jedoch: „Es gibt eine lange Geschichte belasteter Beziehungen. Es fällt manchen Leitern noch immer schwer, Trennungslinien zu überschreiten um Einheit zu erproben.“ Er bedauerte, daß die Lausanner Konferenz, die am 6. und 7. Dezember in Moskau stattfindet, nur unter der Ägide des charismatischen Bischofs Sergei Rjakhowski und des evangeliumschristlichen Bischofs und Geschäftsmannes Alexander Semtschenko stattfinden soll. Er räumte ein: „Offizielle Kreise und Hierarchien neigen dazu, ihren Besitz zu beschützen – das bremst das interkonfessionelle Gespräch. Lausanne ist eine globale evangelikale Bewegung und zieht es vor, mit jenen Gruppen, die sich am stärksten mit der Evangelisierung befassen, zusammenzuarbeiten.“

 

Dr.phil. William Yoder

Berlin, den 27. November 2011

Pressedienst der Russischen Evangelischen Allianz

 

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