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Punk Band keine Verbündete der Protestanten

Für westliche Liberale: Eine neue Ikone zum Anbeten

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Die Reaktion der russischen Protestanten auf P*Riot

 

Kommentar

 

M o s k a u – Russische Protestanten sprechen mit einer Stimme wenn es darum geht, die gegen die Punkgruppe “P*Riot” verhängte zweijährige Gefängnisstrafe zu verurteilen. Dabei haben die Kirchenväter nicht nur den humanitären Aspekt im Blick, vielmehr wollen sie der Truppe keine Weltbühne bieten. (Man darf übrigens auf den vulgären Namen, den sich die inzwischen berühmteste Mädchengruppe der Welt uns zum Nachplappern ausgesucht hat, verzichten. Sowohl sie wie die ukrainische Gruppe FEMEN haben sich Nacktheit und Skandal als Mittel zur Erlangung öffentlicher Aufmerksamkeit bedient.)

 

Der Nachrichtenagentur „Protestant“ gegenüber versicherte der Charismatiker Sergei Rjachowski, Bischof der großen „Vereinigten Russischen Union der Christen Evangelisch-Pfingstlerischen Glaubens (ROSKhWE)“: „Man hätte die Damen dazu verurteilen sollen, das Gelände um die ‚Christus der Erlöser‘-Kathedrale für ein halbes Jahr von Unrat zu befreien. Doch nun hat das Strafmaß eine ‚Ikone‘ geschaffen, die gewisse liberale Gruppierungen anbeten werden.“ Gleichzeitig äußerte er den innigen Wunsch, das Moskauer Patriarchat möge für eine Begnadigung der „Mädchen“ eintreten.

 

Der Baptistenpastor Leonid Kartawenko, ein Mitstreiter des protestantischen Großunter­nehmers Alexander Semtschenko, fügte hinzu: „Das Benehmen der Mädchen bedarf der Verurteilung. Doch das Urteil bewirkt nun ein Skandal und verleiht den Teilnehmerinnen völlig unverdient die Aura von Märtyrern und Gewissensgefangenen. Was soll das überhaupt?“

 

Diese leitenden Protestanten sehen die Inhaftierten als Gegnerinnen an – keineswegs als Verbündete im Kampf um eine Trennung zwischen Orthodoxie und Staat. In dem ungebetenen Auftritt am 21. Februar erkennen sie vielmehr einen Anschlag liberal-säkularistischer Kreise auf jene traditionellen Familienwerte, die Protestanten gemeinsam mit der Orthodoxie hochzuhalten versuchen. Rjachowski berichtete von dunklen Hintermännern hinter der Gruppe und versicherte: „Ich zögere nicht, diese Personen als Feinde des russischen Volkes und der Kirche zu bezeichnen.“

 

Rasch kolportierte die staatsnahe Agentur „Interfax“ die fragwürde Angabe aus Deutschland, wonach den Nachahmern von P*Riot im Kölner Dom am 19. August eine Gefängnisstrafe von bis zu drei Jahren drohe.

 

Aus der Reihe tanzte einmal wieder der Evangelist Juri Sipko. Seit Vollendung seiner Amtszeit als Präsident der Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten (RUECB) im März 2010 ist er dazu übergegangen, die Vertreter des Staates als eine sich selbst bereichernde Bande von „Heuchlern und Lügnern“ zu geißeln. Seine Semantik erinnert durchaus an den weltbekannten Dissidenten Alexei Nawalny. In der Agentur „Portal-Credo“ am 23.8. bezeichnete Sipko die Bandmitgliederinnen als „Gewissensgefangene“. Nicht sie hätten Buße zu tun, sondern das Moskauer Patriarchat. Sie hätten mit vollem Recht gegen die „Symphonie“ von Kirche und Staat aufbegehrt. Die Mädchen „wollten nicht in einem Lokus leben“, versicherte er. „Der Wald (das Vaterland) brennt. Ein giftiger Rauch umfaßt immer mehr Gebiete. Das Überleben wird unmöglich; die Leute fliehen. Doch gerade in dieser Lage schnitten die Mädchen keine Grimassen und schrien stattdessen ‚SOS!´.“ Derartig hehren Zielen schreiben andere führende Protestanten der Truppe nicht zu. „Viel Getue um Nichts“ ist die vorherrschende protestantische Reaktion.

 

Protestanten lassen sich kaum aus der Ruhe bringen – schließlich ist Wladimir Putin keine unbekannte Größe. Seit März wirkt der Evangeliumschrist Sergei Andrejew erfolgreich als Bürgermeister einer russischen Metropole (Toljatti). Rußland ist der WTO beigetreten; auch die vereinfachten russisch-amerikanischen Visabestimmungen, die am 9. September in Kraft treten werden, sind kein Indiz für eine Verschärfung der Großwetterlage. Pastor Witali Wlasenko, RUECB-Abteilungsleiter für kirchliche Außenbeziehungen versichert: „Die Wirtschaften in Ost und West sind dermaßen miteinander verzahnt, daß ich mir ein Abkloppen Rußlands vom Westen nicht mehr vorstellen kann.“ Allerdings wehren sich die Weltmächte Rußland und China heftig dagegen, „Junior Partner“ in westlich-kontrollierten Allianzen (EU und NATO) zu werden. Man wird folglich bis auf weiteres ohne eine solche „Verbrüderung“ auskommen müssen.

 

Mit einem ähnlichen Maß an Gelassenheit reagieren protestantische Kreise auf die erst im November in Kraft tretende Gesetzgebung zur Beschränkung der Tätigkeit der russischen NGOs (Nichtregierungsorganisationen). Humanitäre, religiöse und Bildungs-Organisationen werden ausdrücklich und schriftlich von den neuen Bestimmungen ausgenommen. Allerdings treffen sie durchaus säkulare Vereine, die religiöse Organisationen unterstützen. Die Moskauer „Slavic Legal Centre“, die protestantischen Organisationen in einem Großteil der Streitfälle mit dem Staat vertritt, genießt hohes Ansehen in nahezu allen protestantischen Kreisen. Sie ist auch eine Filiale der in Washington beheimateten und von dem durchaus dubiosen Fernsehprediger Pat Robertson gegründeten “American Center for Law and Justice” (ACLC). Allerdings wird sich die SLC zu wehren wissen: Ihr Leiter, der Baptist Anatoli Ptschelinzew, ist ein gewiefter, ehemaliger Militärstaatsanwalt. (Zweiter Leiter der SLC ist Wladimir Rjachowski, Bruder des genannten Bischofs von ROSKhWE.)

 

Rußland steht sehr wahrscheinlich ein neuer bürokratischer Albtraum bevor. Politisch aktive NGOs werden sich bemühen, sich unter das Dach von humanitären und religiösen Organisationen zu flüchten. Eine solche Schlacht gab es schon einmal, als sich 1997 alle religiösen Organisationen erneut registrieren mußten. Doch noch heute ist es allerlei religiösen Grüppchen möglich, die staatliche Registrierung zu erlangen – sie ist nur teuer und aufwendig geworden. Auch in diesem neuen Falle werden die Unterlegenen es wohl verstehen, die neue Gesetzgebung zu durchlöchern.

 

Der westliche Einsatz für die Menschenrechte

Der Kampf des Westens um die Menschenrechte in Rußland ist äußerst vorbelastet. Auch bei Bischof Rjachowski ist deutlich zu vernehmen: Hinter diesem westlichen Vorstoß wird kein selbstloses Streben um edle, menschliche Werte vermutet, sondern die handfesten politischen und wirtschaftlichen Interessen einer Supermacht und ihrer westeuropäischen Mitstreiter. Die westliche Kampagne zugunsten von P*Riot wird als Versuch gedeutet, die russische Haltung zum Syria-Konflikt zu hintertreiben. Stichwort: „Einkreisen“.

 

Die osteuropäische Furcht vor westlich finanzierten NGOs ist nicht aus der Luft gegriffen. Sogar „Wikipedia“ weiß zu berichten, daß die Organisationen des Milliardärs George Soros mit $42 Mill. dazu beitrugen, Eduard Schewardnadse 2003 als Präsidenten Georgiens den Garaus zu machen. Kurz zuvor war in Serbien das Gleiche gelungen. Das Trauma einer kräftigen westlichen Mitwirkung bei der abgebrochenen „Orangen Revolution“ der Ukraine bleibt in Rußland unüberwunden. Gewiß: „Wühlarbeiten“ von außerhalb würden auch in den westlichen Demokratien auf wenig Gegenliebe stoßen.

 

Die politischen Dissonanzen zwischen Ost und West hängen auch mit einem Auseinanderklaffen der Kriterien zur Bewertung politischer System zusammen. Ein Ergebnis davon ist die Tatsache, daß die Politiker Gorbatschow und Jelzin in Ost und West völlig diametral bewertet werden. Der Westen ist auf die Menschenrechte des Individuums erpicht; dem Osten geht es um Fundamentaleres. Ein weiteres Beispiel betrifft den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko. Auch unter dem protestantischen Fußvolk Osteuropas werden die Belarussen um deren Ordnung und Stabilität beneidet.

 

Ausgerechnet eine weißrussische Mitarbeiterin der Harvard-Universität brachte diese Diskrepanz auf den Punkt. In der „Belarus Digest“ am 1. August schrieb Volha Charnysh: „Menschen in den mißratenen Staaten der ehemaligen Sowjetunion respektieren einen Staatsführer, der Recht und Gesetzt wiederherstellt. Stabilität geht vor Demokratie und Redefreiheit. Im Gegensatz zum typischen Westeuropäer haben viele Bürger der ehemals sowjetischen Staaten Belarus tatsächlich besucht. . . . Sie erfahren, daß sich der Präsident um Rentner und die Arbeiterschaft bemüht. Sie sind durchaus der Existenz von politisch Inhaftierten und gelenkten Wahlen bewußt, doch das werten sie als einen notwendigen Preis für das Maß an Recht und Gesetzt, das dort vorhanden ist. . . . Die moldawische Ökonomin Galina Selari nannte Belarus ‚das einzige postsowjetische Land, in dem der Staat seinen Pflichten nachkommt‘. Schließlich muß der Präsident in erster Linie vom eigenen Volk geliebt werden, nicht von einer ausländischen Wählerschaft.“

 

Die Völker in den einst sowjetischen Staaten sehnen sich noch immer nach Regierungen, die sich um Arbeit, Obdach, Medizin und Bildung kümmern – und nicht in die eigene Tasche wirtschaften. Das Übrige kommt an zweiter Stelle.

 

Dr.phil. William Yoder

Moskau, den 28. August 2012

 

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