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Die Bewegung Alexander Mens heute

Keine Randerscheinung mehr

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Zum orthodoxen Aufbruch des Alexander Men heute

 

M o s k a u -- Nach der heimtückischen Ermordung des großen orthodoxen „Reformators“ Alexander Men im Moskauer Vorort Nowaja Derewnja am 9. September 1990 steckte die westliche Christenheit eine Menge Hoffnungen in seine Schüler. Zu ihnen zählte Alexander Iljitsch Borisow (geb. 1939), ein promovierter Genetiker, der aufgrund seiner konspirativ-anrüchigen Aktivitäten (u.a. Samisdat) erst 1989 ordiniert wurde. Schon 1970 war der leise und bescheiden wirkende Borisow zum Diakon ernannt worden; 1991 wurde er Pastor der erst wiederentstehenden „Kirche der Heiligen Kosmas und Damian“. Sie befindet sich an einer zentralen Stelle direkt am Moskauer Rathaus und keine 100 Meter vom Hotel Lux, der legendären Herberge ausländischer Kommunisten in den 30er und 40er Jahren, entfernt. Dieses Gotteshaus machte den Umzug der Bewegung Alexander Mens von einer Dorfkirche in die Mitte des Moskauer Geschehens hinein perfekt. Noch heute bemüht sich diese Gemeinde um Wahrung und Ausbau seines theologischen Erbes.

 

Auf die Frage, worin der besondere Beitrag des Märtyrers besteht, hat Alexander Borisow eine schnelle Antwort: „Er betonte die Bedeutung der Bibel. Ihm war klar, daß es ohne biblisches Wissen keinen christlichen Aufbruch geben könne.“ Erst durch das Beschäftigen mit der Bibel werde die orthodoxe Lehre komplett. Borisow fügt hinzu: „Wir als Orthodoxe verfügen über ein reiches Erbe an Erzählungen, Kultur, Ikonen und Liedgut – dazu brauchen wir nur noch das gemeinsame Lesen der Schrift.  Und das Beschäftigen mit der Bibel ist keineswegs unorthodox.“ Für zwei Jahrzehnte ab 1991 war Alexander Iljitsch selbst Präsident der interkonfessionell zusammengesetzten Russischen Bibelgesellschaft.

 

Diesem Priester mißfällt die Askese und Schlichtheit protestantischen Lebens: Russische Protestanten hätten in der Regel weder prächtige Gotteshäuser noch schöne Gesänge – alles beschränke sich auf das gesprochene Wort. „Vieles ist einfach zu platt, zu oberflächlich.“ Er gibt aber zu: „Uns fehlt die unglaubliche Vielfalt der Protestanten. Sie haben mehr Freiheit als wir. Doch eigentlich haben wir alles, worüber die Protestanten verfügen – plus Kultur.“ Gleichzeitig räumt er ein, daß er etwa von Pfingstlern die Bedeutung von Gemeinschaft, Austausch und dem gemeinsamen Gebet gelernt habe. Nur so können Beziehungen zwischen den einzelnen Gläubigen entstehen. Noch heute ist die Gemeinde von Kosmas und Damian dafür bekannt, über Dutzende von bibelbezogenen Gesprächskreisen zu verfügen.

 

In den 80er Jahren verfaßte Vater Alexander ein Buch, das erst 1994 legal veröffentlicht wurde: „Pobelewische Niwy“ („Felder reif zur Ernte“, nach Johannes 4,35). Es verwies auf die Dringlichkeit der Mission und die Tatsache, daß eine verschlossene und relativ ungebildete Geistlichkeit der Herausforderung der Evangelisation nicht gewachsen sein würde. Die christuszentrische Orientierung des Buches äußerte sich u.a. in der Warnung, sich nicht etwa durch Ikonen von der „theologischen Überzeugung, daß Christus und das Evangelium im Mittelpunkt des kirchlichen Lebens zu stehen haben“, ablenken zu lassen. Das niemals übersetzte Buch fiel dermaßen aus den Rahmen, daß der damalige Patriarch Alexius II. (1929-2008) scherzhaft nachfragte, ob Borisows Ehefrau das Werk verfaßt hätte. (Nonna Borisowa war ab Anfang der 70er Jahre bis etwa 1997 Mitglied einer Pfingstgemeinde.)

 

Doch der Gang der Geschichte hat Vater Alexanders Befürchtungen zerstreut. Er erzählt: “In den 80er Jahren fantasierten wir, daß die Arbeiterschaft protestantisch und die Intelligenz katholisch werden würden. Nur die Omas würden der Orthodoxie erhalten bleiben. Doch nun sehen wir, daß die überwältigende Mehrheit trotz aller Unzulänglichkeiten für die Orthodoxie votiert hat.“ Er gibt an, daß in Moskau Protestanten und Katholiken gemeinsam nur 1% der Bevölkerung ausmachen – dafür zählen sich 70% zur Orthodoxie. Dabei räumt er ein, daß nur 10% von ihnen den orthodoxen Glauben auch praktizieren. Zu den Unzulänglichkeiten der Orthodoxie zählt er aber auch die Omas („Babuschki“), die noch heute Kirchen bewachen und fremde Gäste mit einer sofortigen, ungebetenen Kontrolle von Rocklänge, Kopfbedeckung und Schuhwerk versehen.

 

Kein flammender Liberale

Gleb Jakunin, ein ehemaliger Mitstreiter von Borisow, ließe sich als „Liebling“ des Westens und dessen Medien beschreiben. Heute ist dieser in der sowjetischen Zeit berühmt gewordene Dissident (geb. 1934) Sekretär der Synode der abtrünnigen, 2004 gegründeten „Apostolischen Orthodoxen Kirche“. Borisow hingegen verfügte über eine herzliche Beziehung zum Patriarchen Alexius. Der verstorbene Patriarch hat ihn nicht nur als leitenden Geistlichen von Kosmas und Damian beschützt, sondern ihm auch 2000 den Rang eines Erzpriesters („Protoierei“) verliehen. Borisow versteht ihn als einen weltoffenen Menschen: „Alexius sah in der Aufspaltung der Kirchen eine große, historische Sünde. Immer widersprach er denen, die die Notwendigkeit von Ökumene bestritten.“

 

Obwohl Alexander Iljitsch selbst ein überzeugter Ökumeniker ist, sieht er die zunehmende Distanzierung des Moskauer Patriarchats von den anderen Kirchen seit Mitte der 90er Jahre als natürlichen Prozeß an. „Das ist eine Frage von Identität und Selbstverständnis“, versichert er. „Je sicherer wir in unserem Selbstverständnis werden, desto offener können wir in unseren Kontakten mit anderen Konfessionen sein.“ Bis auf weiteres hält einer eine gute Nachbarschaft für den machbaren Weg – „aber jeder wird weiterhin in der eigenen Wohnung residieren“. Mit einem Hinweis auf die Pharisäer, Sadduzäer und Essener des Neuen Testaments verdeutlicht er, daß das Anliegen der zwischenkirchlichen Zusammenarbeit niemals von allen kirchlichen Gruppierungen geteilt werden könne. Auch die Gesprächskreise in seiner eigenen Gemeinde verfügen über wenige nichtorthodoxe Teilnehmer.

 

Bereits mehrmals hat Vater Alexander in seiner Moskauer Kirche ein gemeinsames Weihnachtsfest von orthodoxen und baptistischen Kindern gefeiert. Doch einen „tiefen Graben“ in den Beziehungen zwischen Baptisten und Orthodoxen erkennt er in der Frage der „Wiedertaufe“. Die Nichtanerkennung von Sakramenten legt er als eine Leugnung des Christseins der anderen Seite aus – der Todesstoß für jeglichen interkonfessionellen Fortschritt. „Wir erkennen eine baptistische Taufe an wenn sie im Namen des dreieinigen Gottes geschieht“, versichert er. „Beim Römischen Katholizismus erkennen wir bei Übertritten von Priestern sogar deren geistlichen Stand an.“

 

Hinsichtlich der weltweiten ökumenischen Entwicklung ist der Erzpriester nicht optimistisch. In der Gleichstellung eines Einsatzes gegen die Anerkennung der Homosexualität mit dem Antisemitismus sieht er eine tiefe Kränkung der konservativen, christlichen Mehrheit. „Westliche Kirchen haben in dieser Frage die Grenzen der Zumutbarkeit überschritten“, stellt er fest. „Sie werden mit dieser Haltung einen großen Schaden in den Beziehungen zu den östlichen Kirchen – sowie unter sich – verursachen. Hiermit vertreten sie eine antibiblische Position.“ In der Frauenordination erkennt er ebenfalls ein Überschreiten zumutbarer Grenzen.

 

Doch in der politischen Großwetterlage sieht Borisow keine Ursachen für einen überzogenen Pessimismus. Bei gleichzeitiger Mißbilligung ihrer Handlungen verurteilt der Priester die mehrjährige Haftstrafe für zwei Mitglieder der weiblichen Punk-Gruppe „P*Riot“ (bzw. „Katzenaufstand“). Diese vergleicht er mit einem Jungen, dem der Arm abgehackt werden würde weil er ein Laib Brot gestohlen hätte. „Das ist ein politischer Fall“, versichert er. Dennoch kann er sich in absehbarer Zeit keinen erneuten Kalten Krieg vorstellen. „Viele unserer leitenden Politiker orientieren sich nach dem Westen - ihre Familien und ihr Geld sind schon dort.“

 

Trotz des Wertevakuums in der gegenwärtigen russischen Gesellschaft ist er bezüglich der Bewegung Alexander Mens nicht besorgt: „In den kirchlichen Reihen nimmt unsere Akzeptanz immer mehr zu.“ Es sei verwegen, sie heute noch als eine kirchliche Randerscheinung einzustufen.

 

Dr.phil. William Yoder

Moskau, den 8. Dezember 2012

 

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Alle genannten Personen wohnen in Moskau.