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Evangelischer Leiter unter Hausarrest

Alexander Semtschenko half aus ganzem Herzen

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Ein Leiter des russischen Protestantismus steht unter Hausarrest

 

M o s k a u – Bei den nationalen russischen Abendnachrichten am 13. Juni wurde Zuschauern einen Blick auf Alexander Trofimowitsch Semtschenko, einen der bekanntesten Protestanten Rußlands, beim Öffnen der Tür seines Hauses am frühen Morgen geliefert. Der kranke Geschäftsmann und Bischof (er hat vor kurzem einen Hirnschlag erlitten) war unrasiert und trug einen Bademantel. Daraufhin durfte Semtschenko die nächsten 48 Stunden im Gefängnis verbringen – das gewährte der Polizei genügend Zeit, sein Haus sowie die Büros seiner Firma und Denomination zu durchsuchen. Nun steht er unter Hausarrest und bewegt sich mit einer elektronischen Fußfessel.

 

Die protestantischen Reihen haben sich hinter Semtschenko geschlossen und protestierten vereint gegen die Art und Weise seiner Verhaftung. Pastor Juri Sipko, in den letzten Jahren als Meister der Überzeichnung bekannt, berichtete von „Sadismus“ und stellte fest: „So war es zu Zeiten Stalins. Sie (die Staatsvertreter) sind erniedrigt worden und sie gleichen ihre Erniedrigung mit der Erniedrigung anderer aus. Sie bringen Schande über Rußland. Sie haben eine mittelalterliche Orgie mit ultramodernen Mitteln veranstaltet.“ Für diese Schützenhilfe sind die Mitstreiter Semtschenkos dankbar. Einer von ihnen, der evangeliumschristliche Pastor Pawel Begitschew, schrieb am 16. Juni: „Meiner Auffassung nach hat sich J. K. Sipko fast gänzlich rehabilitiert.“

 

Sipko war Präsident der Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten (RUECB) bis März 2010; im Februar 2008 war es zu einem Bruch in der langjährigen Beziehung zwischen ihm und Semtschenko gekommen. Anschließend wurde Semtschenko Bischof einer kleinen evangeliumschristlichen Denomination und gründete die „All-Russische Arbeitsgemeinschaft der Evangeliumschristen“ (WSEKh). Sie ist eine lose Verbindung von 700 Gemeinden mit Beziehungen zu zahlreichen Pfingstkreisen.

 

Gegenwärtig drückt ein gesamter Chor evangelischer Unterstützer Lob für Semtschenkos Charakter und Großzügigkeit aus. Sipko sprach vielen aus dem Herzen als er ihn als „bekannten Wohltäter und Philanthrop, als eine begabte Leitungsperson mit großartigen Visionen“ bezeichnete.  Semtschenko sei begabt genug gewesen, um ein Großteil seiner Träume in die Wirklichkeit umzusetzen. Alexei Smirnow, Sipkos Nachfolger als Präsident der RUECB, schrieb, der Beschuldigte habe „als Christ viel Gutes getan – nicht nur für die Kirche, sondern auch für das Wohl des gesamten Landes“. Witali Wlasenko ist Leiter einer Abteilung der RUECB, die einst von Semtschenko gegründet worden ist: die Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen. Er schrieb: „Ich habe hohe Achtung vor Alexander Trofimowitsch. Er hat vielen Menschen geholfen und er hat aus ganzem Herzen geholfen. Mir tut das Vorgefallene sehr leid.“

 

Pastor Leonid Kartawenko, wahrscheinlich der engste Vertraute von Semtschenko, berichtete, daß auch nachdem Semtschenko vor anderthalb Jahren aus dem Geschäftsleben gedrängt worden ist, er sich weiterhin für eine Lösung der vielen Konfliktfälle im protestantischen Leben engagiert hatte. Als Mitglied des relativ mächtigen „Rates für die Zusammenarbeit mit den religiösen Organisationen am Sitz des Russischen Präsidenten“ war er imstande, wirksam gegen den Abriß einer Pfingstkirche im Moskau im vergangenen Jahr sowie gegen die um vier Jahre hinausgezögerte Freigabe einer gewaltigen, neuen Pfingstkirche in Ischewsk/Ural zu protestieren. Kartawenko versicherte: „Alexander Trofimowitsch war bemüht, den Protestanten überall zu helfen und sie zu einigen völlig abgesehen von den jeweiligen konfessionellen Bindungen.“

 

Bezüglich der Legalität geschäftlicher Transaktionen berufen sich alle protestantischen Beobachter auf eigenes Unwissen und stimmen darin überein, daß nur seriöse Gerichtsverhandlungen den Wirrwarr entflechten könnten. Grundsockel der staatlichen Anklage ist eine Überbezahlung von ungefähr 100 Mill. Rubeln (25 Mill. Euro) an Semtschenkos einstige Firma „Teplotechnik“ für Bauarbeiten an den Bolschoi- und Malitheatern in Moskau in den Jahren 2005 bis 2007. Obwohl Pastor Kartawenko der BBC versicherte, es handele sich um eine Glaubensverfolgung, die „mit dem wirtschaftlichen Bereich nichts zu tun hat“, räumt er gleichzeitig ein, daß ihm die Einzelheiten bei den geschäftlichen Transaktionen nicht bekannt seien.

 

Wo die Meinungen auseinandergehen

Bezüglich der tatsächlichen Ursachen des Arrests gehen die Meinungen der Protestanten weit auseinander. WSECh und andere enge Mitstreiter Semtschenkos meinen, nationalistische Kräfte innerhalb des Staatsapparates – die „Silowiki“ – hätten nun im Ringen mit den pro-westlichen Oligarchen die Oberhand gewonnen und eine massive Kampagne gegen den Protestantismus und die Glaubensfreiheit überhaupt losgetreten. Kartawenko meint, Semtschenko habe die Stimmen des Protestantismus gesammelt und vereint, was die Silowiki als höchst störend empfinden. „Sie wollten Semtschenko den Mund stopfen, und genau das haben sie nun geschafft“, folgerte er. Unter Hausarrest muß der ehemalige Geschäftsmann alle öffentlichen Äußerungen unterlassen und sich auf einen beschränkten Kreis von Personen seines Vertrauens beschränken.

 

Doch Kreise innerhalb der RUECB sind weniger aufgeregt und weisen auf das Ökonomische hin. In einem Interview mit „Portal-Credo“ insistierte Witali Wlasenko: „Ich bin nicht der Meinung, daß seine religiöse Zugehörigkeit den gegenwärtigen juristischen Prozeß ausgelöst hätte. Ich meine, daß nur seine kommerziellen und geschäftlichen Transaktionen am Pranger stehen.“ Er bedauert deshalb, daß die Verbündeten Semtschenkos den Fall rein religiös auslegen.

 

Unregelmäßigkeiten geben der Vermutung Auftrieb, kirchenpolitische Überlegungen seien die wahren Ursachen. Warum wird nur Semtschenko der Prozeß gemacht? Warum sitzen die Mitverschwörer, die Dokumente unterschrieben und die Arbeiten ausgeführt hatten, nicht mit auf der Anklagebank? Pastor Begitschew stellte die Frage: „Hat (Semtschenko) etwa mit Waffengewalt Unterschriften erzwungen?“ „Genau so lief das zu Sowjetzeiten ab“, versicherte Leonid Kartawenko. „Die Gläubigen wurden niemals wegen ihres Glaubens verfolgt. Finanzielle Vergehen oder ‚antisowjetische Agitation’ mußten immer zur Begründung herhalten.“

 

Die öffentlichen Medien spielten die kirchlichen Funktionen Semtschenkos hoch – die ökonomischen Belange waren kaum von Belang. Wlasenko führt das auf die mediale Vorliebe für den Skandal zurück, nicht etwa auf eine staatliche Direktive von oben. Der Preis der Schweizer Armbanduhren, die vom Patriarchen Kirill getragen werden, wäre ein weiteres Beispiel für den Hang der Medien zum Sensationellen.

 

Es ist auf jeden Fall klar, daß die Antikorruptionskampagne der Regierung Putin konkrete Erfolge aufweisen muß. Ganz im Gegensatz zum Korruptionsskandal um den geschaßten Verteidigungsminister Anatoli Serjukow im vergangenen November, kann der jetzige Fall der Regierung keinen Schaden zufügen. Politisch sind alle Protestanten Außenseiter und das Erlegen eines mittelklassigen Oligarchs als Bauernopfer bereitet der Regierung keine Schmerzen. Der Angriff auf Semtschenko zieht nicht einmal die staatlichen Beziehungen zu Baptisten und Lutheranern, die „traditionellsten“ der „untraditionellen“ Kirchen Rußlands, in Mitleidenschaft.

 

Bezüglich der geschäftlichen Belange wird behauptet, Semtschenko habe sich in einem haiverseuchten Teich zu weit vom Ufer entfernt (zu viel Profit erwirtschaftet). Das machte ihn höchst anfällig im Falle eines politischen Klimawechsels. Das trat ein nachdem Juri Luschkow im September 2010 als Moskauer Bürgermeister den Abschied nehmen mußte. Als danach ehemalige Geschäftspartner die Rückerstattung eines Teils der überhöhten Profite verlangten, waren die Gelder bereits an wohltätige Zwecke vergeben.

 

Semtschenko hat immer wieder seine Treue gegenüber der Regierung Putin-Medwedew bekundet, doch sie – und die “Russische Orthodoxe Kirche – Moskauer Patriarchat” – eilte nicht zur Hilfe in der gegenwärtigen Not. Obwohl er als Zeichen des guten Willens und der Solidarität für den Bau zweier neuer orthodoxer Kirchen in Moskau gespendet hatte, war er nicht als Freund der ROK bekannt. Bis zum Niedergang seines Unternehmens war Semtschenko ein starker Unterstützer des Nachrichtendienstes „Portal-Credo“. Portal-Credo, der mit einer kleinen, oppositionellen orthodoxen Kirche liiert ist, ist schon lange ein Dorn im Fleische des Moskauer Patriarchats.

 

Dr.phil. William Yoder

Moskau, den 20. Juni 2013

 

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