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Zukunft der Lutheraner in Zentralasien

Nicht die schlimmste aller Zeiten

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Die Zukunft des Luthertums in Zentralasien

 

M o s k a u -- Beim deutschsprachigen Gottesdienst weht der zarte Gesang weiblicher Stimmen durch die lutherische Kirche zu Omsk/Westsibirien. Keine Orgel ist erwünscht und die rund 20 Frauen verlassen sich nach wie vor auf in Fraktur verfasste Liederbücher in der Sprache vergangener Jahrhunderte.

 

In Russland bewegt sich das lutherische Gespräch über die Ordination von Frauen querbeet über die gesamte theologische Landschaft. Doch das Fehlen gemeindeleitender Personen bleibt unbestritten und Laien-Omis taufen und beerdigen weiterhin in den Weiten Sibiriens und Zentralasiens. Ansässig in Omsk ist der Pensionär Otto Schaude aus Reutlingen. Der ehemalige Pädagoge ist heute Bischof der räumlich größten lutherischen Kirche der Welt: der 4.000-Mitglieder-starken “Evangelisch-Lutherischen Kirche Ural, Sibirien und Ferner Osten“. Er versicherte: „Wir bemühen uns, das Feiern des Abendmahls auf ordinierte Pfarrer zu beschränken.“ Die rührigen Omsker Omas räumen ein, dass ihre Form von Gottesdienst gemeinsam mit ihrem eigenen Ableben zu Ende gehen werde.

 

Obwohl sich deutschsprachige “Babuschki” auch in der lutherischen Zentrale in der glitzernden, kasachischen Hauptstadt Astana versammeln, bestehen die Pfarrer vor Ort darauf, dass die Zukunft des Luthertums nicht gefährdet sei – auch Jugend sei vorhanden. „Wir können gar nicht kleiner werden als wir es jetzt sind“, scherzte Zhanibek Batenow, ein Pfarrer in der Hauptstadt. „Nur noch die Option Wachstum bleibt zur Auswahl übrig!“ Bis 1990 nannten rund eine Million Deutschstämmige sein Land ihr Zuhause; Zweidrittel von ihnen verstanden sich als „irgendwie lutherisch“. Aufgrund der Emigration ist deren Zahl inzwischen auf 150.000 zusammengeschrumpft. Juri Nowgorodow, seit 1995 lutherischer Bischof von Kasachstan, berichtet heute von 52 Ortsgemeinden mit 2.000 aktiven Mitgliedern. Ferner gibt es drei Gemeinden der Missouri-Synode im Großraum Almaty sowie mehrere traditionalistische „Brüdergemeinden“.

 

Kasachstan, das größte Binnenland der Erde, ist fast achtmal größer als Deutschland. Im September legte Nowgorod innerhalb von acht Tagen 4.000 Kilometer zurück, um fünf seiner Gemeinden zu besuchen. Er ist bemüht, alle Gemeinden mindestens zweimal jährlich zu besuchen und erwartet von seinen zehn vollamtlichen Pastoren, dass sie in einem Monat fünf oder sechs Gemeinden besuchen. Dank dem Mangel an Flughäfen, einem schnellen Wagen und sehr schlechten Straßen, bewältigt Nowgorodow wahrscheinlich mehr Schlaglöcher pro Jahr als irgendein anderer lutherischer Geistliche der Welt. Der Bischof erläuterte: „Es fällt einem immer auf, dass man gebraucht wird, dass Menschen auf einen warten. Das gibt mir viel Kraft. Ich kenne alle Gemeinden, und alle Gemeinden kennen mich.“

 

Die lutherische Präsenz ist noch viel schwächer anderswo in Zentralasien. Der Lutherische Weltbund berichtet von 17 Gemeinden mit 1.000 Mitgliedern in Kirgistan. Usbekistan, in dem 45% der Bevölkerung Zentralasiens lebt, hat nur 500 Mitglieder in drei Gemeinden. Winzige Grüppchen überleben in Tadschikistan und Turkmenistan, wohl die repressivsten der fünf zentralasiatischen Staaten. Diese beiden verfügen über keine registrierten lutherischen Denominationen.

 

Zentralasien ist mehrfach unter Druck: Die Ausreisewelle führt nicht nur nach dem Westen, sondern auch nach Rußland und in die Ukraine. Das hängt neben ethnischen Zwängen mit der Erwartung zusammen, dass man die Landessprache erlernt. Russland und Zentralasien sind keineswegs farbenblind: Wenn überhaupt, tun nur noch sehr wenige ethnisch-europäische Polizisten in Kasachstan ihren Dienst. Anders herum stößt man bei den Ehrenwachen im Kreml ausschließlich auf Bleichgesichter.

 

Der organisatorische Abstand zwischen der lutherischen Zentrale in St. Petersburg und Zentralasien nimmt zu. Aufgrund staatlicher Empfindlichkeiten verzichtet die 20.000-Mitglieder zählende „Evangelische Lutherische Kirche in Rußland“ (ELKR – einst ELKRAS) seit November 2010 darauf, als offizielle Union von Kirchen auch außerhalb der Grenzen Rußlands zu fungieren. Da spielt die ELKR nur noch eine beratende Rolle. Weiterhin Leiter des beratenden „Bischofsrats“ ist Alfred Eichholz, Bischof vom Kirgistan. (Seit September 2012 fungiert der Moskauer Dietrich Brauer als Kommissarischer Erzbischof der ELKR.)

 

Alle fünf muslimischen Staaten Zentralasiens erhöhen den Druck auf ihre protestantischen Minderheiten. Strenge, im November 2011 in Kasachstan eingeführten Gesetze bestimmen, dass nur Ortsgemeinden mit mehr als 50 Mitgliedern neu registriert werden dürfen. In Kirgistan befindet sich diese Schwelle bei 200 Mitgliedern. Nowgorodow geißelt die Bestimmung als bürokratischen Albtraum und hofft, durch das Zusammenlegen kleiner Gemeinden in eine Gemeinde, die sich an mehreren Orten versammelt, den neuen Gesetzen Genüge zu tun. Er fragte verwundert: „Wie können kleine Ortsgemeinden, die bereits seit Jahrzehnten registriert sind, rückwirkend plötzlich für illegal erklärt werden? Sollten wir versuchen, sie vom Beten abzuhalten?“ Alle fünf Staaten beschreiben sich als säkulare Staaten, die sich der Bekämpfung des muslimischen Extremismus verschrieben haben. Doch Protestanten bleiben ebenfalls in der Schußlinie. In Turkmenistan gelten evangelische Schriften ohne Stempel und Unterschrift eines Imams – oder eines orthodoxen Priesters – als illegal.

 

Der eindeutig konservative Franz Tissen, Oberhaupt der 12.000-Mitglieder zählenden Baptistenunion von Kasachstan, steht in vorderster Front im Kampf um die Glaubensfreiheit. Er gibt an, dem obersten Mufti des Landes öffentlich entgegengetreten zu sein als er bei einer Feierstunde in der Hauptstadt unter Applaus behauptete, allein der Islam sei für ethnische Kasachen zuständig. Tissen erwiderte: „Dürfen Kommunistinnen nur kleine Kommunisten gebären? Wie äußert sich bei Ihnen die Glaubensfreiheit? Die meisten Menschen machen einen Prozeß durch, bei dem sie zu ihrer persönlichen Glaubensüberzeugung gelangen.“ Seine baptistische Union hat jetzt 500 ethnisch-kasachische Mitglieder. Berichten zufolge bilden einheimische Asiaten inzwischen die Mehrheit innerhalb der 3.000-köpfigen Baptistenunion von Kirgistan.

 

Kasachische Lutheraner mögen im Prinzip mit Tissen übereinstimmen, doch sie ziehen es vor, ihre Meinungsdifferenzen mit staatlichen und religiösen Kreisen hinter geschlossenen Türen auszutragen. Eine Indiz dafür ist deren Teilnahme am staatlich geförderten „Kongreß der Führer von Welt- und traditionellen Religionen“, der sich im vergangenen Mai zum vierten Mal in Astana versammelte. Nicht als Schmeichelei beabsichtigt, meinte ein kasachischer Baptist: „Es sind die Lutheraner, die zu allen staatlichen Anlässen eingeladen werden.“

 

Bischof Nowgorodow behauptet, dass die Beziehungen zum Staat geregelt verlaufen. „Manchmal zanken wir uns, doch im Leben miteinander gehört das immer dazu.“ Lutheraner verzichten auf den Proselytismus und beschränken sich darauf, die Menschen allgemein zum christlichen Glauben einzuladen. „Wir bekämen mit dem Staat zu tun falls wir unter Muslimen missionierten“, versicherte Pfarrer Batenow, selbst Abkömmling muslimischer Eltern. Dreißig Prozent der Landesbevölkerung ist nichtmuslimisch und Lutheraner setzen auf diese große und verheißungsvolle Minderheit.

 

In vielerlei Hinsicht bleibt Kasachstan eine säkulare Gesellschaft. In Gegensatz zu Deutschland sieht man praktisch keine Musliminnen mit Kopftuch. Die Römisch-Katholische Kirche, weiterhin beteiligt am Wettlauf um den Bau religiöser Gebäude, hat jüngst eine Kathedrale in der heruntergekommenen Bergwerkerstadt von Karaganda eröffnet. Die baptistische Diakonie Kasachstans befindet sich auf einem guten Wege; auch Lutheraner bemühen sich um Waise und Betagte.

 

Es gibt zentralasiatische Protestanten, die das Gespräch mit Muslimen über den christlichen Glauben für weniger kompliziert halten als mit säkularen Russen, die sich als Orthodoxe ausgeben. Kamoliddyn Abdullaiev (Duschanbe), Leiter des 400-köpfigen, tadschikistanischen Baptistenbundes, versicherte vor kurzem:  „Die Menschen in meinem Lande sind sehr gottesfürchtig. Das freut uns.“ Pastor Batenow sprach vielen Protestanten aus dem Herzen als er sagte: „Das Evangelium Christi findet seinen eigenen Weg wenn es in einer klaren und überzeugenden Weise verkündigt wird.“

 

Lutheraner und andere räumen ein, dass sie sich nicht darüber im Klaren seien, was der morgige Tag bringt: „Doch wer weiß das schon genau?“ Wassili Korobow, der leitende Baptist in Turkmenistan, meinte: „Dies sind nicht die schlimmsten aller Zeiten. Die kommunistische Herrschaft traf uns viel schwerer und dennoch hat die Kirche überlebt. Wir leben aus der uralten Erwartung, dass der Herr seine Kinder beschützt.“

 

Dr.phil. William Yoder

Smolensk, den 17. August 2013

 

Nachwort: Otto Schaude ist im September 2016 in Deutschland verstorben. Seiner Nachfolger als Omsker Bischof ist Alexander Scheiermann.

 

Dieser Artikel wurde am 4. November 2012 abgeliefert und ist in jenem Monat in der „Mecklenburgischen Kirchenzeitung“/Schwerin ursprünglich erschienen. Er darf gebührenfrei abgedruckt werden wenn die Quelle – die Mecklenburgische Kirchenzeitung bzw. die Russische Evangelische Allianz - angegeben wird. Meldung Nr. 13-15, 1.165 Wörter oder 8.861 Anschläge mit Leerzeichen.