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Toljatti hat einen evangelikalen Bürgermeister

Ein Radler in der größten Autostadt Rußlands

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Der protestantische Bürgermeister Sergei Andrejew ist am Werk

 

M o s k a u – Sergei Andrejew hat zwar keinen Führerschein, doch auch ohne hin bleibt er Oberbürgermeister der Autogroßstadt Toljatti (oder Togliatti). Vor kurzem schaffte Toljatti Platz sechs auf der Liste der 20 investitionsfreundlichsten Städte Rußlands. „Die Autoproduktion gehört zu unseren besten Exportchancen“, versichert der Bürgermeister. Er hat bereits mehrmals Frankreich besucht, und die Volkswagen-Stadt Wolfsburg bleibt eine Partnerstadt von Toljatti. Gleiches gilt für die „Ford-Stadt“ Flint im US-Bundesstaat Michigan.

 

Andrejew ist engagierter Mitarbeiter einer evangeliumschristlichen Denomination und auch deshalb war die Wahlkampagne im März 2012 von einem anti-baptistischen Feldzug begleitet (siehe unseren Bericht vom 25. März 2012). Die Angelegenheit kam wieder hoch am 10. Juni 2013 als die „Toljatter Rundschau“, eine alte Gegnerin des Bürgermeisters, von einer „Sektenepidemie“ in der Stadt berichtete. In einem Beitrag hieß es, neo-pfingstlerische Gruppen, mit denen Andrejew zusammenarbeite, seien dabei, Drogensüchtige in „passive Zombies“ und „Feinde der Orthodoxie“ zu verwandeln. Der Bericht im Moskauer Nachrichtendienst „Protestant“ trug den Titel: „Die Hexenjagd kehrt wieder“.

 

Doch der leise, nachdenklich wirkende Bürgermeister hält wenig vom politischen Theater. Vor kurzem in einem Interview nannte er die Vorfälle von 2012 eine Entdeckung der professionellen Wahlkampfmanager seines politischen Opponenten. „Wahlen sind Kampfzeit und der Gegner wird zu allen Informationen greifen, die seiner Sache förderlich sein könnten.“ Der Kandidat, den er besiegte, gehörte der Partei Wladimir Putins an, doch Andrejew besteht darauf, der Anti-Protestantismus sei niemals Teil der politischen Plattform jener Partei gewesen. Den gegenwärtigen Stand der interkonfessionellen Beziehungen bezeichnet er als ruhig: „Mit dem orthodoxen Klerus besteht ein konstruktives Arbeitsverhältnis. Bei Treffen tauschen wir uns vor allem über kirchliche Bauvorhaben aus. Wir tun alles, was die Gesetze erlauben, um ihnen behilflich zu sein.“

 

Der Psychologe und Bürgermeister ist kein Anhänger der Pauschalverurteilungen, die gelegentlich von protestantischen Geistlichen in die Welt gesetzt werden. „Leitende Personen sollten nicht nur kritisieren“, versichert er. „Die Kritik sollte von Lösungsvorschlägen begleitet sein.“ Globale Verdammungen und die Annahme, daß die Politik immer ein schmutziges Geschäft sei, machten uns immobil: „Der Einzelne kann zwar nicht alles verändern, aber er kann immerhin etwas verändern.“ Bei einer Ansprache im vergangenen Juli erzählte Andrejew, 2010 habe ihm nach seiner Kritik die politische Opposition den Posten eines Ministers für Rohstoffe, Forst und Ökologie im Gebiet Samara angeboten. Seiner Einschätzung nach wäre er unglaubwürdig geworden, hätte er das Angebot auszuschlagen.

 

Den Frontalangriff auf Wladimir Putin durch den US-Senator John McCain, der am 19. September 2013 auf der Webseite „pravda.ru“ erschienen ist, hat Andrejew noch nicht gelesen. Doch meint er: „Einfache Lösungen weisen darauf hin, daß einer die tieferliegenden Ursachen nicht kennt.“ Belehrungen aus der Ferne “werden stets auf Widerstand bei der Gegenseite stoßen“.

 

Der Bürgermeister ist nicht abgeneigt, sich 2017 nochmals zur Wahl zu stellen. Er meint, das künftige Wohlergehen der Evangelikalen Rußlands hänge nicht zuletzt von deren politischem Engagement ab. Die öffentliche Arena biete Protestanten eine klassische, von Gott gewährte Chance, den guten Willen und die Bereitschaft, sich fürs Gemeinwohl einzusetzen, unter Beweis zu stellen. Nur so lassen sich die xenophobischen Stereotypen der Vergangenheit – daß Baptisten etwa amerikanische Spionen seien – endgültig abbauen.

 

In der Homosexualität erkennt der Bürgermeister keine massive Gefahr für den Fortbestand der westlichen Zivilisation. „Das Land braucht Menschen mit moralischer Autorität“, antwortet er lieber. „Unser größtes Problem hängt mit dem Abbau unseres kulturellen Niveaus, mit dem Verlust an moralischen Werten, zusammen. Unserer Jugend ist jedes Mittel recht, um ein  gestecktes Ziel zu erreichen. Fleiß und harte Arbeit zählen nicht mehr. Man will lieber schnell und mühelos reich werden; man ist nicht mehr gewillt, vorhandene Schwierigkeiten anzugehen. An dieser Stelle würde uns die protestantische Arbeitsethik (von Weber) eine große Hilfe sein.“ Andrejew beklagt eine „negative Auslese“, die immer wieder in der russischen Geschichte vorgekommen ist. Revolutionen, Bürgerkriege, Kollektivierung und Klassenkampf hatten zu Ausreisewellen – und „brain drain“ – geführt. Und die Ausgereisten „gehörten nicht gerade zu den schlechtesten Menschen, die es in Rußland gab“.

 

Heute gehört Sergej Andrejew der „Bürgerplattform“, einer von Michail Prochorow im Juni 2012 gegründeten Oppositionspartei, an. In der Regel zählt der Milliardär Prochorow zu den fünf reichsten Oligarchen des Landes. Andrejew seinerseits verfügt offensichtlich über das höchste gewählte Amt, das ein Vertreter dieser Partei innehat. Der bescheidene Oberbürgermeister hört es nicht gern, doch ferner verfügt er wohl über den höchsten politischen Posten, den ein nicht-lutherischer Protestant in der Geschichte Rußlands (abgesehen von der Ukraine seit 1990) jemals ergattert hat.

 

Beide Politiker verfechten neoliberale Wirtschaftsmodelle; sie wehren sich gegen den übergroßen Staat und die Knebelung des Privatsektors. Sie wollen einen dezentralen, horizontalen Staat mit einer Zivilgesellschaft und engen ökonomischen Bindungen zum Westen. Andrejew räumt ein, daß Steuern unvermeidlich seien, doch „je weniger Steuern der Staat eintreibt, desto besser ist es für die Menschen. Nicht selten erreichen die Steuern, die bei den Reichen eingesammelt werden, die Armen nicht. Statt sich auf eine gerechte Verteilung der vorhandenen Ressourcen zu konzentrieren, sollte man lieber einen größeren Mehrwert produzieren.“

 

Der Bürgermeister weint der kommunistischen Vergangenheit keine Träne nach und will nur in sehr begrenzten, konkreten Projekten – etwa bei der Schaffung von Kindertagesstätten – mit Kommunisten kooperieren. Sie hätten dem Volk eine doppelte Moral eingeimpft: Während man einerseits die Prinzipien des Kommunismus anpries, „lebten dessen Führer andererseits nach Prinzipien, die sich von einem Dienst am Volk wesentlich absetzten. Es wird schwer sein, diese Haltung zu überwinden, aber sie ist überwindbar.“ Den kommunistischen Regierungen der Vergangenheit hält er eine sträfliche Ineffizienz vor: „Trotz unserer unglaublichen Ressourcen konnten wir nicht einmal das eigene Volk ernähren und mußten im Ausland Getreide einkaufen.“ Eine veraltete Technologie und niedrige Produktivität seien noch heute wesentliche Probleme.

 

Ähnlich wie der Anblick eines Radlers, der eine mächtige Autostadt anführt, erzeugt auch das Zweigespann Prochorow – Andrejew Fragen. Der ledige, 48-jährige Oligarch genießt den Ruf eines global jettenden Playboys und scheint für das Hochhalten der traditionellen Familienwerte ungeeignet zu sein. Wegen des Verdachts, die Prostitution unter jungen Russinnen zu fördern, war er in Frankreich Anfang 2007 mehrere Tage inhaftiert. Doch Andrejew ist glücklich verheiratet und hat vier Kinder im Alter zwischen sieben und 15 Jahren. (Der Radler hat auch einen Dienstwagen mit Chauffeur für die dienstlichen Angelegenheiten.)

 

Der bekanntere – und ärmere – Milliardär Roman Abramowitsch besitzt den britischen Fußballverein Chelsea; dafür fungiert Prochorow als Hauptinhaber des Basketballvereins Brooklyn Nets. Prochorow beschreibt den seit 2003 inhaftierten Ex-Oligarchen Michail Chodorkowski als einen guten Freund.

 

Andrejew – eine Brücke zwischen Pfingstlern  und Baptisten

Obwohl er in den Medien üblicherweise als “Baptist” beschrieben wird, ist Andrejew im engeren Sinne nie einer gewesen. Als Kind einer nichtchristlichen Familie kam er in Smolensk 1973 auf die Welt; nach einem Umzug nach Sankt Petersburg kam er 1990 zum Glauben. Anfangs war er Mitglied der Petersburger Gemeinde „Haus des Evangeliums“; eine renommierte evangeliumschristliche Gemeinde, die 1989 wiedererstanden ist. Sie trennte sich von der traditionellen „Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten“ im Jahre 1996. Nach seinem Umzug nach Toljatti 1993 arbeitete Andrejew anfangs für die Jugendorganisation „Lebendiges Wort“ mit Unterstützung von der überkonfessionellen “Child Evangelism Fellowship”, die ihren Sitz in Warrenton/Bundesstaat Missouri hat. Heute gehört er der winzigen „Assoziation der Missionarischen Kirchen der Evangeliumschristen“ mit 12 Gemeinden in Rußland an. Ihr Gottesdienststil ist charismatisch; ihr Präsident ist Sergei Guz aus Uljanowsk/Wolga. Beim Wahlkampf waren auch die Charismatiker mit von der Partie.

 

Solange die Beziehungen zwischen Ost und West nicht in den Keller geraten, behalten nicht wenige russische Beobachter ihren Optimismus bezüglich der Zukunft des Protestantismus in Rußland. Vor kurzem meinte der baptistische Anwalt Anatoli Ptschelinzew, ein Direktor des „Slawischen Rechtszentrums“ (SLC) in der russischen Hauptstadt, die umstrittene Gesetzgebung vom Juli 2013, die die Beleidigung religiöser Gefühle unter Strafe stellt, ließe sich auch gegen orthodoxe Radikale, die Protestanten bekämpfen, anwenden. Für ihn und  andere sind die Erfolge Andrejews ein Hoffnungszeichen für die Zukunft.

 

Dr.phil. William Yoder

Moskau, den 6. November 2013

 

Journalistische Veröffentlichung Nr. 13-20, 1.251 Wörter.