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Sehnsucht nach dem alten Verhältnis mit den Ukrainern

Wie das war, als wir noch Brüder waren

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Wie russische Protestanten auf die Krise in der Ukraine reagieren

 

S m o l e n s k – Mit Trauer, Schweigen und mehreren Bet- und Fasttagen reagieren russische Protestanten auf die laufende Krise in den russisch-ukrainischen Beziehungen. Im Gottesdienst einer Moskauer Baptistengemeinde am 2. März drückte das Gebet eines Laienmitglieds die vorherrschende Nostalgie wie folgt aus: „Erinnere uns daran, wie das war, als wir noch Brüder waren!“ Eduard Grabowenko (Perm), leitender Bischof der pfingstlerischen “Russischen Kirche der Christen evangelischen Glaubens“, schrieb: „Wir schauen mit Angst und Schmerz auf die Entwicklungen in der Ukraine. Zwei Brudervölker mit einer gemeinsamen Geschichte und einem gemeinsamen Schicksal stehen am Rande eines bewaffneten Konflikts.“

 

Während Ukrainer in der Regel den autonomen und distinkten Charakter ihres Landes und ihrer Kultur hervorkehren, weisen Russen auf die Gemeinsamkeiten hin. Russen stellen sogar in Abrede, ob Rußland und die Ukraine tatsächlich verschiedene Kulturen darstellen. Gegen Ende des neunten Jahrhunderts n.Chr. galt Kiew als die „Mutter der Städte der Rus“; lange vor Moskau galt Kiew als Hauptstadt und kulturelle Wiege des Ostslawentums. Russen würden das Streichen Kiews aus der kulturellen Gleichung etwa wie das Herausschneiden Triers aus einer Karte Deutschlands empfinden.

 

Diese zwei (?) Nationen sind auf jeden Fall heillos miteinander verwandt und verschwägert. Die Ukraine galt als „Bibelgürtel“ der ehemaligen Sowjetunion, und zumindest eine gewaltige Minderheit der protestantischen Kirchen- und Gemeindeleiter Rußlands ist ukrainischer Herkunft. Das Gleiche geschieht in entgegengesetzter Richtung: Ein führender baptistischer Verfechter ukrainischer Souveränität ist der junge Kiewer Theologe Michail Tscherenkow – ein Russe aus Samara/Wolga.

 

Im Allgemeinen tritt die protestantische Führung der Ukraine für die Linie der prowestlichen und pro-EU-Parteien ein. Am 3. Juli 2012 unterzeichneten Wjatscheslaw Nesteruk und Grigori Komendant, der gegenwärtige und ehemalige Präsident der „All-Ukrainischen Union der Kirchen der Evangeliumschristen-Baptisten“, eine Petition mit der nicht stattgegebenen Forderung an den damaligen Staatspräsidenten Wiktor Janukowitsch, Russisch als eine zweite, offizielle Sprache in bestimmten Gebieten des Landes nicht zuzulassen. Der Brief versicherte, diese Maßnahme würde „die gesellschaftliche Aufteilung vertiefen, die politische Abwehr anheizen und das Fundament des ukrainischen Staates untergraben“ (siehe unsere Meldung vom 11.7.2012). Der Versuch der Staatsduma unmittelbar nach dem Sturz von Janukowitsch Ende Februar dieses Gesetz wieder rückgängig zu machen, scheint nun genau diesen Effekt zu haben.

 

In einer Stellungnahme vom 11. Dezember 2013, distanzierten sich junge, baptistische Theologen von Nesteruk, nachdem er seine Kirche als „unpolitisch“ bezeichnete und versichert hatte: „Auf dem Maidan sind wir nicht aktiv.“ Eine protestantische Stellungnahme vom 11. Februar 2014, die die Protestbewegung vehement bejahte, trug dann die Unterschrift von Nesteruks Stellvertreter: Waleri Antonjuk. Ein ökumenisches Papier vom 2. März, das Rußland dazu aufrief, „seinen Verstand wieder in den Griff zu bekommen und die Aggression gegen die Ukraine einzustellen“, trug dann wieder die Anschrift Nesteruks.

 

Die politischen Auseinandersetzungen in der Ukraine haben stets die größte Kirche des Landes, die “Russisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats”, gegen alle anderen aufgebracht. Eigentlich nur in Rußland genießt die ROK-MP die gelegentliche Unterstützung von Protestanten. In einem Aufsatz vom 2. März geißelte Tscherenkow Rußland als „eine tschekistische Staatsmaschine mit einer tschekistischen Kirche“, die von einem „Kreuz mit Bajonett“ bestimmt werde. Dabei forderte er die Protestanten Rußlands dazu auf, die politische Verteidigung der Ukraine aufzunehmen.

 

Doch nur wenige Tage zuvor am 25. und 26. Februar hatte in Sankt Petersburg der Baptist Witali Wlasenko gemeinsam mit dem orthodoxen Metropoliten Ilarion (Alfejew) und Pawel Pezzi, dem römisch-katholischen Erzbischof von Moskau, eine Tagung des „Christlichen Interkonfessionellen Beratungskomitees für die GUS-Staaten und das Baltikum“ (KhMKK auf Russisch) durchgeführt. Hinterher freute sich Pastor Wlasenko, Direktor für Außenbeziehungen bei der Union der russischen Baptisten (RUEBC): „Wir erlebten eine tolle Gemeinschaft, und alle Gruppen, die anwesend waren, bekamen die Chance, aufzutreten.“ Vertreten waren auch nicht wenige lutherische Gemeinschaften. Die 1993 gegründete KhMKK läßt sich beschreiben als eine regionale, östliche Alternative zur von Genf aus geleiteten „Konferenz Europäischer Kirchen“.

 

Eine Art Gebetsanliegen, das am 4. März durch den Cyberspace schwebte, war von Sergei Schindrjaew verfaßt: „Es gab eine großartige Nachricht heute morgen. Als Antwort auf die russische Invasion haben die Vereinigten Staaten eine Flugzeugträgergruppe Richtung Schwarzes Meer entsandt, um auf Entwicklungen auf der Halbinsel Krim reagieren zu können. Der Super-Flugzeugträger „USS George H.W. Bush” sowie 17 weitere Schiffe und drei U-Boote haben am heutigen Nachmittag das Ägäische Meer passiert. Wir merken, daß Menschen aus der ganzen Welt sich nicht von der Ukraine abgewendet haben – wie es damals 1938 beim Anschluß Österreichs durch Hitler der Fall war.

 

Der Blogger Schindrjaew, der sich offensichtlich nicht mehr in Rußland aufhält, reagierte damit auf eine ausführliche Stellungnahme von Peter Kuzmic, einem anerkannten, kroatisch-slowenischen Professor des Gordon-Conwell Seminars im US-Bundestaat Massachusetts. Kuzmic, wohl kein Freund der Aussöhnung zwischen Ost und West, berichtet von einem „amoralischen Zögern“ und schreibt, daß die USA „schon allzu lange mit Putin und seinen Satelliten freundlich umgangen ist. Doch die westlichen Staaten haben ihre Verurteilung unisono ausgesprochen – unmißverständlich und unerwartet streng.“ Kuzmic ferner streitet Staaten wie Rußland, Indien und China das Recht ab, einen Machtblock neben dem Westen – siehe BRICS – aufzubauen. Die ROK-MP habe „unkritisch die größenwahnsinnigen Pläne (Putins) unterstützt, durch die Schaffung einer euroasiatischen Union, die es mit der Europäischen Union und den USA aufnehmen könnte, Rußland als Supermacht wiederherzustellen“.

 

Angesichts der grenzübergreifenden Verflechtungen findet die neue ukrainische Regierung durchaus Unterstützung innerhalb der Grenzen Rußlands. Unmittelbar nach der Wahl Alexander Turtschinows zum Übergangspräsidenten am 25. Februar schickte „WSECh“, eine lose, in Moskau beheimatete Koalition von überwiegend pfingstlerischen und evangeliumschristlichen Denominationen, ihm einen herzlichen Gruß. WSECh nannte Turtschinow „unseren Bruder in Christo“ und versicherte, der neue Präsident werde „für Gesetz und Ordnung in der Ukraine einstehen“. Juri Sipko, ehemaliger Präsident der russischen Baptistenunion und politischer Kommentator, der heute nicht mehr für seine Kirche spricht, schrieb am 3. März: „Rußland kann niemals die Schande, die von dreisten Lügen und Aggression gegen das ukrainische Brudervolk herrührt, abwischen. Es gibt niemals eine Rechtfertigung für die Gewalt. Eine bewaffnete Intervention in der Ukraine entbehrt jeglicher Rechtfertigung.”

 

Bischof Sergei Rjachowski, langjähriges Oberhaupt der charismatischen und pfingstlerischen „Vereinigten Russischen Union der Christen Evangelisch-Pfingstlerischen Glaubens“ (ROSKhWE) wird oftmals vorgeworfen, ein Mitläufer Putins bzw. ein Patriarch Kirill in protestantischer Ausführung zu sein. Doch seine Stellungnahme vom 4. März könnte einmal wieder auf sein staatsmännisches Format hinweisen: „Merken Sie bitte, wie die Spannungen angeheizt werden – nicht nur zwischen Brüderstaaten, sondern auch innerhalb unserer Kirchen. Wie wichtig es doch ist, daß politische und soziale Veränderungen nicht zur furchtbarsten aller diabolischen Provokationen führen: daß wir beginnen, einander zu hassen! . . . Wir dürfen nicht den verwerflichen Stimmen der Welt nachgeben; laßt uns unsere Einheit und den gegenseitigen Respekt aufrechterhalten.“

 

Doch Oligarchen in der Ostukraine haben bereits die Fronten von Janukowitsch nach Turtschinow gewechselt. Es bestehen Hinweise darauf, daß nicht wenige Ukrainer – auch Protestanten - sich ähnlich verhalten werden: Sie befinden sich im Wartestand und sind für beide Regierungen offen. Wer Stabilität, Arbeit, Behausung und soziale Gerechtigkeit zu bieten hat, kann sich ihrer Unterstützung gewiß sein.

 

Vorsicht: Politischer Kommentar

“Dank sei Gott, das diktatorische Regime ist eingestürzt!” frohlockte der Ukrainer Anatoli Kaluschni, Bischof der kleinen „Konferenz selbständiger evangelischer Kirchen“ auf Facebook. Doch Janukowitsch war nicht von der Straße, sondern von den europäisch-kontrollierten Wahlen am 7. Februar 2010 gewählt worden. Unterstützung für die verfassungslose Übernahme eines Staates durch ein politisches Segment des Landes auf Kosten eines zweiten Teils untergräbt die Behauptung, der Westen halte sich an die Regeln einer demokratischen Verfahrensweise.

 

Ich denke, es wäre äußerst schwierig, einen frischeingetroffenen Marsbewohner – oder jeglichen, völlig neutralen und nichteingeweihten Außenstehenden – davon zu überzeugen, daß es sich bei den russischen Aktivitäten auf der Krim um eine „Invasion“ handele. Die krimische Halbinsel wurde 1783 Teil des russischen Reiches und wurde erst 1954 in die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik überführt. Eine Mehrheit ihrer Bewohner hält sich zu Rußland, und ein Vertrag aus dem Jahre 1999 gewährt Rußland das Recht, bis 2042 25.000 Soldaten auf der Halbinsel zu stationieren. Berichten zufolge liegt die gegenwärtige Truppenstärke bei 16.000.

 

Im Januar besuchte Malkhaz Songulashvili, Erzbischof der baptistischen Kirche von Georgien und Verbündeter des Kiewer Patriarchats der ukrainischen Orthodoxie, Kiew. In einem Brief vom 28. Februar begrüßt er die Bemühungen des ukrainischen Patriarchen Filaret (Denysenko), der NATO beizutreten: „Regelmäßig reist der Patriarch nach Europa und Amerika, um sich für die Integration der Ukraine in EU und NATO starkzumachen. Er erkennt darin eine Wiederherstellung historischer Gerechtigkeit.“

 

Es darf dann aber auch danach gefragt werden, ob das Streben nach einer Vervollständigung der militärisch-strategischen Einkreisung Westrußlands ein passendes, protestantisches Unterfangen darstelle. John Glaser, leitender Redakteur der „antiwar.com“-Website, weist darauf hin, daß bereits 12 zentraleuropäische Staaten, die einst zum Warschauer Pakt oder zur UdSSR gehörten (drei gehörten zur UdSSR), der NATO-Allianz beigetreten sind. Das letzte große Glied in der Kette, das noch fehlt, heißt Ukraine. Dieses Vorhaben steht im krassen Widerspruch zum unverbindlichen „Gentlemen’s Agreement“, das der Westen 1990 mit Michail Gorbatschow eingegangen ist.

 

Im September 2011 behauptete der US-Präsidentschaftskandidat Ron Paul, sein Land verfüge über 900 Militärbasen in 130 ausländischen Staaten. Dafür wurde er von der „Washington Post“ zurückgepfiffen – nach ihren Berechnungen handele es sich um nur 40 Staaten. Doch die Zahl von 900 Basen ließ die Zeitung gelten. Nach Wikipedia verfügt Rußland über Basen in 11 Staaten. Doch nur einer dieser Staaten befindet sich außerhalb der ehemaligen Sowjetunion: Syrien. Die USA bemühen sich um die strategische Umkreisung Chinas – doch China hat noch keine ausländischen Militärbasen.

 

Glenn Greenwald, der in Brasilien stationierte Mitstreiter des „Moskauers“ Edward Snowden, schrieb am 3. März, daß imperialistische Mächte anderen Staaten nicht das gestatten, was sie selbst längst betreiben. Bezüglich der Auseinandersetzung auf der Krim meinte er: „Im wesentlichen protestieren die USA gegen die viel bescheideneren und weniger aggressiven Versuche Rußlands, ihrem eigenen Weltspiel nachzuahmen.“

 

In der TV-Sendung “Face the Nation” versicherte US-Außenminister John Kerry am 2. März: „Im 21. Jahrhundert darf man sich nicht so benehmen, als ob man sich noch im 19. Jahrhundert befände, in dem man mit einer völlig fadenscheinigen Begründung ein fremdes Land überfällt“. Das rief den staunenden, in Moskau beheimateten Journalisten Robert Bridge auf den Plan: „Schließlich hat Washington mit seinem Überfall auf den Irak 2003 das Lehrbuch für die Verletzung der territorialen Integrität souveräner Staaten verfaßt.“

 

Seit 1903 verfügen die USA über eine Militärbasis auf dem abgeriegelten Gebiet von Guantanamo/Kuba. Ist jene Präsenz etwa legitimer als die russische Präsenz in Sewastopol? Im Wesentlichen hat die US-Außenpolitik ein Problem mit dem zweierlei Maß. Evangelikale, die sich in der Ukraine und anderswo dieser Heuchelei schuldig machen, beschädigen ihre Glaubwürdigkeit in den Augen einer fragenden Welt.

 

“Ethischer Imperialismus“ ist ein neuer Begriff für den Versuch des Westens, sich unter der Fahne der selbstdefinierten „Menschenrechte“ global auszuweiten. Gewiß: Wenn einzig die NATO ein moralisch legitimierter Machtblock sei, dann ist ein Kreuzzug gegen alle anderen Machtblöcke und Staaten nur logisch. Im Gegensatz dazu gehen sämtliche Versuche zur Schaffung kollektiver Sicherheit von der Legitimität der konkurrierenden, gegnerischen Kräfte aus. Der Vorschlag Henry Kissingers, eine militärisch neutrale Finnlandisierung der Ukraine vorzunehmen, scheint denkbar als der gangbarste Weg, die Einheit des Landes aufrechtzuerhalten.

 

Aber die Russen dürfen sich auch an die eigene Nase fassen. Das neue Rußland war bisher nicht imstande, seinen Nachbarn – auch der Ukraine - ein attraktives Gesellschaftsmodell vorzuführen. In der Tradition des Potemkinschen Dorfes (das war auf der Krim, 1787) hat die russische Führung einmal wieder Schein mit Sein verwechselt. Die 50-Milliarden-Dollar-Rechnung in Sotschi steht einer Gesellschaft gegenüber, die unter der Last eines sträflich unterfinanzierten Bildungs- und Gesundheitssystems ächzt. Ohne neue, humanere Prioritäten wird sich die Anziehungskraft Rußlands im Ausland nicht verstärken.

 

Wie baptistisch ist Alexander Turtschinow?

Alexander Turtschinow (Ukrainisch: Oleksandr Tyrchnov) gehört zu den vielen Außenstehenden, die früh in der postsowjetischen Ära in den baptistischen Baum eingepfropft worden sind. Nach einer langen Wanderung durch die protestantische und charismatische Landschaft der Ukraine wurde er 1999 in der Kiewer Baptistengemeinde „Wort des Lebens“ getauft. Offensichtlich verfügt Turtschinow weiterhin über Beziehungen zur charismatischen „Kirche Christi“. (Beide Namen stiften Verwirrung, denn sie werden von mehreren Organisationen in der evangelikalen Welt verwendet.)

 

Im Jahre 1964 kam Turtschinow in einer säkularen Familie in Dnepropetrowsk/Ostukraine zur Welt. Er machte 1986 einen Abschluß im Fachbereich Metallurgie und begann seine politische Laufbahn als Chef der Abteilung für Agitation und Propaganda beim kommunistischen Jugendverband „Komsomol“ (1987-90). Doch dort setzte er sich rasch für eine Reform und Demokratisierung der Partei ein. Im Jahre 1992 siedelte er samt seinen politischen Mitstreitern nach Kiew um. Zwei Jahre später gründete er gemeinsam mit Pawlo Lasarenko, einem Geschäftspartner von Julia Timoschenko, die Partei „Hromada“. Seitdem ein enger Vertrauter Timoschenkos, gelangte er 1998 ins Parlament. Nachdem Lasarenko im Jahr darauf in einen Skandal verwickelt worden war, trennten sich Turtschinow und Timoschenko von ihm. Bekannt als ehrlicher Makler, sorgte der Baptist 2005 für Aufsehen, als er sieben Monate lang den Posten des Sicherheitschefs des Landes innehatte. Unter Timoschenko war er der leitende Vizepräsident des Landes von 2007 bis 2010.

 

Die “Wort des Lebens”-Gemeinde gehört der 125.000-Mitglieder-starken „All-Ukrainischen Union der Kirchen der Evangeliumschristen-Baptisten“ von Wjatscheslaw Nesteruk an. Ihr Bethaus befindet sich in einer exklusiven Wohngegend in der Straße Mitschurina 66-70 im Osten der Stadt. Sein leitender Pastor, der 73-jährige Wladimir Kunez, soll über die unter osteuropäischen Baptisten seltene Begabung verfügen, mit der obersten Schicht der Gesellschaft umgehen zu können. Obwohl ihre gegenwärtige Kirche bescheiden ausfällt und es sich keineswegs um eine Megagemeinde handelt, wußte die Lokalzeitung „Westi“ am 27. Februar zu berichten, daß ein neuer Kirchenbau mit einem Preis von mehr als $20 Millionen vor der Vollendung steht.

 

Dieser Bericht erwähnt ferner, daß während der vergangenen Proteste auf dem Maidan ein überbeanspruchter Turtschinow kein einziges Mal den Weg in den Gottesdienst fand. Einige Mitglieder, die auch auf dem Maidan aktiv waren, baten darum, daß die Gottesdienste knapp gehalten werden, damit sich ihr Erscheinen auf dem Maidan nicht ungebührend verzögert. Turtschinow läßt sich am besten als gelegentlicher Laienprediger bezeichnen – er ist nicht ordiniert. „Westi“ gibt zu Protokoll, daß sich seine Gattin, die Linguistin Dr. Hanna Turschinowa, bei schlechter Gesundheit befindet und selten zur Gemeinde kommt. Ihr Sohn Kirill (geb. 1994) ist Student und befindet sich öfter im Gottesdienst. Wiktor Ukolow, ein weiteres, führendes Mitglied der Partei von Turtschinow, „Vaterland“, kommt regelmäßig und singt im Chor gemeinsam mit seiner Frau.

 

Bei einer Begegnung mit Kirchenvertretern am 25. Februar äußerte Leonid Padun, leitender Bischof der charismatischen „Ukrainischen christlichen evangelischen Kirche“ die Hoffnung, daß die traditionelle Bevorzugung der Orthodoxen auf Kosten der Protestanten nun zur Vergangenheit gehört. In einem Bericht am Tag darauf schrieb er: „Alexander Turtschinow unterstützte uns und stimmt mit unseren Wünschen überein.“ Padun schrieb von einer „christlichen Welt“, die 30% der Landesbevölkerung ausmacht – doch diese Zahl läßt sich nur vertreten, wenn orthodoxe und katholische Mitstreiter mitgerechnet werden. Die Bevölkerung der Ukraine beträgt 45 Millionen.

 

Dem neuen Präsidenten ist schon vorgehalten worden, die Vergehen von Oligarchie und Mafia zu verdecken. Beispielsweise wurde er einst vor den Kadi gezerrt unter dem Vorwurf, Unterlagen über Semion Mogilewitsch vernichtet zu haben. Das FBI soll Mogilewitsch, der sich wohl überwiegend in Moskau aufhält, für einen der gefährlichsten Gangster der Welt halten (siehe Wikipedia). Der bereits erwähnte Pawlo Lasarenko verbrachte die Jahre 2006-12 in einem US-Gefängnis - nach einer Verurteilung wegen Geldwäsche, Erpressung und Betrug (siehe unseren Bericht vom 24.5.2013). Doch im genannten „Westi“-Aufsatz versichert Pastor Kunez, es steckten keine Oligarchen hinter der Finanzierung des massiven, neuen Kirchenbaus: „Turtschinow sagt, daß solche Finanzen schmutzig sind.“ Der leise und seriös wirkende Alexander Turtschinow ist wohl finanziell weniger kompromittiert als seine lautstarke und langjährige Mitstreiterin Julia Timoschenko.

 

Dr.phil. William Yoder

Smolensk, den 8. März 2014

 

Journalistische Veröffentlichung Nr. 14-01, 2.457 Wörter