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Die Ukraine hat zwei Hälften

Mitgefühl für die Toten auf beiden Seiten

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Gedanken zur Auseinandersetzung um die Ukraine

 

Kommentar

 

M o s k a u – Man könnte die gegenwärtige Krise in der Ukraine auf ein erhebliches Demokratiedefizit zurückführen. Auf das weisen u.a. die wiederholten Schlägereien in der Staatsduma hin. Und warum konnten die Widerständler auf dem Maidan nicht die nächsten Wahlen abwarten? Sie waren ja für März 2015, dann für Dezember 2014, vorgesehen. War man über das mögliche Wahlergebnis besorgt? In seinem Aufsatz in der „Washington Post“ am 6. März vertritt Henry Kissinger die Auffassung, Ost- und Westukraine hätten es nie verstanden, Kompromisse zu schließen. Bei diesem Konflikt seien die beiden Hauptparteien „niemals bereit gewesen, die Macht zu teilen“. Einmal war die Fraktion Ost oben, dann die Fraktion West. Unter Janukowitsch war die Ost-Ukraine obenauf; doch das machte der Aufstand auf dem Maidan wieder wett. Darauf reagierte der Osten mit der Abspaltung der Krim. So stehen wir nun vor dem nächsten Krisenherd: die Ost-Ukraine.

 

Im „Spiegel“ am 9. März räumt der Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder ein, die Abtrennung der Krim von der Ukraine habe – wie bereits im Falle Kosovo - eindeutig gegen das Völkerrecht verstoßen. Hier handele es sich um eine mehrschichtige Illegalität: Die Machtübernahme durch den „Euromaidan“ war illegal – wie ebenfalls die anschließende Abtrennung der Krim. Ein Unrecht jagte das andere. Ich meine, bei aller Freude auch der gläubigen Russen über die anstehende Heimkehr der Krim dürfen sie keineswegs diese bedauerliche Kette von „Illegalitäten“ vergessen.

 

Dabei darf sich der Westen auch an die eigene Brust schlagen. Darf man eine zutiefst gespaltene Nation dazu auffordern, die eine Hälfte der Nation auf Kosten der anderen Hälfte zu etablieren? Schröder meint in diesem Aufsatz: "Ich frage mich, ob es richtig war, ein kulturell gespaltenes Land wie die Ukraine vor so eine Alternative zu stellen: Assoziierung mit der EU oder Zollabkommen mit Rußland". Erst dieses Entweder-Oder habe den Topf zum Überlaufen gebracht. Nochmals Kissinger: „Jeder Versuch eines Flügels der Ukraine, den anderen Flügel zu dominieren, mußte eventuell zum Bürgerkrieg oder zur Spaltung des Landes führen.“ Kissinger meinte noch Anfang März, die Ukraine solle eine ihr eigene Brückenfunktion zwischen Ost und West übernehmen.

 

Nach 1990 wurde nur das östliche Militärbündnis aufgelöst. Darin liegt der Kern der anhaltenden Spaltung zwischen Ost und West, die nun mit voller Wucht auf die Ukraine durchschlägt. Der Westen hat sich für ein europäisches Sicherheitsnetz gegen – und nicht mit – Rußland entschieden. Das hat Folgen.

 

Ich finde die Erläuterung eines Moskauer Baptisten hilfreich: Er verglich das Verschenken der Krim an die Ukraine am 19. Februar 1954 mit einer modernen Eheschließung, die auf den Ehevertrag verzichtet. In der Anfangsphase verspricht der hoffnungslos verliebte Bräutigam der Braut Himmel und Erde. Doch sobald die Phase Scheidung ansteht, verlangt er die Rückgabe eines Teils seiner Geschenke. Nach manchen Berichten war die Übergabe der Krim einer egoistischen Berechnung Nikita Chruschtschows zu verdanken. Just in dem Monat war der spätere Generalsekretär in einem Machtkampf um die Vorherrschaft im Politbüro verwickelt – durch eine Gefälligkeit gegenüber den Ukrainern erhoffte er sich weitere Zustimmung. Wer hätte damals gedacht, daß 60 Jahre danach eine Scheidung anstünde?

 

Zur politischen Haltung der Protestanten

Auch die versöhnlichen Statements der Führung der Union der ukrainischen Baptisten weisen eine politische Positionierung auf. In einem lesenswerten Beitrag vom 24. Februar von Waleri Antonjuk, einem Vize-Präsidenten dieser Union, heißt es: „Wir unterstützten die Forderung der Nation, der Tyrannei der Verantwortlichen und der Repressionen der Polizei ein Ende zu setzen.“ Diese „Nation“ ist aber geteilt. Die Kiewer Protestanten sagen „Ukraine“, doch eigentlich reden sie nur im Sinne der West- und Zentral-Ukraine. Ein um die Einheit bemühter Mensch sollte anders agieren.

 

Russen haben das Empfinden, West-Ukrainer ließen nur ein Engagement für die eigene Sache gelten. Die Forderungen aus Kiew nach einer Parteinahme seitens der Russen gegen die Regierung Putin erinnern mich an die Lage in der DDR. Der damalige O-Ton West lautete: „Ihr müßt aufbegehren, Ihr müßt gegen die Missetaten eures Staates protestieren!“ O-Antwort Ost: „Was, habt ihr denn selbst keinen Dreck am Stecken? Siehe Hiroshima, Korea, Vietnam, Chile, Nikaragua usw. Läßt uns unsere Angelegenheit selber regeln. Wir wohnen hier und schließlich geht es um unsere Haut – nicht um eure.“

 

Nicht wenige protestantische Artikel in der westlichen Ecke drücken eine Euphorie mit Blick auf die Ernennung von Alexander Turtschinow (Oleksandr Tyrchinov auf Ukrainisch) zum Übergangspräsidenten der Ukraine aus. Turtschinow ist gelegentlicher Laienprediger in einer Kiewer Baptistengemeinde. „Gott ist mächtig am Wirken in der Ukraine“ hieß es z.B. in einem Beitrag der englischsprachigen Ausgabe der Zeitung Billy Grahams, „Entscheidung“, am 6. März. Das sehen die Glaubensgeschwister in Rußland nüchterner: Daß ein Baptist an der Spitze einer (dem Buchstaben nach) illegalen „Putsch“-Regierung steht, die über Rechtsradikale auf mindestens fünf Ministerposten verfügt, macht in Rußland keine positive PR für den Baptismus. Über die längerfristigen Folgen ist die kleine Schar der russischen Baptisten besorgt.

 

Doch sind es wirklich Baptisten und Protestanten, die nun das Zepter führen? In der britischen „Globe and Mail“ vom 8. März begründet Olga Bogomolets, die als Ärztin auf dem Maidan bekannt wurde, den Grund für ihren Abstand gegenüber der neuen Kiewer Regierung. Sie warf der neuen Regierung vor, nur wenige „neue Gesichter“ ins Spiel gebracht zu haben. Turtschinow gehört natürlich zu den „alten Gesichtern“: 20 Jahre lang fungierte er als die rechte Hand der Oligarchin und Politikerin Julia Timoschenko.

 

Mögliche Schritte nach vorne

Gestatten Sie die Prophezeiung eines Nicht-Propheten? Die „Russische Union der Evangeliumschristen-Baptisten“ und die anderen größeren protestantischen Gemeinschaften Rußlands werden sich nicht auf Kosten der Regierung Putin für einen Kiewer Staat stark machen. Das nicht vorranging, weil sie Angst vor Putin hätten, sondern, weil sie keinen moralischen Vorsprung seitens der Kiewer Regierung erkennen. Und dabei sind den Russen die innenpolitischen Schwächen und Verfehlungen des eigenen Staates bestens bekannt.

 

In einer wortreichen Stellungnahme der Außenamts der RUECB vom 13. März (siehe englische Fassung oben) heißt es: „Gott nimmt alle als seine Kinder an. Wir dürfen nicht behaupten, Gott trete für uns und gegen die anderen ein! Gott steht jenseits unserer kleinlichen Neigungen und Vorlieben. Im politischen Bereich ist Gott nicht für uns auf Kosten der anderen.“

 

Kurz um: Trotz der nicht wegzudenkenden widersprüchlichen politischen Einschätzungen ergeben sich dennoch aus dem Einssein in Christus Folgen, die sich im öffentlichen Sektor niederschlagen müssen. Wie könnten ein paar dieser Folgen aussehen?

 

1. Die aufgeheizte Stimmung der Gegenwart bringt eine maßlose Sprache mit sich. Nach einer Meldung der „Christianity Today“ berichtete Turtschinow am 24. Februar von der „beispiellosen Grausamkeit und Brutalität des diktatorischen Regimes“. Soll die Regierung Janukowitsch etwa verwerflicher sein als die von der Roten Khmer? Zurzeit sausen die Faschismusvorwürfe hin und her. Das jüngste Referendumsplakat auf der Krim, etwa „Nazismus oder eine freie Krim“, ist natürlich maßlos. Aber diese Übertreibungen gab es auch auf der anderen Seite der Barrikaden bis nach Washington hin.

 

Eine sprachliche Abrüstung ist gefragt. Nur eine vorsichtige und respektvolle Sprache könnte den Weg in Richtung Frieden bahnen.

 

2. Ein „Putin-Bashing“, ein Niedermachen der Person Wladimir Putins, ist der Sache Christi nicht würdig. Das sagt Henry Kissinger auf seine Weise: „Eine Dämonisierung Wladimir Putins ist keine Politik, sondern nur ein Alibi für deren Fehlen.“ Ex-Kanzler Schröder wird offensichtlich schon deshalb verhöhnt, weil Putin zu seinen Freunden zählt. Doch sollte nicht jeder Christ mindestens ein paar Freunde haben, die bei einem Empfang des Pentagons nicht unbedingt willkommen wären? Das könnte der Sache der Verständigung dienen; über die Schiene Schröder-Putin ließe sich eine Menge Kontakte anbahnen.

 

3. Auf der Webseite der in Wheaton bei Chicago beheimateten “Peter Deyneka Russian Ministries” wird um Spenden für die Hinterbliebenen des 26-jährigen Alexander Chrapatschenko geworben. Bei den Schießereien auf dem Maidan war dieser Baptist aus Rowno bedauerlicherweise ums Leben gekommen.  Doch warum sollte diese Mission nicht gleichzeitig eine Hilfsaktion für die trauernden Hinterbliebenen eines Polizisten starten? Schließlich handelt es sich bei den etwa 90 Toten um bis zu 15 „staatstreue“ Polizisten. Das würde den überparteilichen, friedensstiftenden Charakter des Evangeliums hervorkehren. So könnte diese Mission der Überschrift auf ihrer Seite gerecht werden: „Heilung und Versöhnung in der Ukraine“.

 

Dies würde jedoch eine Kurskorrektur seitens der Mission voraussetzen. Ihr Hauptvertreter vor Ort in der Ukraine, der junge, baptistische Religionsphilosoph Michail Tscherenkow, kämpft im Internet unerbittlich gegen Rußland und für die Sache des EuroMaidans. Will die „Russian Ministries“ nun freiwillig das Feld vor Ort in Rußland räumen? Das wäre sehr zu bedauern, denn die RM hat wichtige Arbeit geleistet u.a. bei der Sammlung der neuen, jungen „evangelikalen Intelligenz“ in der ehemaligen Sowjetunion. Bisher fungierte die Stadt Irpen bei Kiew als „Denkfabrik“ und Zentrum der evangelikal-protestantischen Bewegung. Soll das alles der Vergangenheit angehören? Mir fiele es schwer, sich damit abzufinden.

 

Doch der politisch-strategische Aspekt darf nicht im Vordergrund stehen. Die wichtigere Frage lautet: Wie denkt Gott, und was erwartet er von uns? Im Interview mit der „Entscheidung“ hatte sich Alexander Turtschinow Römer 8,31 bedient: „Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?“ Doch die These der Stellungnahme der RUECB lautet anders: Gott sei überparteilich und stehe jenseits der Schlacht – er kämpfe weder für die West-Ukraine auf Kosten der Ost-Ukraine noch umgekehrt.

 

Klar: Übergangspräsident Turtschinow bedarf des Gebets! Kann er – abgesehen von der Krim – das Land noch zusammenhalten? Kann er dem politischen Vorstoß der Rechtsradikalen standhalten? Er befindet sich in keiner beneidenswerten Lage.

 

Eine Notiz in eigener Sache: Warum mache ich mir die Mühe, relativ politische Kommentare zur jetzigen Lage anzufertigen? Ich werde darum gebeten - die meisten russischen Protestanten werden aus psychologischen, bildungsmäßigen oder sprachlichen Gründen schweigen. Dennoch denken sie sich ihren Teil. Ich möchte, daß die westliche Welt dieses alternative Empfinden zur Kenntnis nimmt. Ich denke, das ist für das weitere Miteinander wichtig. Wir kommen erst voran wenn wir wissen, was wirklich Sache ist.

 

Dr.phil. William Yoder

Moskau, den 18. März 2014

Journalistische Veröffentlichung Nr. 14-02, 1.572 Wörter