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Spannungen zwischen den russischen und ukrainischen Baptisten

Mit den Weinenden weinen

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Ein Wechselbad der Gefühle in der Ukraine und Rußland

 

M o s k a u – Die letzten Wochen brachten ein Wechselbad an Gefühlen mit sich. Nach Vorhersagen, daß der russische Außenminister Sergei Lawrow den Genfer Gesprächen vom 17. April fernbleiben würde – fuhr er hin. Die anschließende Übereinkunft zwischen Ost und West verfügte, daß alle besetzten Gebäude geräumt und alle illegal bewaffneten Gruppen entwaffnet werden. Lawrow versicherte in einem anschließenden Pressegespräch, daß sein Land „keine Truppen in die Ukraine entsenden möchte“. Einige Agenturen feierten das Kommuniqué als „Durchbruch“.

 

Doch früh am 18.4. sprangen mir die ersten beiden Schlagzeilen der englischsprachigen "Kyiv Post" ins Auge: „Der Terrorismus des Kreml“ und „Der Zehn-Punkte-Plan Putins zur Vernichtung der Ukraine“. Offensichtlich gibt es Kreise, die daran interessiert sind, die Spannungen nicht versickern zu lassen. Beide Artikel sind erst nach der Genfer Vereinbarung veröffentlicht worden.

 

Die protestantische Szene ist dem gleichen Wechselbad unterworfen. Eine Begegnung mit Kommuniqué zwischen den baptistischen Unionen von Rußland und der Ukraine in Kiew am 8. April wurde hinterher als euphorisch und „fantastisch“ beschrieben. Nur zwei Tage später erlitt eine viel größere Begegnung protestantischer Kirchenleiter aus Rußland und der Ukraine auf dem visafreien und neutralen Territorium Israels eine regelrechte Bauchlandung. Am 15. April berichtete Eduard Grabowenko (Perm), leitender Bischof der traditionell-pfingstlerischen „Russischen Kirche der Christen evangelischen Glaubens“ von „Schmerz, Leid und Groll. Ich kehrte mit einem betrübten Herzen nach Hause zurück.“ Ein Abschlußkommuniqué gab es nicht. Am 17. April erläuterte der Pressesprecher von Sergei Rjachowski, dem Leiter der „Vereinigten Russischen Union der Christen Evangelisch-Pfingstlerischen Glaubens“ (ROSChWE): „Das Treffen in Israel war äußerst kompliziert. In manchen Fällen muß man einfach schweigen.“ Der Unterschied könnte darin bestehen, daß man sich in Kiew gegenseitig die eigenen Sünden bekannt hatte. In Israel hingegen ging es eher darum, Buße der jeweils anderen Seite abzuverlangen. Es war ferner ungewöhnlich, daß ausgerechnet Rjachowski die Versöhnungsdelegation anführte. Er ist als der vehementeste protestantische Verfechter der Kremlschen Außenpolitik bekannt.

 

Nur der Kiewer Wjatscheslaw Nesteruk, Oberhaupt der größten baptistischen Union in der Ukraine, war sowohl in Kiew als auch in Israel dabei. Das hängt damit zusammen, daß die Protestanten Rußlands keine einheitliche Front bilden. Die Baptistenunion Rußlands wies einfach darauf hin, daß sie nicht nach Israel eingeladen worden sei. Doch Lutheraner, Methodisten und Presbyterianer hatten ebenfalls keine Reise nach Israel angetreten.

 

Einmal wieder: ein politischer Kommentar

Der 92-jährige Außenpolitiker Egon Bahr erzählte einer Heidelberger Schulklasse im vergangenen Dezember: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“ Ich habe ebenfalls den Eindruck, daß ökonomische und strategische Interessen die treibende Kraft hinter dem Kampf um die Ukraine sind. Ein ukrainisch-russischer Baptist wie Michail Tscherenkow mag von einer kommenden „Integration in den zivilisierten Raum“ und einem Kampf gegen die Korruption berichten, doch die wichtigeren Gründe sind viel banaler. Das arbeitende Volk in der Ukraine - und Moldawien – verfügt bereits über Rede-, Versammlungs- und Glaubensfreiheit. Was noch fehlt, ist der westliche Lebensstandard.

 

Doch lassen sich die Ausmaße des Füllhorns beliebig ausweiten? Mehrere Studien konstatieren, daß ein weltweiter Verbrauch an Gütern und Energie wie ihn die USA pflegt, bis zu sieben erdgroße Planeten erfordern würde. Ein weltweiter Verbrauch im westeuropäischen Umfang – nur vier. Die Erde würde ihre Existenz einbüßen, wenn alle Staaten westliche Verbrauchsraten aufwiesen. Das eigene Land in ein begrenztes Füllhorn einzwängen zu wollen ist ein sehr verständliches – aber auch egoistisches und oberflächliches – Unterfangen. Sich selbst auf die Arche quetschen und dort die Sintflut abwarten – kein christliches Vorhaben.

 

Die Kirchen müssen bescheidene, nachhaltige Entwicklungsmodelle fördern, die allen Menschen eine Überlebenschance bieten. Ist denn die Armut ein größeres Problem als der Reichtum? Die Welt bedarf eines Wirtschaftswachstums, das bestimmte Völker nicht noch ärmer macht.

 

Die Einschätzungen taumeln zwischen null und hundert: Manche Kommentatoren beschreiben Rußland als sehr schwach, andere als sehr aggressiv. Der wortgewaltige Yale-Professor Timothy Snyder schrieb kürzlich in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung": „In der Ukraine können die Menschen auf Russisch sagen, was sie wollen; in Rußland selbst können sie das nicht.“ Das hinterläßt ein ulkiges Gefühl bei all jenen, die auch innerhalb der Grenzen Rußlands ihre Meinung kundtun. Man denke z.B. an die vehement anti-Putinschen Kommentare des ehemaligen Baptistenpräsidenten Juri Sipko auf der „Portal-Credo“-Webseite.

 

Wie kommen Westler und Ukrainer zu der Feststellung, daß Russen keinen Zugang zu alternativen Informationsquellen hätten – haben sie etwa kein Internet? Bei meinen Vorträgen in Deutschland wird mir immer wieder gesagt, ich würde unbekannte Ansichten und Informationen liefern, die anders und alternativ seien. Doch in welcher Weise sollten meine Informationen etwa zur Ukraine „anders“ und „alternativ“ seien, wenn der Westler stets über die gegensätzlichen Positionen im Bilde ist? Im gespaltenen Deutschland waren die DDR-Bürger nicht selten besser informiert als ihr westliches Gegenüber.

 

Eine Botschafterin der politischen Inkorrektheit ist die Großherzogin Maria Wladimirowna Romanowa, die ein wenig angezweifelte Erbin zum Thron des russischen Zaren. (Sie kam 1953 in Madrid auf die Welt.) Bei einem Interview mit “Interfax” am 20. März meinte sie: “Die Krim wurde 1954 in einer völlig willkürlichen Art und Weise von einem totalitären Regime in die Ukrainische Sowjetische Sozialistische Republik entlassen. Dabei wurden die Menschen auf der Krim nicht nach ihrer Meinung gefragt. Doch heute ist es genauso falsch, die Krim in gleicher Weise in Rußland neu zu integrieren. Ein ungesetzlicher Akt wird nicht durch einen zweiten ungesetzlichen Akt – oder durch Gewalt – wettgemacht. . . . Ich teile die Begeisterung der Völker Rußlands und der Krim über die neugewonnene Einheit. Aber gleichzeitig verstehe ich den Frust und die Enttäuschung der Menschen in der Ukraine – sie tun mir leid. Meine Gefühle lassen sich am besten durch den Heiligen Apostel Paulus ausdrücken: ‚Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden‘.“ (Römer 12,15)

 

„Die Ukraine ist die Wiege des russischen Staates. Keine politischen Kräfte können jemals die genetische, geistliche und kulturelle Verwandtschaft zerstören, die unsere Völker miteinander verbindet . . . . Man kann auf jeden Fall den Beitritt der Krim zu Rußland nicht als einen ‚Sieg Rußlands über die Ukraine‘ auslegen. Ein ‚Besiegen‘ der eigenen Brüder und Schwestern kann nur in einer Niederlage enden.“ (Siehe “www.imperialhouse.ru”)

 

Mein Kommentar: Wenn eine Russin (sogar eine Großherzogin) die Meinung äußert, daß Ukrainer und Russen ein einziges Volk bzw. zwei engverbundene Völker darstellen, wird das in der Ukraine als Imperialismus empfunden. Doch in Rußland gilt das als freundliches und offensichtliches Faktum.

Übrigens
Ist jemandem bereits aufgefallen, daß sich die russische Orthodoxie bezüglich der Ukraine in Zurückhaltung übt? Das legt sie auch den protestantischen Denominationen nahe. Bei den Feierlichkeiten zur Wiedereingliederung der Krim glänzte Patriarch Kirill durch Abwesenheit. Das Moskauer Patriarchat bleibt die größte Kirche der Ukraine und das Patriarchat ist darum bemüht, seine Brücken nicht voreilig abzureißen. In der protestantischen Ecke verfügen Methodisten und Adventisten, Hillsong und die charismatische Kirche des Rick Renner u.a. über grenzübergreifende Strukturen. Ihre bescheidene Größe hat ihnen bisher das Rampenlicht erspart.


Witali Wlasenko, der Leiter für kirchliche Außenbeziehungen bei der Union der russischen Baptisten, berichtet, die Krim verfüge über 68 Gemeinden, die der großen in Kiew beheimateten Union des Wjatscheslaw Nesteruk angehören. Wlasenko, der bei der Kiewer Begegnung am 8. April dabei war, versichert, die Krimer Gemeinden hätten seitens der Moskauer Union volle Freiheit, weiterhin der Kiewer Union anzugehören. Doch gleichzeitig könnten die politischen Bedingungen einen Wechsel zur Moskauer Union unvermeidlich machen.

 

Dr.phil. William Yoder

Smolensk, den 21. April 2014

 

Journalistische Veröffentlichung Nr. 14-05, 1.190 Wörter