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Richtlinien für ein Gespräch

Richtlinien für das kirchliche Gespräch zwischen Rußland und der Ukraine

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Eine US-amerikanische Sicht aus Moskau

 

Kommentar

 

M o s k a u -- 1. Wir sind aufgerufen, auf drastische, überzogene und unhistorische Aussagen zu verzichten. Der Baptist Alexander Turtschinow ist nicht Martin Luther King, und Wiktor Janukowitsch ist kein Hitler. Bedenklich sind die faschistischen Elemente innerhalb der gegenwärtigen ukrainischen Regierung, aber es gibt auch extremistische Strömungen der Kosaken im Raum Donbass. Doch Poroschenko ist kein Hitler und Putin ist kein Stalin. Die politische Notlage, von der Dietrich Bonhoeffer im Zweiten Weltkrieg sprach (die Notwendigkeit des Tyrannenmords), ist in der jüngsten ukrainischen und russischen Geschichte nicht vorgekommen.

 

Wir werden darauf verzichten, die Verfechter der anderen Seite mit üblen Bezeichnungen zu geißeln: Die Soldaten der Ostukraine sind im Allgemeinen keine „Terroristen“, und jene vom Westen her sind im Allgemeinen keine „Faschisten“.

 

Die Beteuerung, wir werden für unser Land “bis zum Ende” („do konza“) einstehen, ist eine leere Phrase. Wo befindet sich dieses „Ende“? Keiner von uns will die Erde in einen Aschehaufen verwandeln – das wäre das logische, ultimative „Ende“.

 

2. Die Ansichten der Andersdenkenden werden als legitim akzeptiert. Er/sie ist nicht bezahlt, erkauft oder eingeschüchtert. Sie glauben wirklich an das, was sie vertreten. Wir werden uns hüten, der Gegenseite üble Motive zu unterstellen. Wir können ihnen nicht ins Herz schauen – das kann eigentlich nur Gott. Oftmals verstehen wir nicht einmal die Ursachen der Ansichten, die wir selber vertreten.

 

Wir werden uns Mühe geben, die Logik der anderen Seite zu begreifen. Wie wirken sich meine Aussagen auf die Gläubigen aus, die sich auf der anderen Seite der Barrikaden befinden? Die politischen Meinungsäußerungen von Kirchenvertretern können ernsthafte Folgen für die „Glaubensgeschwister“ auf der anderen Seite haben.

 

3. Prowestliche, ukrainische Protestanten haben ihre Positionen mit dem Hinweis begründet, daß sie sich „mit ihrem Volk“ solidarisieren müssen. In welcher Weise ist eine solche Aussage von Belang? Will man damit sagen, daß die russische Kirche nicht „mit ihrem Volk“ sein darf?

 

Die Gläubigen der Ukraine sind aufgerufen, loyale, gesetzestreue und ehrenwerte Bürger zu sein. Sie sollen dem Staat ihre positiven Absichten und ihren Wunsch, im Sinne des Gemeinwohls zu wirken, unter Beweis stellen. Das Gleiche gilt in Rußland – das sollten beide Seiten anerkennen. Man kann nicht erwarten, daß russische Bürger für die Sache der Kiewer Regierung eintreten – oder umgekehrt.

 

Russen werden im Allgemeinen die eigene Regierung nicht als Aggressor geißeln und den Umsturz auf dem Maidan nicht gutheißen. Und sie werden sich nicht aus Angst so verhalten, sondern weil sie keine überzeugenden Indizien dafür sehen, daß Rußland der einzige Aggressor sei.

 

Gleichzeitig müssen Russen erkennen, daß die Mehrheit der Ukrainer für einen prowestlichen Kurs votiert hat, der eine Trennung von Rußland in Kauf nimmt. Russen können nicht erwarten, daß die Gläubigen in der Ukraine den Westen verurteilen. Solche Entscheidungen müssen die Ukrainer selbst treffen.

 

4. Eine völlig unpolitische Kirche ist ein Ding der Unmöglichkeit. Das wollten die Protestanten der UdSSR sein, doch der Staat hat ihnen immer wieder politische Stellungnahmen abgenötigt. Eine politisch abstinente Kirche kann nur als Sekte am äußersten Rande der Gesellschaft überleben. Der reformierte, deutsche Bundespräsident Gustav Heinemann (1899-1976) wies auf einen besseren Weg hin: „Möglichst vielfältig hinein in die Politik!“ (abgesehen von den extremistischen Flügeln). In der politischen Vielfalt liegt der Schutz der Kirche. So läßt sich die politische Unabhängigkeit der Kirche am besten belegen.

 

5. Die Kirchen weisen auf die allgemeine Richtung hin – die Details überläßt sie den einzelnen Bürgern. Kirchen treten für den Frieden und die Liebe zu allen Hautfarben, Ethnizitäten und Kulturen ein. Sie streiten für Familienwerte und die Glaubensfreiheit. In welchem Maß sind die USA oder Rußland am gegenwärtigen Krieg in der Ostukraine schuldig? Die Christen dürfen und sollten ihre Meinungen äußern - und dabei unterstreichen, daß sie nicht im Namen ihrer Kirche sprechen. Die Krim ist im Wesentlichen eine Detailfrage. Die Kirchen sollten sich nicht so oder so positionieren – das dürfen deren Glieder aber durchaus. Die Kirchen reden anders als Individuen.

 

6. Die Politik besteht aus einer endlosen Kette von Reaktionen. Welche Ursache hat die gegenwärtige Auseinandersetzung in der Ukraine? Läßt sie sich auf die Übernahme der Krim 2014, den Maidan 2013 oder die hitzigen Diskussionen über den „Holodomor“ (die Hungersnot) zurückführen? Oder geht es eher auf Stepan Bandera in den Vierziger Jahren oder den Bürgerkrieg in den Zwanzigern zurück? Die Feststellung einseitiger Schuld ist problematisch.

 

7. Der emeritierte, 92-jährige Politiker Egon Bahr wies kürzlich darauf hin, daß die Staaten selten von edlen Idealen bestimmt seien - sie seien stattdessen von Eigeninteresse getrieben. „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten.“ Christen dürfen auf dem Teppich bleiben; die revolutionäre Leidenschaft hat ihre Tücken.

 

755 Wörter

 

Übrigens - Oslo

 

Ein offizielles Gespräch zwischen Vertretern der protestantischen Kirchen der Ukraine und Rußlands ist für den 9. September in Oslo vorgesehen. Im Gegensatz zum ersten, eigentlich erfolglosen Versuch in Jerusalem am 10. April wird die baptistische Union Rußlands dieses Mal (vertreten durch Witali Wlasenko) mit von der Partie sein. Organisator der Begegnung auf russischer Seite ist der Moskauer „Konsultativrat der Leiter der protestantischen Kirchen Rußlands“.

 

Alexander Dworkin – ein Opfer von Hackern

 

Prof. Alexander Dworkin (Moskau), der bekannteste und umstrittenste Sektenkundler Rußlands, berichtete dem Verfasser am 24. August, daß er von Hackern heimgesucht worden sei. Hin und wieder verstreut die anonyme Adresse “info@about-dvorkin.ru” Meldungen nahezu täglich. Der orthodoxe Gelehrte erläuterte: „Im Jahre 1974 war ich noch Hippie und damals beriefen sich viele von uns auf eine vermeintliche psychische Labilität, um der Wehrpflicht zu entkommen.“ Nach einem Monat in einer psychiatrischen Anstalt (die damals gängige Praxis) wurde er als wehrmäßig untauglich eingestuft. Nahezu alle „Enthüllungen“ der Hacker stammen aus diesem Krankenhausaufenthalt. Jemand hatte sich illegal Zugang zu diesen Dokumenten verschafft und manche verfälscht. Dworkin ist 1977 auf dem Umweg über Italien in die USA ausgewandert.

 

Diese Angriffe setzten im vergangenen April ein. Die gehackten Adressenlisten ermöglichten den Tätern, alle Menschen anzumailen, die mit Dworkin in Kontakt stehen. Mehrere anonyme „Anti-Dworkin-Sites“ mit den neuesten „Enthüllungen“ sind aufgetaucht. Mehr als 30 Zeitungen und Journale und Dutzende von Webseiten haben Artikel mit teils gefälschten Angaben veröffentlicht. Dworkin hält Scientologen für die Schuldigen. Ihm fällt ferner auf, daß sich auch russische Pfingstler und Hare Krischna über soziale Netzwerke an der Verbreitung beteiligen. Zum Druck gehören auch anonyme Mails, die dem 59-jährigen mit weiteren Veröffentlichungen drohen, falls er sich nicht „rasch und leise berenten läßt“. Er wird ständig gestört durch Anrufe von Unbekannten, die sich als „Journalisten“ ausgeben. „Ich habe im Wesentlichen beschlossen, auf diese Attacken nicht zu reagieren“, sagte der Professor. Einige wenige Angaben sind allerdings auf seiner Webseite („“iriney.ru”) erschienen.

 

Eine Auffassung, die nicht nur der Verfasser vertritt: Ein solches Treiben ist sowohl illegal wie unmoralisch. Zu derartigen Mitteln dürfen die Anhänger Christi, auch wenn sie sich Dworkins theologischen Auffassungen widersetzen, nicht greifen.

 

In weiteren Gesprächen ließ Alexander Dworkin wissen, daß er dem Stereotyp eines überzeugten russischen Nationalisten nicht entspricht. Er beschrieb sich selbst als einen „liberalen Konservativen“, der sich eher um die Kirche als um die Politik kümmert. Er versicherte, er wäre verrückt, würde er sich auf eine Mitarbeit in der nationalistischen, von Wladimir Schirinowski geführten „Liberal-Demokratischen Partei Rußlands“ einlassen. Dworkin beschreibt Alexander Prochanow, Chefredakteur der nationalistischen Wochenzeitung “Sawtra” als “mystischen Stalinisten” mit einer nur nominellen Verbindung zur Orthodoxie. (Der Bruder des Großvaters von Prochanow war Iwan Prochanow (1869-1935), ein Gründer der evangeliumschristlichen und baptistischen Bewegung in Rußland.)

 

Dworkin bezeichnet sich selbst als Monarchisten im theoretischen Sinne. „Ich halte jede Staatsform im Grunde für verwerflich, doch das größte Übel in einer gefallenen Welt ist das Fehlen jeglicher Regierung. Ich bin überzeugt, daß unter allen Regierungsformen die vererbbare Monarchie die am wenigsten verwerfliche ist. Doch Umstände verändern sich und einiges aus der Vergangenheit läßt sich nicht wiederherstellen. Es wäre utopisch, von einer Wiederkehr der russischen Monarchie zu träumen.“

 

Er insistierte, daß sich ein Großteil der russischen Medien weiterhin in den Händen von Liberalen befindet. Er hat aber auch vehemente Vorbehalte gegenüber Pfingstlern und Charismatikern und meint, die Zukunft der russischen Protestanten wäre sicherer, wenn sie sich von der – wie er sagt – „neo-pfingstlerischen Bewegung“ distanzieren würden.

 

Das Moskauer Patriarchat als Vermittler

 

Entwicklungen weisen darauf hin, daß die “Ukrainische Orthodoxe Kirche – Moskauer Patriarchat” womöglich am ehesten über die Kapazität verfügt, zwischen den sich bekriegenden Fraktionen in Kiew und Moskau zu vermitteln. Am 21. August berichtete „Neues Deutschland“, Metropolit Onufri (Beresowski) habe über seinen Pressesprecher verlauten lassen: „Als ukrainische Bürger denken wir über die Situation mit der Krim genauso wie unsere Regierung und die ganze Weltgemeinschaft: Die Krim ist Territorium der Ukraine und muß in den Bestand des ukrainischen Staates zurückgeführt werden.“ Nur wenige Tage zuvor, am 13. August, war Onufri als der neue „Metropolit von Kiew und der gesamten Ukraine“ inthronisiert worden. Er ist Nachfolger des verstorbenen Metropoliten Wladimir. Seine Kirche, die rund die Hälfte aller ukrainischen Orthodoxen umfaßt, ist weiterhin dem Moskauer Patriarchat und seinem Patriarchen, Kirill, untergeordnet.

 

Wir berichteten am 21. April, daß sich die russische Orthodoxie bezüglich der Ukraine in Zurückhaltung übt. Bei den Feierlichkeiten mit einer Rede Putins zur Wiedereingliederung der Krim am 18. März glänzte Patriarch Kirill durch Abwesenheit. Die Kirchen dieser Konfession auf der Krim werden weiterhin durch den Kiewer Metropoliten vertreten.

 

Von den drei großen orthodoxen Konfessionen in der Ukraine verfügt nur diese über einen kanonischen Status und wird von der gesamten orthodoxen Weltgemeinschaft anerkannt. Die viel kleinere, 1992 gegründete “Ukrainische Orthodoxe Kirche – Kiewer Patriarchat” sowie die 1921 gegründete “Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche” sind politisch eindeutig prowestlich festgelegt. Das gleiche gilt für die 1596-gegründete „Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche“, die auf den Vatikan hört und nur in der Westukraine stark vertreten ist. Diese letzte Kirche verfügt über herzliche Beziehungen zu den Baptisten des Landes.

 

Humanitäre Bemühungen in der Ukraine

 

Berichten zufolge übersteigt die Zahl der Menschen aus der umkämpften Ostukraine, die ostwärts Richtung Rußland fliehen, jene, die gen Westen fliehen, um 20-40%. Doch scheinen jene, die ostwärts fliehen, stärker vom gastgebenden Staat unterstützt zu werden. Für Behausung, Nahrung und medizinische Versorgung wird gesorgt. Flüchtlinge bekommen kostenlose Fahr- oder Flugkarten, die sie zwecks Wohnung und Arbeit aus dem Grenzgebiet bringen. Manche Ukrainer werden sogar in Zentralsibirien untergebracht. Baptisten aus den Gebieten von Rostow und Brjansk sowie Belarus haben sich in den russischen Zeltlagern im Grenzgebiet vor allem um die Betreuung von Kindern bemüht.

 

Auf der ukrainischen Seite der Grenze sind nordamerikanische Mennoniten u.a. humanitär engagiert. Ihr Büro befindet sich im Raum Saporosche. Siehe: https://www.facebook.com/pages/Mennonite-Centre-Ukraine/735361069838076“. Die Initiative eines deutschen Baptisten, Heinrich Becker, scheint vom Westen her Zugang zur umkämpften Stadt Donezk bekommen zu haben. Seine Organisation „Hoffnungsträger Ost e.V.” ist in Darmstadt beheimatet; siehe: „www.Hoffnungstraeger-Ost.de“. Der deutsche Baptistenbund in Elstal bei Berlin verfügt über einen direkten Kontakt zu der Baptistenzentrale in Kiew.

 

Zweifellos verdienen humanitäre Bemühungen um die Ukraine handfeste Unterstützung durch die evangelische Welt.

 

Dr.phil. William Yoder

Smolensk, den 2. September 2014

 

Eine journalistische Veröffentlichung im Rahmen der Russischen Evangelischen Allianz. Sie will informieren und erhebt nicht den Anspruch, eine offizielle Meinung der Allianz-Leitung zu vertreten. Diese Meldung darf gebührenfrei abgedruckt werden, wenn die Quelle angegeben wird. Meldung Nr. 14-10, 1.757 Wörter.