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Rußland ist konservativ

Marxistisch ist nur noch der Westen

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Über den konservativen Aufbruch in Rußland

 

S m o l e n s k – Mit ihren Berichten im öffentlichen Rundfunk Dänemarks über die konservative Bewegung Rußlands sorgte die Journalistin und Theologin Iben Thranholm für Aufsehen (siehe: “http://russia-insider.com/en/russia-and-west-have-swapped-spiritual-and-cultural-roles/ri9514”). Eine typische Aussage lautete: „Während der Westen das Christentum verhöhnt und sich Europa seiner Selbstverachtung frönt, kehren die Russen zum Christentum zurück.“ In Rußland „gilt das Christentum als modern und progressiv. Es entspricht dem Geist der Jugend, der Flotten, der Weisen und Wohlhabenden.“

 

Der orthodoxe Glaube gehört zum Kern dieses konservativen Aufbruchs. Die britische Autorin Lesley Chamberlain fügt hinzu, daß Rußlands Herrschaft keineswegs auf Wladimir Putin reduziert werden darf. „Die Macht, die Rußland beherrscht, heißt Tradition“, folgert sie. „Die überwältigende Mehrheit der Russen, vielleicht 80 Prozent, ist zutiefst konservativ.

 

Gemäß dieser beiden konservativen Denker feiert die einst christliche Kultur Europas den eigenen Niedergang. Nach Thranholm werten Russen die Aktivisten von „P*-Riot“ (wir verzichten auf den vulgären Namen) als zeitgenössische Bolschewiki, als Bilderstürmer, die sich der Zerstörung von Tradition erfreuen. Wie die Bolschewiki von einst, suchen sie ihr Heil in der Vernichtung des historischen Erbes. Der Moskauer Professor Oleg Matweitschew beschreibt den westlichen Liberalismus als eine versuchte “Selbstemanzipierung von den Ketten der Vergangenheit und der schweren Bürde der Tradition“. An anderer Stelle heißt es, der Liberalismus feiere im Namen der Redefreiheit Dekadenz und Blasphemie. Man denkt an die Pariser Zeitschrift „Charlie Hebdo“, die ihre Verhöhnung sowohl gegen die christliche wie die muslimische Tradition richtete.

 

Reaktionen auf das Einsperren von drei Mitgliedern der P*-Riot 2012 führten das kulturelle Gefälle zwischen dem östlichen und westlichen Europa deutlich vor Augen. Die Nominierung der Gruppe für den deutschen „Martin-Luther-Preis“ ließ die meisten Russen sprachlos: Wie können Christen jene feiern, die am meisten zur Zerstörung des christlichen Erbes beitragen?

 

Bolschewiki sowie die Liberalen von heute mögen soziale Experimente. Dazu gehört natürlich die Aushebelung der zweigeschlechtlichen Einehe aus der christlichen Vergangenheit. Der westliche Liberalismus tritt für die Zulassung der Abtreibung, Euthanasie, Selbständigkeit, Eigenständigkeit, die offene Gesellschaft und die Freiheit der Wahl ein. Karriere rangiert weit vor Nachwuchs auf der Bedeutungsskala.

 

Prorussische Konservative behaupten, der Westen habe sich einem – allerdings diffusen – “kulturellen Marxismus” verschrieben. Nach dieser Lesart haben sich die Seiten auf eine unglaubliche Art und Weise verkehrt: Nun dient eine einst atheistische Weltmacht als Hauptsäule des christlichen Erbes in Europa. Dabei zitiert Thranholm den Patriarchen Kirill: „Geht nicht den Weg, den wir gegangen sind. Wir haben ihn betreten, und er führt ins Verderben!“

 

Das vielfältige Gesicht des russischen Konservativismus

Im vergangenen Juni, nach dem Besuch einer Konferenz russischer Konservativer in Kaliningrad, wies Paul Grenier in “The American Conservative” auf die Vielfalt der Bewegung hin. Der „linke Konservativismus“ Rußlands z.B. widersetzt sich der Reduzierung des Konservativismus auf ein Streben nach herkömmlichen Familienwerten, das die ökonomische Gerechtigkeit außen vor läßt. 

 

In diesem Aufsatz beklagt er, daß der antiwestliche „Eurasianismus“ eines Alexander Dugin die gesamte Aufmerksamkeit der Westmedien auf sich zieht. Laut Grenier sei der Eurasianismus nicht einmal die einzige konservative Denkschule, die von einer Größe der russischen Nation schwärmt. Andere Denker weisen darauf hin, daß China und Rußland – die beiden Standbeine der eurasiatischen Bewegung – keine natürlichen Verbündeten sind. Rußland sei eine „Unterteilung“ Europas, seine Kultur weit von jener Zentral- und Ostasiens entfernt. Die russisch-chinesische Annäherung sei deshalb das Ergebnis eines politischen Opportunismus, wenngleich dieser Notbehelf womöglich von nicht geringer Dauer sein wird. Angesichts der Ouvertüren Putins gegenüber der NATO vor 15 Jahren läßt sich der gegenwärtige eurasiastische Kurs nur als ein Plan B – und eben nicht als ein Plan A – einstufen.

 

Könnte es sein, Dugin habe einfach als willkommenes Schreckgespenst herhalten müssen für jene westlichen Medien, die den russischen Konservativismus dämonisieren wollten? Insider teilen mir mit, daß Dugin und Putin einander noch nie begegnet sind. Putin hört auf andere konservative Denker.

 

Paul Grenier folgert: “Es gibt die Versuchung, den russischen Konservativismus stets als etwas immanent Bedrohliches darzustellen. Doch das Nachsehen haben dann wir. . . . Rußland kann einen Beitrag dazu leisten, das Problem zu lösen, mit dem wir alle konfrontiert sind. Wie kann man eine sanftere Form der westlichen Modernität entwickeln, die gleichzeitig das Wertvollste an der liberalen Tradition beibehält?“ Alexander Schipkow berichtet von einem “neuen Modernismus, der auf christlicher Politik basiert“. Grenier sagt auch: „Der russische Konservativismus ist, wie auch Rußland selbst, eine widersprüchliche Anhäufung von Fehlern und Tugenden. Beide, sowohl die Fehler wie die Tugenden, sind von beachtlicher Größe.“

 

Grenier fügt hinzu, daß Rußland “über ein viel größeres Maß an Redefreiheit verfügt, das man ihr üblicherweise einräumt“. Die russischen Teilnehmer in Kaliningrad „zeigten eine mutige Vorstellungskraft und eine Vielfalt und Tiefe an Gedankengängen bezüglich der Zukunft ihres Landes, die der politische Diskurs in den USA längst nicht immer aufweist.“ Da würde ich hinzufügen, daß sich die Russen im Allgemeinen nicht unterdrückt fühlen. Dafür braucht man nur die öffentliche Diskussion – mehr als nur das Hin und Her im Internet – zu verfolgen.

 

In spannungsreichen Zeiten läßt sich die Herausforderung, die der russische Konservativismus darstellt, leicht überzeichnen. Vor 10 Tagen lachte ganz Rußland, als zwei fünfjährige Burschen auf der Suche nach dem fetten Leben aus ihrem Kindergarten in Magnitogorsk/Ural ausbrachen. Da sie einen Jaguar als geeignetes Fluchtauto ausgewählt hatten, marschierten sie wenige Kilometer zum nächstliegenden Autohändler. Doch statt auf die Bestellung einzugehen, brachte die Verkäuferin das mittellose Duo zur Polizei.

 

Artikel, die vor dem Konservativismus und Revanchismus warnen, übersehen die Tatsache, daß die Emissäre Hollywoods mit ihrer wirksamen Mixtur von auffälligem Konsum und Dekadenz das erfolgreichste Missionsvorhaben der letzten Jahrhunderte darstellen. Die Belege beschränken sich nicht auf Fünfjährige. Bares und Sand, London und die französische Côte d’Azur wählen jene Russen, die noch immer über eine tatsächliche Wahl verfügen.

 

Hierzulande genießt die Orthodoxie einen guten Ruf, und es gehört zum guten Ton, religiös zu sein. Doch der häufige Kirchgang bleibt eine Seltenheit. Die säkularen und religiösen Patrioten bilden noch keine geschlossene Mannschaft. Die überwältigende Mehrheit der KP-Mitglieder (zwei Drittel) gehört eben nicht zur orthodoxen Kirche. Der Materialismus ist noch nicht überwunden.

 

Wo stecken die Evangelikalen?

Prowestliche Evangelikale in der Ukraine (und Moldawien) betonen ihre Ergebenheit gegenüber den „europäischen“ Werten. Manche zeigen sogar Interesse am Wirken von liberalen „neocon“-Denkern wie Masha Gessen und Timothy Snyder. Doch deren Zuneigung ist im Wesentlichen auf geopolitische Überlegungen zurückzuführen. Die Evangelikalen unter den Ukrainern sind eindeutig nur mit den Evangelikalen und Fundamentalisten des Westens liiert, die selbst quer zur vorherrschenden liberalen Ordnung stehen. Ukrainer mögen die westliche Glaubensfreiheit sowie den Kampf des Westens gegen die staatliche Korruption. Das trifft aber auch für die russischen Glaubensgeschwister zu. Schließlich verfügen russische und ukrainische Evangelikale über dieselben Verbündeten im Westen. Unterschiede bestehen: Ukrainer sind stärker als die Russen in Politik und Militär involviert. Doch im Wesentlichen unterscheiden sich die beiden Parteien nur in den mondänen Fragen der Geopolitik.

 

Mein Kommentar: Ich habe Bauchschmerzen hinsichtlich einer Idealisierung des westlichen, christlichen Erbes, denn sie bagatellisiert seine langen kolonialistischen und absolutistischen Ären. Dennoch sollte diese russische Bewegung ernstgenommen und nicht dämonisiert werden. Ein gutes Urteilsvermögen ist gefragt.

 

Dr. phil. William Yoder
Smolensk, den 16. September 2015

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