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Franklin Graham in Rußland

Gott: Groß genug, um uns beide zu ertragen

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Ein Kommentar über den Besuch Franklin Grahams in Moskau      

 

M o s k a u – Der Besuch Billy Grahams in der russischen Hauptstadt vom 28. Oktober bis 1. November war zweifellos der „politisch-inkorrekteste“ Besuch eines westlichen Kirchenvertreters in Osteuropa seit Jahrzehnten. Eine Vorahnung von dem, was auf den Westen zukommen würde, kam auf, als Graham bereits am Anfang versicherte, für Wladiimr Putin zu beten. Graham, Der Vorsitzender der “Billy Graham Evangelistic Association” hatte nur einmal – 1984 - gemeinsam mit seinem berühmten Vater Rußland besucht. Franklin hielt allerdings Evangelisation im Juli 2007 und Juni 2014 in der Ukraine ab.

 

Ukrainische Baptisten hatten die “Russische Union der Evangeliumschristen-Baptisten” dafür kritisiert, am 30. Mai 2014 eine Stellungnahme veröffentlicht zu haben, die dem geschiedenen russischen Staatsführer dafür dankte, „die geistlich-sittlichen Werte zu schützen und zu verstärken“. Graham wiederholte dieses Vergehen bei seinem Gespräch mit der Leitung der RUECB am 28., Oktober mit der Feststellung, Putin verteidige die biblischen Werte „gegen die Attacken des Säkularismus“. Anhand seiner Moskauer Aussagen sieht Graham in Putin ein Hauptverteidiger des historischen, christlichen Glaubens. Barack Obama hingegen sei „ohne christliche Weltanschauung“ und „verteidige den Atheismus“.

 

Die führenden Medien – die “Washington Post” z.B. – haben Putin wiederholt als “Faschist” bezeichnet. Doch Graham ließ in Moskau wissen, daß sogar Millionen von einfachen US-Bürgern es begrüßen würden, wenn sich Wladimir Putin um das Amt des US-Präsidenten bemühte. Gott habe Putin mit der Weisheit ausgestattet, die er „bei der Führung eines gewaltigen Landes, das von Gott gesegnet worden ist“, benötigt. Graham traf sich mit Putin für 45 Minuten im Laufe des Moskauer Aufenthaltes.

 

Kirill, Patriarch der größten orthodoxen Gemeinschaft der Welt, der “Russischen Orthodoxen Kirche – Moskauer Patriarchat“, ist ein weiterer „Lieblingsfeind“ jener Christen, die zur von Maidan geführten Ukraine stehen. Doch Graham dankte bei deren Begegnung am 28. Oktober der Kirche des Patriarchen für ihre „starke Stimme bei der Verteidigung moralischer Werte“. Im globalen Kontext sei ihre Stimme „äußerst wichtig“. Graham versicherte, die geistliche Erneuerung Rußlands habe „sein Herz gewärmt“. Er betonte ferne den „besonderen Charakter“ der Beziehung zwischen seiner Organisation und der ROK. Im Frühjahr hatten sie gemeinsam humanitäre Projekte für Flüchtlingen aus der umkämpften Ostukraine durchgeführt.

 

Grahams langjähriger Widerstand gegen die Staatsführung Obamas ließe sich als eine enge, auf ein einziges Thema beschränkte Politik abtun, denn er hat stets die Familien- und Sexualpolitik des Präsidenten kritisiert. Doch in Moskau ging er zur Außenpolitik über und attackierte die gegen Rußland verhängten Sanktionen. Dabei merkte er an, es seien immer die Kleinen, die am meisten unter ihnen zu leiden hätten.

 

Die Verfolgung von Christen ist ebenfalls zu einem Hauptanliegen Grahams geworden, und er lobte Rußland wegen seiner Aufnahme von Kriegshandlungen gegen IS in Syrien. Obwohl selbst ein Muslime, habe sich Bashar al-Assad als Verteidiger des christlichen Glaubens erwiesen. Graham warnte: „Der Stürz der Regierung Assad würde zu einem Blutbad führen, in dem Zehntausende von Christen ihr Leben lassen müßten.“ Ohne Assad würde der christliche Glaube in diesem Lande ausgerottet werden. Abgelenkt durch seinen Ansatz für die Homosexuellen habe Obama es hingegen unterlassen, der christlichen Bevölkerung Syriens beizustehen. Graham und die Orthodoxen haben vor, innerhalb der nächsten 12 bis 18 Monate eine große Konferenz über die Glaubensverfolgung durchzuführen.

 

Eine neue Koalition

Unterstützung für den vermeintlich liberalen, in Genf beheimateten “Weltkirchenrat der Kirchen” ist weiterhin im Abnehmen begriffen und das Moskauer Patriarchat überlegt seit mehr als einem Jahrzehnt, ob es eine konservative, globale Gegenbewegung starten sollte. Bisher handelte es sich bei den potentiellen Verbündeten im evangelikalen Lager um mäßig bekannte Anti-Schwul-Größen wie Paul Cameron und Scott Lively. Doch nun ist ein Schwergewichtler – die Billy Graham Evangelistic Association – auf den Plan getreten. Das könnte noch einiges umkrempeln.

 

Nachdem Graham am 1. November in seiner Kirche gepredigt hatte, spiegelte der Pfingstler Mats-Ola Ishoel, Haupt der größten protestantischen Gemeinde Moskaus, die gegenwärtige Euphorie wider. Er versicherte, die Protestanten würden „noch in unserer Zeit . . . entdecken, wie viel sie mit traditionellen Katholiken und Orthodoxen teilen“. Theologische Wandlungen „haben größeren Abstand zwischen uns und anderen Protestanten geschaffen. Ich bin überzeugt, es werden sich neue Kooperationsebenen finden.“ Bischof Ishoel behauptete sogar, orthodoxe Priester würden ihren Weg in die Bibelseminare seiner Kirche finden in der Hoffnung, „mehr über den orthodoxen Glauben zu erfahren“. Erst vor kurzem, am 27. Oktober, führten russische Baptisten und Orthodoxe ihren ersten, gemeinsamen theologischen Dialog seit 2007 durch.

 

Diese neue Form christlicher Eintracht soll vermutlich im Einklang mit dem russischen Staat vonstatten gehen. Nach einer Begegnung mit Graham am 29.10. meinte Jaroslaw Nilow, ein führender Repräsentant der von Wladimir Schirinowski geleiteten „Liberal-Demokratischen Partei“: „Wir sind alle eine einzige große christliche Welt.“ Rußland ist frei von religiöser Diskrimination, fügte er hinzu. „Zwischen unseren traditionellen Konfessionen sowie mit den Protestanten herrschen äußerst freundliche und herzliche Beziehungen.“ 

 

Franklin Graham selbst rief zu einer neuen Allianz ähnlich der antifaschistischen Koalition vom Zweiten Weltkrieg auf. Sie sei erforderlich, „um den Gefahren der Gegenwart abzuwehren“.

 

Diese Bewegung kommt nicht ohne gelegentliche Seitenhiebe aus. Nach einem Treffen mit Graham am 29.10. bekundete Pawel Begitschew, ein Pastor der winzigen „Evangelisch-Lutherischen Kirche der Augsburgischen Konfession“, nur seine lutherischen Kirche sei nicht kompromittiert durch Beziehungen zu den landeskirchlichen lutherischen Konfessionen von Deutschland und Finnland. Diese Kirchen, behauptete er, treten auch innerhalb der Grenzen Russlands für die Sache der gleichgeschlechtlichen Ehe ein.

 

Die Reaktion in der Ukraine

Verständlicherweise haben die letzten Entwicklungen in Moskau Schockreaktionen seitens der Evangelikalen in der Kiewer Ukraine ausgelöst. Der baptistische Intellektuelle Michail Tscherenkow schrieb auf Facebook: „Ich bin einfach sprachlos. Hier handelt es sich um einen Ausverkauf des christlichen Glaubens.“ Doch bald darauf löschte er diese Anmerkungen und druckte in einem Brief an den Verfasser aus, daß Evangelisation und humanitäre Hilfe „nicht von den Fragen der Fairneß, Integrität und Ehrlichkeit losgelöst werden dürfen“. Die Kosten einer Verkündigung in Einklang mit dem Kreml seien viel zu hoch.

 

An anderer Stelle auf Facebook rief Olga Westfall, eine ukrainische Emigrantin in Atlanta, aus: „Schenkt der russischen Presse keinen Glauben! Graham hat Putin ausschließlich wegen seines Widerstands gegen den unangenehmen Einfluß der Homosexuellen gelobt. Die russische Presse hat das Übrige erfunden. . . . Ich besuche die Gemeinde des berühmten Predigers Charles Stanley. Er und Pastor Anthony George haben Putin mutig als politischer Verbrecher gegeißelt.“

 

Eine Bemerkung am Rande: Es war die Mission des Baptisten Charles Stanley, die vor einem Jahr nicht wenigen Soldaten der westlichen Ukraine mit Playern ausstattete, die geistliche Beiträge abspielten. (Siehe unseren Beitrag vom 31. Januar 2015.

 

Seit Jahren fliegen die Faschismus-Vorwürfe über die Barrikaden hinweg. Ein ukrainischer Charismatiker z.B. war erbost darüber, daß vor einem Jahr die Organisation Grahams den Metropoliten Hilarion, Außenminister des Moskauer Patriarchats, in den USA empfangen hatte. Damals hatte Hilarion vor den Umgang mit „ukrainischen Faschisten“ gewarnt.

 

Kommentar

Nun hat die BGEA eine Abrißbirne auf die Überzeugungen der pro-Kiewer Protestanten   niedergehen lassen. Diese Anschauung war davon ausgegangen, daß Rußland Aggressor und Ukraine Opfer sei. Die Moral stand ausschließlich auf westukrainischer Seite und die gesamte „zivilisierte“ Welt war dieser Auffassung. In der Hoffnung, Schaden von der Sache des Evangeliums abzuwenden, hatten immer wieder Leiter der ukrainischen Protestanten Dissidenten, die eine andere Sicht vertraten, zum Schweigen aufgefordert. Doch Graham erhält seine Marschbefehle aus einer anderen Ecke.

 

Nun hat Graham eindeutig vor Augen geführt, daß der konservative Westen nicht mehr einhellig hinter Maidan steht. Jetzt befinden sich die Pro-Kiewer Evangelikalen am Rande, gezwungen, eine liberale und säkulare westliche Ordnung zu verteidigen - ohne selbst Liberale zu sein. Hinsichtlich der Familie erstreben Kirill und die ukrainischen Evangelikalen dieselben Ziele – doch Ukrainer wollen zum Ziele ohne die Beihilfe einer führenden konservativen Macht namens Rußland.

 

Im Wesentlichen bin ich dankbar für die geopolitische Haltung, die Franklin Graham in Moskau eingenommen hat. Seine Haltung unterstreicht das Faktum, das sich Gott nicht auf prowestliche Ansichten beschränken läßt. Gott wirkt multipolar – er ist tolerant genug, um sowohl Kiewer wie Moskauer Auffassungen ertragen zu können. Diese Haltung ist ganz entscheidend wenn es darum geht, eine Akzeptanz für das evangelikale Zeugnis in Gebieten außerhalb der Reichweite von Washington und der Europäischen Union zu erzielen.

 

Michail Tscherenkow befürchtet, Franklin Graham habe das Evangelium kompromittiert – ich sehe den Fall genau umgekehrt. Graham trägt dazu bei, das Evangelium von einer Vereinnahmung durch das Washingtoner Establishment fernzuhalten. Graham hilft, das evangelikale Zeugnis in den BRICS-Staaten (u.a. Rußland, Indien und China) zu retten. Und die BGEA ist groß und kapitalkräftig genug, um Proteststürme zu überwinden, die kleinere Schiffe zum Kentern bringen würden.

 

Mindestens seit den 70er Jahren prescht die BGEA in Gebiete vor, die anderen Missionen zu heiß sind: Nordkorea, die UdSSR und die DDR z.B. Das ist ihr zu einem Pfund geworden im Konkurrenzkampf um Spenden. Die BGEA hat gelegentlich in ihrer Jagd auf Zugang zu den Mächtigen die Empfindlichkeiten ihrer kleinen evangelischen Verbündeten vor Ort nicht ernstgenommen. Die BGEA hat ihre eigenen Zielsetzungen – die nationalen Kirchen haben andere. Doch wenn sich die Interessen beider überschneiden, wird beiden Seiten geholfen.

 

Nicht zum ersten Mal bewegt sich die Kirchenpolitik Rußlands gleichzeitig in entgegengesetzte Richtungen. Neue Gesetze im vergangenen Sommer versuchen, die Aktivitäten der protestantischen Kirchen einzuschränken. Ortsgemeinden und deren Mitglieder sollen registriert werden. Doch Franklin Graham fördert die entgegengesetzte Richtung. Die BGEA kann Bewegungen in negative, restriktive Richtungen abbremsen.

 

Nicht zuletzt ruft Grahams Einsatz für den Erhalt der antiken katholischen und orthodoxen Glaubensgemeinschaften im umkämpften Mittleren Osten beachtliche Anerkennung seitens der Russen hervor. Die BGEA kümmert sich nicht nur um Evangelikale. In anderen Fällen ist das Moskauer Patriarchat bemüht, seinen Einfluß in westlichen Gefilden auszubauen. Die BGEA kann ihr dabei behilflich sein.

 

Negative Nebenwirkungen

Ich persönlich begrüße die geostrategischen Folgen der Bemühungen Grahams. Ich bin aber weniger begeistert vom ideologischen Unterbau, auf dem die Pro-Familienpolitik ruht. Der Verdacht bleibt bestehen, das Streben um die Familienwerte sei nur eine elegante Form des Gay-Bashing. Anti-Schwul und Pro-Familie sind keine Synonyme; man kann durchaus nur eins dieser beiden Momente vertreten. Die Anti-Schwul-Bewegung enthält durchaus fragwürdige Persönlichkeiten - Cameron und Lively wurden bereits erwähnt.      

 

Ähnlich wie der US-amerikanische Evangelist Billy Sunday (1862-1935) ist auch Franklin Graham – im Gegensatz zu seinem Vater - eine höchst umstrittene Persönlichkeit. Billy Sunday gewann und verlor Millionen für die Sache der Kirche. In den USA heute verlassen die Jungen und Gebildeten in großen Zahlen die Reihen der Evangelikalen. Diesen Prozeß wird Franklin Graham nicht aufhalten. Im Gegensatz zum gegenwärtigen Papst ist Graham oftmals keine Persönlichkeit, die Menschen zusammenführt.

 

Wiktor Hamm, ein im sowjetischen Gulag geborener Mitarbeiter der BGEA-Mannschaft, ist häufig als ein russischsprachiger Billy Graham bezeichnet worden. Doch angesichts der jüngsten Moskauer Ereignisse wird er es nun schwer haben, seinen Ruf im Raum der Ukraine wiederherzustellen.

 

Franklin Graham verleiht den Fragen von Schwulenrechten und gleichgeschlechtlicher Ehe überragende Bedeutung. In Moskau meinte er wiederholt, die USA seien in den vergangenen 10-15 Jahren vom christlichen Pfad abgekommen. Ich aber würde das Abkommen vom Pfad um Jahrhunderte vorverlegen. Man könnte auch mit der Ausrottung der Ureinwohner im 16. Jahrhundert oder der Einführung der Sklaverei beginnen. Gleichgeschlechtliche Ehen sind nicht die einzige Sünde.

 

Gemeinsam mit den Russischen Orthodoxen vertritt der Südbaptist Franklin Graham ein staatskirchliches Verständnis der Moral. Der Staat hat die Aufgabe, christliche Familienwerte zu forcieren. Auf der anderen Seite stellt Taras Djatlik, ein evangelischer Bildungsspezialist aus Rowno (Rivne) in der Westukraine, in Frage, ob die Politik den Nöten der Familie beikommen könne. Er schreibt: „Der Schutz der herkömmlichen Familienwerte ist nicht in erster Linie ein öffentlicher Kampf gegen die Rechte der LGBT.“ Diese Werte werden nicht mit Minenfeldern und Angriffsgewehren durchgesetzt. Sie werden viel eher durch eine eheliche Treue „bis uns der Tod scheidet“ propagiert. Zumindest im europäischen Kontext klingt Djatlik eindeutig baptistischer und freikirchlicher als Graham.

 

Ein Engel mit angebrochenem Flügel

Von Franklin Graham begeisterte Russen sollten sich in Erinnerung rufen, daß Graham – falls er überhaupt als Engel gelten darf – an einem angebrochenen Flügel leidet. Mit vollamtlichen Gehältern von der BGEA und deren Tochter „Samaritan’s Purse“ gilt Graham wohl als der bestbesoldete Manager einer Hilfsorganisation in den USA. Seine beiden Gehälter summieren sich auf rund eine Million Dollar pro Jahr. (Siehe den “Charlotte Observer” vom 8. August 2015.)

 

Franklins hochbetagter Vater, Billy, sowie Franklins Sohn, Will, erhalten zusammen weitere $400.000 pro Jahr als Vorstandsmitglieder der BGEA. Neben Franklin als Hauptgeschäftsführer gehören vier der weiteren 14 Vorstandsmitglieder der BGEA zur Familie Graham. In vielen Staaten der Erde – einschließlich Rußland – würde das als Filz gelten. Lästerer nennen das Gehalt von Samaritan’s Purse „Kohle aus Elend” (making mullah from misery) – keine seltene Erscheinung innerhalb der sogenannten Hilfsindustrie.

 

Welche Botschaft steht für den wahren Franklin Graham? Vielleicht gehören die gegensätzlichen Botschaften alle zu ihm. Der menschliche Charakter gibt eine Menge Widersprüche her – nicht jeder kann Papst Franziskus oder ein Franz von Assisi sein.

 

Dr. phil. William Yoder
Colorado, den 9.
November 2015

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