· 

Jarowaja ja, aber regt Euch nicht auf

Seid gelassen und macht weiter

---------------------------------------------------------

Ein Kommentar zur neuen Anti-Terror-Gesetzgebung Rußlands

 

M o s k a u – Trotz erheblicher Lobby-Bemühungen durch russische Protestanten unterzeichnete Präsident Wladimir Putin am 7. Juli die sogenannten, sich gegen den Terror richtenden „Jarowaja-Gesetze“. Von erheblicher Bedeutung für Evangelikale sind die Unterbindung evangelistischer Aktionen auf öffentlichen Plätzen und die Beschränkung religiöser Handlungen auf offiziell-registrierte Glaubensstätten.

 

Bei den protestantischen Gottesdiensten in Moskau am 10. Juli war die Sorge vernehmbar – aber auch nicht apokalyptisch. Im Gottesdienst der evangeliumschristlichen „Deine Kirche“-Gemeinde wurden die Glieder eingeladen, sich einmal wieder am kommenden Wochenende an der Verteilung von Bibeln auf offener Straße zu beteiligen. Es könnte sich ja um das letzte Mal handeln – die neue Gesetzgebung trifft erst am 20. Juli in Kraft. „Deine Kirche“ gehört auch zu den Dutzenden von Moskauer Gemeinden, die darauf angewiesen sind, sich für Versammlungen bei Hotels einzumieten. Da bleibt die Frage offen, ob das weiterhin hingenommen wird.

 

In der “Zweiten Baptistengemeinde” Moskaus räumte der leitende Pastor Gennadi Sergienko ein, daß viele Fragen bezüglich der neuen Gesetze ungeklärt bleiben. Er warnte seine Gemeinde jedoch davor, in Panik und Hysterie zu verfallen. „Seid gelassen und macht weiter“ war die Devise vieler protestantischer Stellungnahmen am 10. Juli.

 

Dem Verfasser fällt auf, daß sich die russische Kirchenpolitik gleichzeitig in mehrere, sich widersprechende Richtungen bewegt. Erst vor wenigen Wochen wurden die baptistisch geführten und vom Staat finanzierten Feierlichkeiten zum 140. Geburtstag der Russischen Synodalbibel abgeschlossen. Ein Ergebnis der Aktion war ein staatlich genehmigtes Programm zur Verteilung von Bibeln an alle Insassen russischer Strafeinrichtungen.

 

Sogar Sergei Demidowitsch, ein ukrainischer „Patriot“ und prominenter Pfingstpastor aus Slawiansk, hat zur Zurückhaltung hinsichtlich der Deutung der jüngsten Entwicklungen aufgerufen. Am 10. Juli warnte er seine 8.223 Anhänger auf Facebook davor, sich am anhaltenden Info-Krieg zu beteiligen, und rief zur Abwehr übereilter Schlußfolgerungen auf.

 

Der Verfasser fügt hinzu, daß die russischen Protestanten bekanntlich über viele Jahrzehnte an Erfahrung im Umgang mit einem widerspenstigen Staat verfügen. Auch seit Mitte der 90er Jahre gibt es wiederholt Zwistigkeiten mit dem Staat. Und seit November 2002 verfügt Belarus über ein restriktives Gesetzeswerk, das den „Jarowaja-Gesetzen“ durchaus ähnelt. Trotz gelegentlicher Vorfälle treffen sich nichtregistrierte Baptisten und Zeugen Jehovas dort weiterhin, und die charismatische Minsker „Neues Leben“-Gemeinde versammelt sich nach wie vor – illegal – in einem umgebauten Kuhstall. Humanitäre und evangelistische Bemühungen sind weiterhin vorhanden.

 

Das riesige Rußland wird kaum „erfolgreicher“ sein bei der Durchführung der neuen Gesetzgebung. Konstantin Bendas, zweiter Bischof bei der „Vereinigten Russischen Union der Christen Evangelisch-Pfingstlerischen Glaubens“ (ROSChWE), merkt an, daß sich allein in Moskau mehr als 1.000 pfingstlerische Hauskreise versammeln. Doch bedauerlicherweise steht nun eine Gesetzgebung Gewehr bei Fuß, die eingesetzt werden kann, sobald „Bedarf“ entsteht. Und dieser Bedarf entsteht, sobald die Spannungen zwischen Ost und West einen bestimmten Siedepunkt erreicht haben – Spannungen, die durchaus vom westlichen Verhalten mitbestimmt werden. Und die Bürger des Westens können bei deren Verlauf durchaus mitreden.

 

Es wäre verfehlt zu behaupten, die Evangelikalen Osteuropas würden die nordamerikanischen Überzeugungen bezüglich einer sehr weitgehenden religiösen Freiheit teilen. Die russische Unterdrückung von Scientologen, Zeugen Jehovas und Mormonen wird auch in vielen evangelikalen Kreisen leise unterstützt. Ukrainische Proteste gegen eine Ausweisung des US-amerikanischen Pastors James Mulcahy aus Samara/Wolga und Rußland am 9. Juli waren von sehr kurzer Dauer. Am Tage darauf haben die Baptisten Samaras eine Stellungnahme veröffentlicht, in der sie sich von ihm distanzieren. Mulcahy, der über Beziehungen zur US-Orthodoxie verfügt, vertritt die weitgehend homosexuelle “Metropolitan Community Church”. Nach manchen Berichten war der Tourist Mulcahy dabei, gleichgeschlechtliche Paare informell zu trauen. Ukrainische und russische Evangelikale – und nicht zuletzt der russische Staat – sind sich im Falle der Ausweisung eines schwulen Pastors einig. Sie teilen eine Weltanschauung, die sich vom liberalen Mainstream einer Hillary Clinton abhebt.

 

Man darf auch nicht vergessen, daß die Protestanten nicht die Hauptzielscheibe dieser „anti-terroristischen“ Gesetze sind. Rußland hat rund 20 Millionen Staatsbürger islamischen Glaubens. Wenn man die Muslime in den angrenzenden, einst sowjetischen Staaten im Süden mitzählt, kommt man durchaus auf 50 Millionen Muslime. Rußland verfügt hingegen über kaum mehr als eine Million Protestanten.

 

In welchem Maße steckt das Moskauer Patriarchat hinter der neuen Gesetzgebung? Ukrainische Beobachter wiesen schnell darauf hin, daß Irina Jarowaja, ein Mitglied von Putins „Einiges Rußland“-Partei, bereits im September 2015 einen Orden aus der Hand des Patriarchen Kirill erhalten hatte. Er wurde verliehen wegen der „Stärkung der geistlichen und moralischen Traditionen in der Gesellschaft“. Die Gesetze ließen sich durchaus als Sieg für das Patriarchat verbuchen. Es handelt sich jedoch um keinen vollständigen Sieg: Ein weiteres Gesetz, das von Putin unterzeichnet wurde, verbietet die körperliche Züchtigung von Kindern. Das entspricht nicht der Position des Patriarchats.

 

Ein orthodoxer Religionsspezialist, Roman Lunkin (Moskau), teilt die äußerst pessimistische Wertung. Er räumt jedoch ein, das Patriarchat würde aus Schwäche und nicht aus Stärke handeln. Er bezweifelt ebenfalls, ob sich die neuen Gesetze weitgehend durchsetzen lassen: “Je radikaler die neuen Gesetze eingeführt werden, desto weniger werden (Kirche und Staat) geachtet sein.”

 

Entwicklungen wie diese sind für eine Überdramatisierung bestens geeignet. Die Gegner Rußlands sind bemüht, Rußland in ein möglichst schlechtes Licht zu stellen. Die NATO-Kräfte, die die russische Enklave Kaliningrad zu umringen versuchen, verstehen sehr wohl, daß die Verfehlungen Rußlands möglichst hochgehalten werden müssen, um die eigenen Reihen besser schließen zu können. Das ist in menschlicher Hinsicht verständlich – Russen erliegen der gleichen Versuchung, wenn sie den Westen beschreiben.

 

Im evangelikalen Bereich werden die selbständigen Missionsgesellschaften des Westens dazu neigen, die Nöte jener zu überdramatisieren, denen sie zu dienen vorgeben. Leider können oft nur dramatische Erzählungen Spenden und Marktanteil auf einem umkämpften Markt steigern. So ist es offensichtlich vor kurzem geschehen, als die Mission “Open Doors” die Gefahren für christliche Migranten in den Flüchtlingszentren Deutschlands überzeichnete. In der Ostukraine liegt der Fall nicht anders – auch dort ist eine Berichterstattung, die sich um Objektivität und Fairneß bemüht, schwach vertreten.

 

Eine eher persönliche Anmerkung: Seit Unterzeichnung der neuen Gesetzgebung gratulieren ehemalige Bewohner Rußlands, die jetzt in der Ukraine leben, sich selber bezüglich der Entscheidung zur Ausreise. Natürlich werden derartige Äußerungen nicht als Solidarität aufgefaßt bei jenen, die weiterhin in Rußland leben. In einem Falle auf Facebook behauptete ein Slawe aus dem kanadischen Neuschottland sogar, die neue Gesetzgebung sei eine gegen die Russische Baptistenunion verhängte Strafe Gottes für deren Huldigung des „Krieges Putins“ in der Ostukraine.

 

Dr. phil. William Yoder
Smolensk, den 15. Juli 2016

Für diese journalistische Veröffentlichung ist allein der Verfasser verantwortlich. Sie will informieren und erhebt nicht den Anspruch, die offizielle Meinung einer Organisation zu vertreten. Diese Meldung darf gebührenfrei abgedruckt werden, wenn die Quelle angegeben wird. Meldung 16-09, 1.003 Wörter.

 

Ein Nachtrag

Im Aufsatz vom 15. Juli sprach ich von einer Überdramatisierung von Mißständen u.a. durch die selbständigen Missionsgesellschaften des Westens. Als Beispiel dafür gab ich die Missionsgesellschaft “Open Doors” an. Damit ist eine leitende Person der „Deutschen Evangelischen Allianz“ nicht einverstanden. Deshalb möchte ich auf die ursprüngliche Stellungnahme der Allianz hinweisen, siehe Meldung der Ev. Allianz vom 21.6.2016: “http://www.ead.de/nachrichten/nachrichten/einzelansicht/article/deutschland-leben-christliche-fluechtlinge-in-einem-klima-der-angst.html”.