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Konservative Friedensfreunde melden sich zu Wort

Diskussionen im Bus Smolensk-Minsk und in Kiew

 

Bei einer Busfahrt mit deutschen Friedensaktivisten von Smolensk nach Minsk am 17. August war ich bemüht, um Verständnis für die ukrainischen Protestanten zu werben. Ohne deren grundsätzliche politische Auffassungen teilen zu wollen, erklärte ich, daß viele Ukrainer einfach einen höheren Lebensstandard wollen – genau wie Russen auch. Sie wollen besser leben und sie wollen einen transparenten, demokratischen Staat. Wenn der Westen zu ihnen kommt, werden sie nicht mehr zu ihm ausreisen müssen. Das ist ja bequemer.

 

Doch zu Ende reden konnte ich nicht. „Das da in Kiew ist ein Verbrecherpack“, belehrte mich der deutsch-russische Busfahrer, der in Deutschland wohnt und die Reisepässe beider Staaten besitzt. „Wir sind alle ein Volk, alle Schwestern und Brüder. Wir sind alle Russen. Weißrussisch und Ukrainisch sind nur Dialekte des Russischen.“ EU und USA hätten die Wirtschaften der Länder der ehemaligen Sowjetunion – bis auf Belarus - ruiniert. Es seien die USA, die uns – teile und herrsche – aufeinander gehetzt haben. „Aber die Zeit wird kommen, nachdem die USA und ihre Büttel abgezogen sind, daß wir wieder zueinander finden.“

 

Hinterher durchfuhr der deutsche Reisebus den Osten Minsks in südwestlicher Richtung auf dem „Prospekt der Unabhängigkeit“. Die Häuser und Parkanlagen sahen atemberaubend schön aus. Die deutschen Gäste und ich kamen aus dem Staunen nicht heraus.

 

Anders erklang es beim Gespräch einer Delegation der „Europäischen Baptistischen Föderation“ und des „Baptistischen Weltbundes“ mit dem ukrainischen Staatspräsidenten Petro Poroschenko in Kiew am 25. August. Laut EBF hatte Poroschenko dabei vorgeschlagen, daß „protestantische religiöse Organisationen nicht nur eine wichtige Komponente der geistlichen und sozialen Unterstützung unserer Armee an der Front“ bilden, sondern auch „die Verwundeten und die Familien der Opfer versorgen“.

 

In seiner Erwiderung versicherte der südafrikanische Präsident des Weltbundes, Paul Msize: „Wir sind heute da, um den Ukrainern unsere Solidarität zu bekunden.“ Bei ihrem Kiewer Besuch wohnte die hochrangige baptistische Delegation u.a. einer Militärparade bei.

 

Ein Nachtrag zum Gespräch im Reisebus: Die Abspaltung der „Westukrainer“ bzw. Galizier vom restlichen Ostslawentum haben sich die US-Amerikaner nicht ausgedacht. Sie reicht ins Mittelalter zurück und trat mit der Gründung der griechisch-katholischen Kirche1593 deutlich zutage. Heute wie früher bedienen sich ausländische Mächte dieses alten Gefälles für ihre eigenen Zwecke. Doch kann man vor 1920 überhaupt von einer klar definierbaren „Ukraine“ sprechen? Wäre es nicht historisch korrekter von „Polen“, „Galizien“, „Groß-„, „Klein- und Weißrußland“ zu reden? Wo keine eindeutige, abgegrenzte Nation besteht, kann sie auch nicht gespalten werden.

 

Meine Andeutung im Bus, daß sich Osteuropäer für das Zuhausebleiben entscheiden sobald ihre Länder selbst Westen geworden sind, stimmt so nicht. Dem lettischen Außenminister Edgars Rinkēvičs wird nachgesagt, das Hauptproblem seines Landes als ein zweifaches beschrieben zu haben: Neben der Auswanderung der eigenen Jugend nach Westeuropa gäbe es eine massive Einwanderung der Ukrainer. Im Jahre 2016 haben die Polen die Inder als die größte im Ausland geborene Minderheit im Vereinigten Königreich überholt: mehr als 800.000.

 

467 Wörter

 

Einmal wieder Juri Sipko

 

In seinem Facebook-Aufsatz vom 6. September, verfaßt während seines letzten Aufenthaltes in der Ukraine, forderte Juri Sipko die im Donbass regierenden „Separatisten“ zu einem einseitigen Strecken der Waffen auf. (Sipko ist der in Moskau lebende, ehemalige Präsident des russischen Baptistenbundes, 2002-2010.) Alle - wohl ausländischen - Soldaten sollen abgezogen werden, die Straßensperren aufgehoben und die Grenzkontrollen internationalen Instanzen überlassen werden. Er bezeichnet die Separatisten ferner als „Hooligans“ und versicherte, der Donbass sei „überfallen worden“. Ein Zitat: „Ich habe mich nochmals davon überzeugen lassen, daß die Versuche, der Ukraine die ‚Russische Welt’ (‚Russkii Mir’) aufzuzwingen nicht nur ein Irrtum sondern auch ein Verbrechen sei.“

 

Auf Facebook gab es mehr als 200 Reaktionen auf den Aufsatz, die meisten davon ukrainisch und sehr positiv; Sipko wurde als Friedensstifter gelobt. Zu den Gratulanten gehörten Serhii Moroz von der Baptistenzentrale in Kiew sowie zwei der vehementesten, protestantischen Verfechter der (west)ukrainischen Sache: der Baptist Michail Tscherenkow (es bestehen verschiedene Schreibweisen) und der Pfingstler Gennadi Mochnenko. Dagegen hielten mehrere zumeist in Rußland lebende Personen. Wadim Drosdow aus Kemerowo/Sibirien versicherte, der ehemalige Baptistenpräsident spalte den Baptismus: „In Rußland teilen nur sehr wenige Brüder seine Meinung zur Ukraine.“

 

Mein Kommentar: Ein versuchtes Friedenswerk wie das Minsker II-Abkommen von Februar 2015 ist bemüht, die Anliegen und Interessen beider Seiten aufzugreifen und ernstzunehmen. Genau das tut Juri Sipko aber nicht. Nur die Anliegen der einen Seite seien legitim. Bei Sipko und anderen Vertretern der (west)ukrainischen Sache bleiben u.a. die geostrategischen Interessen Rußlands außen vor.

 

Noch sind viele Einschätzungen eindimensional und eng: Im Rahmen dieser Facebook-Diskussion meinte einer, das Gesetzpaket Jarowaja würde beweisen, daß Gott auf der Seite Kiews stünde. Ein solches Kriterium würde jedoch Diktatoren reinwaschen, die relativ gelassen mit dem Evangelisieren umgegangen sind – die Nazis z.B.

 

An sich ist erfreulich, daß in diesen Facebook-Beiträgen „Zweifler“ mehrmals aufgefordert werden, den Gemeinden der Ukraine einen Besuch abzustatten. Darauf erwiderte Wadim Drosdow: „Mir teilten Christen in der Ukraine mit, ich würde nicht nach Hause zurückkehren, falls ich versuchen würde, ihnen einen Besuch abzustatten.“ Leider muß man das ihm abnehmen, denn es sind auch andere Fälle bekannt, in denen „Zweiflern an der Sache Kiews“ im Falle von Besuchen physische Gewalt oder Verhaftung angedroht worden sind. Andersherum gibt es einen regen und freundschaftlichen Austausch zwischen Baptisten im Donbass und in den angrenzenden Gebieten Rußlands.

 

Im Juli und August hat eine christliche Musikgruppe aus der Ukraine Deutschland erstmals bereist. Beim Wiedersehen fielen mir manche Teilnehmer um den Hals. Das tat gut! Der Leiter der Gruppe, ein alter Bekannter, erklärte mir: „Die Politik ist immer ein schmutziges Geschäft, davon halten wir möglichst viel Abstand.“ Also trägt man zum Frieden bei, in dem man die gesamte Problematik umschifft – vielleicht gibt es auch keine bessere Option. Offensichtlich ist das Verständnis von Evangelium, worüber wir verfügen, nicht stark genug, um dem Haß zu widerstehen. Wir können es nicht besser als die anderen, „weltlichen“ Menschen.

 

Solange sich auch Russen am protestantischen Gespräch zum Thema Ukraine beteiligen, möchte ich jedoch nicht die Hoffnung aufgeben, daß aus diesem Wirrwarr ein gewachsenes Verständnis mit mehr Klarheit für die Komplexität politischer Fragen entsteht. Drosdow, ein pensionierter Laienprediger mit politischem Sachwissen, der mehrere Jahre im Gulag verbrachte, reagiert etwas emotionell. Der Hochschuldozent Michail Newolin aus St. Petersburg zeichnet sich durch größte Vorsicht und Sachlichkeit aus. Sipko kritisierte er in diesen Beiträgen wegen mangelnden Sachwissens und der Nutzung von Verallgemeinerungen wie „nirgendwo in der Welt“ oder „niemand auf der Welt“.

 

565 Wörter

 

Yoder: Das Grübeln eines frischgebackenen Rentners

 

Ist es sinnvoll, wiederholt die Sünden der „anderen Seite“ aufzuzählen? Von ukrainischer Seite werde ich aufgefordert, auf das Negative zu verzichten; mir stünde es nicht zu, ein Urteil über das sich in der Ukraine Abspielende zu fällen. Sollte ich also eine einsame Vorleistung erbringen und nur Positives  berichten?

 

Das Negative wird von der ukrainischen Seite immer wieder aufgezählt - ich tue das auch. Worum geht es: daß jener mit dem längsten Sündenregister irgendwann zum Sieger erklärt wird? Aber wir brauchen kein Entscheid zur Feststellung der relativen Tugendhaftigkeit konkurrierender, globaler System. Uns fehlen objektive Meßlatten; es genügt, wenn wir dort, wo wir leben, Gutes tun und der Stadt Bestes suchen.

 

Schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten

Wie weit hätte es die militärische Aufrüstung des Westens im Kalten Krieg gebracht ohne Berichte über die Glaubensverfolgung in kommunistisch-reagierten Staaten? So wird Schlechtes in Gutes (?) verwandelt. Für solche, die der Russischen Föderation „eins überbraten wollen“, sind die Jarowaja-Gesetze eine höchst willkommene Entwicklung. Sie helfen, die Propagandamühlen zu speisen.

 

Aber das machen natürlich die Freunde Rußlands und aller weiteren, alternativen Systeme nicht anders. Das ist die Allgemeinpraxis: Man verwendet die Sünden der anderen Seite, um die eigene Sache zu fördern. Und man steigert die „positive“ Wirkung dieser Praxis, in dem man die Verfehlungen der anderen Seite überzeichnet.

 

Vielleicht könnte man wie folgt verbleiben: Unsere Kritik ist kein Verdonnern, sondern Anfrage. Auf Anfragen sind sachliche Antworten immer erwünscht. So kommen wir weiter.

 

Nicht selten habe ich den Eindruck, sehr vieles in der protestantischen, russischsprachigen Welt würde im Verborgenen bleiben, wenn sich nicht zumindest ein paar Beobachter in englischer Sprache meldeten. Die Kirchen des Westens brauchen einen größeren Informationsfundus. Informationen sind der Entscheidungsstoff; ohne sie tapsen wir im Dunklen. Sowohl russische wie ukrainische Verfehlungen müssen erörtert werden. Es ist aber auf jeden Fall wichtig, daß wir dabei einen fairen, anständigen, dem Christentum würdigenden Stil wahren.

 

Der Exzeptionalismus

Ich meine, ein Haupthindernis für die freie Wirkung des Heiligen Geistes unter uns ist die nicht auszumerzende Überzeugung von der eigenen, besonderen Tugend. In diesem Zusammenhang werden die USA immer wieder wegen ihres Glaubens an den eigenen „Exzeptionalismus“ kritisiert. Gerade die USA haben seit etwa Ende des Korea-Krieges 1953 Millionen von Kriegstoten auf dem Gewissen. Da hat die ehemalige Sowjetunion im selben Zeitraum viel weniger Tote zu verantworten, auch trotz der Verluste im 1989 abgebrochenen Afghanistankrieg.

 

Das schlimme Leiden der Christen - und vieler Marxisten - in der stalinistischen UdSSR war beklagenswerter Weise nicht einzigartig, keine einmalige Erscheinung. Die Urvölker Nord- und Südamerikas u.a. mußten ein Genozid aus weißer, christlicher Hand über sich ergehen lassen. Denken wir auch an die Millionen von Toten durch die Kriege und Sanktionsmaßnahmen in Nah- und Fernost (Irak und Vietnam z.B.) seit 1953.

 

Gewiß: Die meisten Staaten des Westens genießen einen relativ hohen Lebensstandard ohne schreiende Armut. Die Kapitalisten schlafen eben nicht: Sklaverei und Hungerlöhne haben sie in die „sweat shops“ von Asien und Afrika exportiert. Da erhebt sich die Frage, in welchen Maße westlicher Reichtum durch Ausbeutung des Südens ermöglicht wird.

 

Diese selektive moralische Entrüstung sichert uns westlichen Christen den Vorwurf der Heuchelei und macht uns zur Zielscheibe höhnischer Ablehnung. Das zerstört unsere Glaubwürdigkeit in einem Maße, das nicht einmal Heerscharen von Missionaren wiedergutmachen können. Und nun wollen sich die Völker Zentraleuropas gerade dieser westlichen Tradition anschließen. Da kann man immer wieder nur mit dem Wort aus Römer 3,23 appellieren: Wir „sind allesamt Sündern und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten.“

 

570 Wörter

 

Dr. phil. William Yoder
Smolensk, den 27. September 2016

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