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Esten und der Holocaust

Eine selektive Geschichte im Baltikum

 

Vor einigen Wochen besuchte ich eine protestantische Tagung in Estland. Bis auf eine Ausnahme hinterließen die versammelten estnischen Pastoren den Eindruck, über den Wechsel des Baltikums vom russischen zum westlichen Lager höchst erfreut zu sein.

 

Doch die Lektüre des Aufsatzes eines kalifornischen Professors und Autors, Sandy Tolan, machte mich einmal wieder stutzig. Nach dem Besuch eines Petersburger Geschichtsmuseums war er in seinem estnischen Pendant in Tallinn gelandet: dem 2003 eröffneten „Museum der Besetzungen“. Tolan nennt dieses Museum eine „historische Leugnung“, denn es beschreibt die Esten als die ständigen Opfer der Russen – und die gelegentlichen Opfer der Deutschen.

 

Er schreibt: „Was mir an diesem Museum am meisten auffiel, war die Schilderung einer estnischen Opferrolle ohne jegliche Andeutung von Mitverantwortung. Esten ‚schlossen sich der deutschen Armee an’, doch niemals wurden sie Nazis.“ Tolan zitiert Oula Silvennoinen von der Universität Helsinki: “Bei der Durchführung des Holocaust auf Ortsebene war die Kollaboration unablässig.“ Silvennoinen fügte hinzu, daß „das Genozid an den estnischen Juden größtenteils von der estnischen Miliz und Staatspolizei begangen wurde“. An anderer Stelle ist zu lesen, deutsche Armeevertreter hätten schon im Oktober 1941 behauptet, daß Estland „judenfrei“ sei. Das war erst zwei Monate nach Beginn der deutschen Besetzung.

 

Tolan beschließt: „Welcher Kontrast im Vergleich mit Deutschland, das seiner furchtbaren Geschichte voll ins Gesicht schaut“. Jedenfalls seit 1968, würde ich einwerfen. Nach den Studentenrevolten und der Pensionierung der meisten Täter hat sich Westdeutschland seiner Vergangenheit relativ umfassend gestellt.

 

Das Museum in Tallinn weist nicht darauf hin, daß die Esten im II. Weltkrieg auf beiden Seiten der Barrikaden gestanden hätten. Von 1941 bis 1944 hungerten Esten im eingekesselten, sowjetisch-regierten Leningrad während andere Landsleute gemeinsam mit der Wehrmacht um das Aushungern bemüht waren. Berichten zufolge kämpften im II. Weltkrieg 30.000 Esten auf Seiten der Sowjets und weitere 60-80.000 auf deutscher Seite.

 

Ein gutes Beispiel für die Tausenden von aufgespalteten, estnischen Familien ist die Meri-Sippe. Lennart Meri (1929-2006) war ein Kämpfer um die Staatssouveränität und estnischer Präsident von 1992 bis 2001. Sein älterer Vetter, Arnold Meri (1919-2009), war ein hochdekorierter Kriegsveteran und “Held der Sowjetunion”. Zum Zeitpunkt seines Todes lief noch ein Prozeß gegen Arnold Meri wegen Genozids an 251 Esten, die im März 1949 deportiert worden waren. Doch recht bald nach den Deportationen waren Arnold alle Ehrenbezeichnungen abgenommen worden und er setzte sich nach Zentralasien ab. Gemeinsamen mit Tausenden von anderen Betroffenen wurde er 1956 rehabilitiert. Manche Quellen geben an, er sei wegen seines Zögerns, sich an den Deportationen zu beteiligen, bestraft worden.

 

Also war Arnold Meri zum Zeitpunkt seines Todes vor sieben Jahren gleichzeitig eine Unperson in Estland und ein gefeierter Held nebenan in Rußland. Offensichtlich hatte Lennart stets gezögert, den Cousin öffentlich zu kritisieren. Dank Arnolds Intervention auf oberster Ebene hatte Lennarts Familie viel früher als die meisten nach Estland zurückkehren dürfen. Schon 1953 konnte Lennart promovieren. (Siehe „Berliner Zeitung”, 31 Aug. 2007, sowie „Wikipedia“.)

 

Die uns gelieferte Geschichte ist in der Regel eine von Siegern geschriebene Deutung. Und Sieger feilen, schleifen und gestalten die Geschichte bis sie hinpaßt. Zum Schluß ist die staatssanktionierte, gegenwärtige Deutung der estnischen Geschichte nicht weniger schräg als jene der verblichenen Sowjetära.

 

Sollten wir Steine werfen? Falls ja, auf wen? Ich erkenne nicht, daß die estnischen Protestanten sich auf die Brust schlagen würden. Doch was hätten die russischsprachigen Gemeinden um Narwa oben im nordöstlichen Winkel Estlands zu sagen? Vielleicht könnten sie zum Auswuchten dieses Geschichtsbildes beitragen.

 

Dr. phil. William Yoder
Smolensk, den 4. November 2016

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